L 11 B 441/05 SO ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
11
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 15 SO 61/05 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 B 441/05 SO ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Würzburg vom 29.07.2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Übernahme von Fahrtkosten durch den Träger der Sozialhilfe als Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Der Antragsteller (Ast) beantragte beim Antragsgegner (Ag) die Übernahme der Fahrtkosten, die ihm aus der Wahrnehmung seines Umgangsrechts mit seiner Tochter entstehen.

Ein vorausgegangener entsprechender Antrag gegen die Arbeitsgemeinschaft Landkreis Miltenberg ist erfolglos geblieben. Die Arbeitsgemeinschaft Landkreis Miltenberg berief sich dabei im Wesentlichen auf die übergroße Entfernung, die der Ast in Wahrnehmung dieses Umgangsrechtes zurückzulegen habe, und auf § 73 SGB XII.

Eine Vorsprache am 30.06.2005 und eine Nachfrage am 07.07.2005 des Ast beim Ag blieben ebenfalls erfolglos. Der Ag teilte ihm mit Schreiben vom 13.07.2005 mit, dass er die Fahrtkosten nicht übernehmen werde. Die einfache Entfernung von seinem Wohnort zu dem seines Kindes betrage rund 83 km. Die Fahrtaufwendungen seien deshalb unangemessen hoch. Zudem wohne der Ast in einer unangemessen teueren Wohnung. Im Übrigen greife § 73 SGB XII nicht.

Am 15.07.2005 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Würzburg (SG) und beantragte zudem, den Ag im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm die Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit seiner Tochter zu erstatten.

Andere Gerichte hätten einen dahingehenden erhöhten Mehrbedarf anerkannt. Das könne auch unter Vorbehalt oder in Form einer darlehensweisen Bewilligung geschehen.

Der Ag beantragte, den Antrag abzulehnen.

Der Ast erhalte Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Er habe deshalb keinen Anspruch nach § 73 SGB XII.

Mit Beschluss vom 29.07.2005 lehnte das SG den Antrag ab. Dem Ast dürfte zwar dem Grunde nach ein Anspruch nach § 73 SGB XII zustehen. Die Ermessensausübung des Ag, die Leistung dennoch zu verweigern, sei aber vorliegend (noch) ausreichend.

Hiergegen wendet sich der Ast mit seinem am 05.08.2005 eingegangenen Widerspruch. Es sei für ihn nicht nachvollziehbar, dass er in die Nähe der Kindesmutter ziehen solle. Richtig sei allerdings, dass er zur Zeit eine andere Wohnung suche. Die Berechnungen des SG seien unzutreffend, weil er das Kind am Freitag abhole und am Sonntag zurückbringe und deshalb Hin- und Rückfahrten jeweils zweimal anfielen. Einen ausdrücklichen Beschwerdeantrag stellt der Ast nicht.

Der Ag beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Er wiederholt im Wesentlichen seinen bisherigen Sachvortrag.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten in beiden Instanzen sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Der Senat legt den Widerspruch des Ast vom 04.08.2005 dahingehend aus; eine ausdrückliche Antragsstellung im Beschwerdeverfahren ist nicht erforderlich. Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen (§ 174 SGG).

Die Beschwerde des Ast ist jedoch unbegründet, weil es das SG zu Recht abgelehnt hat, den Ag im Wege der einstweiligen Anordnung zur Übernahme der geltend gemachten Fahrtkosten zu verpflichten.

Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes im Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (Regelungsanordnung) ist zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs 2 Satz 2 SGG). Das ist etwa dann der Fall, wenn dem Ast ohne eine solche Anordnung schwere oder unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG vom 25.10.1988 BVerfGE 79, 69/74 und vom 19.10.1977 BVerfGE 46, 166/179; Niesel, Der Sozialgerichtsprozess, 4.Aufl 2005, RdNr 643).

Eine solche Regelungsanordnung setzt aber voraus, dass der Ast Angaben zum Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und zum Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den er sein Begehren stützt - glaubhaft machen kann (§ 86b Abs 2 Sätze 2, 4 SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 Abs 1 Zivilprozessordnung - ZPO -; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8.Aufl 2005, § 86b RdNr 41).

Bei der hier erforderlichen Überprüfung der Sach- und Rechtslage (dazu im Einzelnen BVerfG vom 12.05.2005 NDV-RD 2005, 59) zeigt sich, dass dem Ast ein solcher Anordnungsanspruch nicht zur Seite steht.

Der Ag ist für die hier geltend gemachten Fahrtkosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechtes mit einem minderjährigen Kind nicht passivlegitimiert, weil weder § 73 SGB XII noch eine andere Vorschrift aus dem SGB XII als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt.

§ 73 Satz 1 SGB XII bestimmt, dass Leistungen der Sozialhilfe auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden können, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen.

Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift die Regelung des früheren § 27 Abs 2 Satz 1 BSHG in das SGB XII übernommen, ohne diese inhaltlich abändern zu wollen (so Begründung zum Gesetzentwurf vom 05.09.2003, BT-Drs 15/1514 S 64). Die Neufassung "in sonstigen Lebenslagen", die anstelle der bisherigen Formulierung - "in anderen besonderen Lebenslagen" - getreten ist, findet ihren Grund allein in der geänderten Systematik des Rechts der Sozialhilfe. Der frühere § 27 Abs 2 Satz 1 BSHG sollte diese "Hilfe in anderen besonderen Lebenslagen" gegenüber den im vorausgehenden Absatz 1 aufgezählten "Hilfen in besonderen Lebenslagen" abgrenzen. Solche "Hilfe in besonderen Lebenslagen" gibt es seit dem 01.01.2005 im Recht der Sozialhilfe nicht mehr, weil der Gesetzgeber die frühere Zweiteilung in die Hilfe zum Lebensunterhalt und in die Hilfe in besonderen Lebenslagen nicht mehr in das SGB XII übernommen hat (dazu Linhart in Linhart/Adolph, SGB II, SGB XII und AsylbLG, 43.Aufl, Stand Juni 2005, Vorbemerkungen Abschn. C RdNr 21 f). Die jetzige Formulierung "in sonstigen Lebenslagen" in § 73 SGB XII bezieht sich dementsprechend auf die vorausgehenden "Hilfen in anderen Lebenslagen" gemäß §§ 70 ff SGB XII (siehe auch die Überschrift zum Neunten Kapitel des SGB XII). § 73 Satz 1 SGB XII stellt mihin eine Generalklausel dar, die eine Weiterentwicklung des Sozialhilferechts durch die Praxis ermöglicht (vgl dazu Fichtner in Fichtner, BSHG, 2.Aufl 2003, § 27 RdNr 3). Den Trägern der Sozialhilfe soll die Möglichkeit gegeben werden, ihre Leistungen an geänderte soziale Verhältnisse anzupassen, ohne dass es dazu zunächst einer gesonderten gesetzlichen Regelung bedarf (Schellhorn/Schellhorn, BSHG, 16.Aufl 2002, § 27 RdNr 10). Die Vorschrift stellt deshalb systematisch eine weitere Hilfe für die von den §§ 70 bis 72 SGB XII nicht erfassten Lebenslagen dar.

Sonstige Lebenslagen in diesem Sinne liegen nur vor, wenn sich die Hilfesituation thematisch keinem Tatbestand der im Neunten Kapitel oder aber im übrigen SGB XII aufgeführten Hilfen zuordnen lässt. § 73 SGB XII kann nicht so verstanden werden, dass schon bei Nichtvorliegen einzelner Tatbestandsvoraussetzungen sonstiger im SGB XII namentlich aufgeführten Hilfen die Hilfeleistung nach § 73 SGB XII zu erbringen ist (so Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2005, § 73 RdNr 3 mwN).

Die vom Ast geltend gemachten Fahrtkosten fallen mithin nicht unter die Hilfe in sonstigen Lebenslagen iS des § 73 SGB XII, weil sie von den Regelleistungen umfasst sind.

Das ergibt sich aus den folgenden Überlegungen:

Es war bereits unter dem früheren BSHG unumstritten, dass das Umgangsrecht des nicht sorgeberechtigten Elternteils mit seinem Kind oder mit seinen Kindern unter den Schutz des Art.6 Abs 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) steht (so ausdrücklich BVerfGE 64, 180/187 f und vom 25.10.1994 FamRZ 1995, 86) und mithin die Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts als Teil der Hilfe zum Lebensunterhalt vom Sozialhilfeträger im Bedarfsfall zu übernehmen waren (BVerwGE vom 22.08.1995 FEVS 46, 89 = NDV-RD 96, 45 = ZfSH/SGB 1995, 587 = FamRZ 1996, 105; vgl. dazu auch Wenzel in Fichtner, BSHG, 2.Aufl 2003, § 21 RdNr 16).

Hieran hat sich im Hinblick auf den Anspruch auf Übernahme dieser Fahrtkosten auch nach dem 01.01.2005 nichts geändert. Nach Auffassung des Senats gehören diese Kosten aus der Wahrnehmung des Umgangsrechts des Elternteils mit dem nicht sorgeberechtigten Kind - hier: Fahrtkosten - zu einer Bedarfsgruppe, die von den Regelleistungen nach dem SGB XII oder aber nach dem SGB II umfasst sind (offengelassen noch von LSG BW vom 17.08.2005 Az: L 7 SO 2117/05 ER-B). Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe zum SGB II - Grundsicherung für Arbeitssuchende - und mit der Eingliederung des Rechts der Sozialhilfe in das Sozialgesetzbuch sind allerdings die früheren im BSHG vorgesehenen einmaligen Leistungen nach § 21 Abs 1a BSHG entfallen, mit der Folge, dass die neuen (erhöhten) Regelleistungen pauschal sämtliche laufende und einmalige Bedarfe abdecken. Die hier geltend gemachten Fahrtkosten sind mithin dem Grunde nach von den Regelleistungen umfasst, weil ein Fall gesetzlich vorgesehener einmaliger oder Mehrbedarfe nicht gegeben ist.

Als Anspruchsgrundlage für den Ast, der unstreitig Alg II bezieht, kommt hier deshalb § 23 Abs 1 Satz 1 SGB II in Betracht (so wie hier: LSG Niedersachsen - Bremen vom 28.04.2005 Az: LaAs 57/05 ER; a.A. Thüringer Landessozialgericht vom 15.06.2005 Az: L 7 AS 261/05 ER, das § 23 Abs 1 SGB II analog heranzieht). § 23 Abs 1 Satz 1 SGB II regelt die abweichende Erbringung von Regelleistungen, also, wie zu verfahren ist, wenn im Einzