L 15 VG 11/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 VG 1/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 VG 11/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 9. März 2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte verpflichtet ist, im Wege einer Entscheidung nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) der Klägerin Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) zu gewähren.

Die 1956 geborene Klägerin wandte sich erstmals im April 1994 an das Versorgungsamt Augsburg und stellte am 16.01.1995 einen vollständigen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Sie gab darin an, am 16.07.1974 etwa um 19.30 Uhr in N. in der Wohnung von B.G. von diesem gegen ihren Willen gezwungen worden zu sein, an dessen Penis bis zum Samenerguss zu hantieren. Als sie aufhören wollte, habe er ihre Hand gepackt und sie gezwungen, weiterzumachen. Als gesundheitliche Schädigung gab sie Angst- und Schuldgefühle an, die sich eingestellt hätten, nachdem sie einem Frauenarzt von der sexuellen Nötigung erzählt habe und dieser ihr eine Homonspritze verabreicht hatte, damit eine eventuelle Schwangerschaft "weg" bzw. ausgeschlossen wäre. Sie sei vor dem genannten Ereignis nicht psychisch krank gewesen, anschließend aber von Juni 1977 bis Oktober 1983 in den psychosomatischen Kliniken W. und G. wegen Neurose behandelt worden, anschließend dreimal im Bezirkskrankenhaus G. wegen (paranoider) Psychose. Sie könne ihren Beruf als staatlich anerkannte Erzieherin nicht mehr ausüben. In einem beigefügten Schreiben schilderte die Klägerin, sie habe damals im Juli 1974 mit ihrer Freundin M. eine Woche in N. Urlaub machen wollen und habe dort auf der Straße B.G. kennengelernt und sich von diesem am selben Tag abends in seine Wohnung einladen lassen. Während ihre Freundin mit einem Freund von B. G. im Wohnzimmer allein sein wollte, habe sie sich mit dem Gastgeber ins Schlafzimmer zurückgezogen und ins Bett gelegt. Sie habe sich bis auf die Unterhose entkleidet; dabei sei es zu den oben genannten Übergriffen von B.G. gekommen. Eine Woche später sei sie zu einer Ferienwanderung gefahren. Damals habe sie eine Betreuerin sagen hören, man könne auch schwanger werden ohne "richtig" mit einem Mann geschlafen zu haben. Da sei ihr das Erlebnis in N. wieder eingefallen. Aus Angst sei sie dann zum Frauenarzt Dr.K. gegangen, der ihr eine Hormonspritze gegeben habe. Durch diese Spritze sei ihre Periode stärker als üblich ausgefallen und sie habe angenommen, jetzt werdendes Leben abgetrieben zu haben. Sie habe am 11.05.1993 Strafanzeige gegen B.G. erstattet.

Der Beklagte zog von der Staatsanwaltschaft beim Landgericht N. die betreffenden Ermittlungsakten bei; daraus geht hervor, dass das infolge der Strafanzeige eingeleitete Ermittlungsverfahren gegen B.G. von der Staatsanwaltschaft bereits am 19.05.1993 gemäß § 170 Abs.2 StPO eingestellt worden ist, weil die 10-jährige Verjährungsfrist zur Verfolgung der behaupteten sexuellen Nötigung gemäß §§ 178, 78 Abs. 3 Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB) seit neun Jahren abgelaufen gewesen sei.

Der Beklagte zog medizinische Unterlagen über die stationären Aufenthalte der Klägerin zwischen 1977 und 1983 bei und holte eine Auskunft von der früheren Freundin der Klägerin, M. H. , ein. Diese teilte mit, dass die Klägerin den oben genannten Vorfall ihr gegenüber bis Mai 1993 nicht erwähnt habe. Dann erst habe die Klägerin in sehr erregtem Zustand ihr Klassenzimmer in der Grundschule in I. betreten und sie wegen eines angeblichen Vorfalls im gemeinsamen Urlaub 1974 beschimpft. Ihres Wissens sei es damals zu keinerlei Gewalt und zu keinem anderen verwerflichen Verhalten gekommen.

Der Beklagte befragte auch B.G. am 30.06.1995 telefonisch über die Ereignisse am 14.07.1974. Dieser gab an, es sei am fraglichen Abend in seinem Schlafzimmer im Einverständnis mit der Klägerin zum Austausch von Zärtlichkeiten, jedoch nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen. Die Klägerin habe freiwillig und auch aus Neugierde mitgemacht. Anschließend sei sie aus dem Zimmer bzw. aus der Wohnung gegangen und habe nichts mehr von sich hören lassen. Etwa zehn Jahre später habe er einen wirren vorwurfsvollen Brief von der Klägerin erhalten. Weitere zehn Jahre später seien konkretere Vorwürfe erhoben worden. Sie habe auch 10.000 DM Schmerzensgeld verlangt und ihn anschließend mit Telefonanrufen terrorisiert. Zwischenzeitlich habe er sich bei der Klägerin entschuldigt; zweimal habe er versucht, die Sache mit der Klägerin zu klären. Falls die Klägerin wieder etwas gegen ihn unternehme, werde er gerichtliche Schritte gegen sie einleiten. Die Telefonnotiz wurde von B.G. am 08.07.1995 handschriftlich unterzeichnet.

Auf eine Nachfrage beim Frauenarzt Dr. K. in I. übersandte dessen Praxisnachfolger Dr.S. die Auskunft, dass sich die Klägerin vom 14.07.1974 bis 22.09.1975 dreimal in der Sprechstunde von Dr. K. eingefunden habe. Es wurde auch ein Arztbrief von Dr. K. vom 26.08.1974 übermittelt, wonach dieser als Diagnose gestellt hatte: "Amenorrhoe seit 20.07.1974 (37 Tage). Eine Gravidität lasse sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mit Sicherheit feststellen. Er habe Duogynon Simplex injiziert."

Der Beklagte erließ am 16.08.1995 einen Bescheid, in dem der Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG abgelehnt wurde. Es sei nicht nachgewiesen, dass Herr G. Gewalt im Sinne des § 178 StGB angewendet habe. Somit fehle auch der Nachweis einer Gewalttat im Sinne des § 1 OEG.

Der hiergegen eingelegte Widerspruch, der nicht weiter begründet wurde, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22.04.1996 zurückgewiesen.

Mit Schreiben vom 17.01.1997 beantragte die Klägerin erstmals nach § 44 SGB X die Überprüfung der ablehnenden Entscheidung nach dem OEG. Zur Begründung ihres Antrags legte sie eine Bescheinigung ihrer Unterrichtsschwester M.S. vom 25.10.1995 vor, die ab September 1974 Verhaltensänderungen der Klägerin im Unterricht festgestellt habe. Den Grund hierfür habe sie erst vor einer Woche von der Klägerin erfahren. Die Klägerin gab auch nochmals eine detaillierte Schilderung der Vorgänge am 16.07.1974 sowie ihrer Ängste vor und nach dem Besuch beim Frauenarzt Dr.K. ab.

Der Beklagte lehnte den Antrag nach § 44 SGB X mit Bescheid vom 12.03.1997 ab, da aufgrund der erneuten Sachverhaltsschilderung nach nochmaliger Überprüfung keine Anhaltspunkte dafür gefunden werden konnten, dass das Recht unrichtig angewandt worden sei oder von einem falschen Sachverhalt ausgegangen wurde.

Mit Schreiben vom 08.12.2000 stellte die Klägerin durch den V. den streitgegenständlichen Antrag nach § 44 SGB X. Zuvor waren bereits Bestätigungen von S. (Jugendleiter im Bibelkreisabend), E. P. (Schwester der Klägerin) übersandt worden, die die Angaben der Klägerin bestätigten. Es wurde auch ein Brief einer ehemaligen Mitschülerin namens I. vom 23.01.2000 vorgelegt, die sich an ein plötzlich verändertes Verhalten der Klägerin im Sommer 1974 erinnerte.

Die Akte des Beklagten enthält auch Kopien aus der Schwerbehindertenakte, insbesondere einen Bescheid vom 19.02.2001, mit dem ab April 2000 ein GdB von 50 wegen "seelischer Krankheit" festgestellt wurde.

Mit Bescheid vom 21.05.2001 wurde der Antrag auf Rücknahme der Bescheide vom 16.08.1995 und 12.03.1997 abgelehnt. Die vorgelegten Schriftstücke hätten keine neuen Erkenntnisse erbracht und stellten keine Beweise dar. Die Angaben der Klägerin hätten bereits den früheren Entscheidungen zugrunde gelegen. Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 07.12.2001 zurückgewiesen. Es seien weder neue Tatsachen noch neue Beweismittel vorgelegt worden.

Mit Schriftsatz vom 03.01.2002 hat sich die Klägerin an das Sozialgericht Augsburg gewandt und weiter ihre Anerkennung als Opfer einer Gewalttat infolge eines Angriffs durch B.G. begehrt. Zur Begründung hat sie nochmals die seit dem Ereignis im Juli 1974 bestehenden Ängste und Schuldgefühle geschildert, die einerseits auf den Missbrauch durch B.G. , andererseits auf den Schock, dass der Frauenarzt ein ungewolltes Kind beseitigt habe, zurückzuführen seien. Die Hormonspritze habe im Übrigen wie Feuer in ihrem rechten Bein gebrannt. Daran habe sich eine Venenentzündung angeschlossen. Sie sei als 18-jähriges Mädchen sexuell unerfahren gewesen und in einer katholischen Umgebung aufgewachsen. B. G. habe sie mit Martini "schumrig" gemacht; er sei planmäßig vorgegangen, da sie zuvor nie Alkohol getrunken habe.

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 09.03.2005 die Klage abgewiesen. Der Beklagte sei nicht verpflichtet, seinen ablehnenden Bescheid zurückzunehmen, weil eine Fehlerhaftigkeit der früheren Verwaltungsentscheidungen nicht nachgewiesen sei. Den Ausführungen der Klägerin könnten keine Umstände entnommen werden, die geeignet wären, nun doch den objektiven Nachweis für den Ablauf eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs auf ihre Person und ihre freie sexuelle Bestimmung zu erbringen. Es könne auch heute nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gesagt werden, dass die früheren Entscheidungen des Beklagten falsch waren. Den schlüssigen Aussagen der Klägerin ständen ebenso schlüssige und glaubwürdige Aussagen des angeschuldigten Mannes bzw. ihrer damaligen Freundin gegenüber.

Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 11.04.2005 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegt. Zur Begründung hat sie nochmals hervorgehoben, die Gewissensqual, dass der Frauenarzt ohne ihr Einverständnis werdendes Leben habe töten wollen, habe sie psychisch erkranken lassen. Sie hat auch Auszüge aus verschiedenen religiösen Aufsätzen beigelegt, ferner einen Brief des ehemaligen Frauenarztes Dr.K. vom 29.04.1999, der die Klägerin dringend bat, doch endlich die Realität zur Kenntnis zu nehmen und ihn und seine Frau nicht weiter auch in der Öffentlichkeit zu beschuldigen und zu beschimpfen.

Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Augsburg vom 09.03.2005 und der Bescheide vom 21.05.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.12.2001 zu verurteilen, den Bescheid vom 16.08.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.04.1996 sowie den Bescheid vom 12.03.1997 zurückzunehmen und das Ereignis vom 16.07.1974 als Gewalttat anzuerkennen sowie ihr deshalb Leistungen nach dem OEG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 09.03.2005 zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die beigezogene Akte des Beklagten und den Inhalt der Akte des vorangegangenen Klageverfahrens sowie der Berufungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig (§ 7 Abs.1 OEG i.V.m. §§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie erweist sich jedoch als unbegründet.

Der Beklagte und das Sozialgericht haben zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Rücknahme der ablehnenden Entscheidungen und auf Gewährung von Leistungen nach dem OEG abgelehnt. Der Beklagte war berechtigt, darauf hinzuweisen, dass die Klägerin (auch) mit ihrem zweiten Antrag auf Rücknahme der früheren Entscheidungen nach § 44 SGB X keine neuen entscheidungserheblichen Tatsachen oder Beweise zum geltend gemachten Tathergang am 16.07.1974 vorgetragen bzw. vorgelegt hat.

Nach § 44 Abs.1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass dieses Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 03.02.1988, SozR 1300 § 44 Nr.33/Breithaupt 1988, 830 f.; BSG, Urteil vom 17.11.1981, SozR 3900 § 40 Nr.15/BSGE 51, 139 f. zu § 40 KOV-VfG) kann von der grundsätzlich von allen Beteiligten zu beachtenden Bindungswirkung sozialrechtlicher Verwaltungsakte gemäß § 77 SGG im Rahmen einer Entscheidung nach § 44 SGB X nur dann aufgrund einer erneuten Sachprüfung abgewichen werden, nachdem zuvor zwei Prüfungsabschnitte durchlaufen wurden: Zunächst ist zu prüfen, ob die vorgetragenen Gründe ähnlich wie Wiederaufnahmegründe für eine Unrichtigkeit der früheren Entscheidung sprechen könnten, ferner ob neue Tatsachen oder neue Beweismittel benannt sind, die bei der früheren Entscheidung nicht beachtet wurden. Im vorliegenden Fall hat die Klägerin mit ihrem Antrag vom Dezember 2000 mit denselben Argumenten wie zuvor den angeblichen Täter B.G. beschuldigt und auch Vorwürfe in Richtung des Frauenarztes Dr.K. erhoben. Letzterem hat sie jedoch wie bisher in erster Linie eine moralische Schuld zugewiesen, weil er ihr nicht die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft genommen habe. Ein solches Verhalten ist jedoch im Hinblick auf § 1 OEG irrelevant. Zur Begründung ihres streitgegenständlichen Anspruchs auf Neubescheidung und Gewährung einer Entschädigung nach dem OEG legte die Klägerin als neue Beweismittel lediglich Bestätigungen eines Jugendleiters im Bibelkreisabend, ihrer Schwester und einer Mitschülerin vor, die die Angaben der Klägerin als zutreffend bestätigten bzw. sich an ein verändertes Verhalten der Klägerin im Sommer 1974 nach über 25 Jahren erinnerten. Diese vorgelegten Schriftstücke wurden vom Beklagten zu Recht nicht als geeignete Beweismittel angesehen. Sie können nicht dazu beitragen, dass Ereignis am 16.07.1974, das von der Klägerin und dem beschuldigten B.G. unterschiedlich dargestellt wurde, neu zu beleuchten, zumal sie von diesem Ereignis nur durch die Klägerin erfahren haben. Unter diesen Voraussetzungen durfte der Beklagte ohne neue Sachprüfung den Antrag nach § 44 SGB X in den angefochtenen Bescheiden vom 21.05.2001/07.12.2001 ablehnen.

Zu demselben Ergebnis ist im Wesentlichen auch das Sozialgericht Augsburg in seinem Gerichtsbescheid vom 09.03.2005 gekommen. Nach einer summarischen Überprüfung der früheren Verwaltungsentscheidungen hat es zutreffend zum Ausdruck gebracht, nach wie vor fehle der objektive Nachweis dafür, dass die Klägerin am 16.07.1974 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden ist, weil sich die Angaben einerseits der Klägerin und andererseits des angeschuldigten Mannes und ihrer damaligen Freundin widersprechen.

Somit hatte die Berufung der Klägerin keinen Erfolg und war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs.2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved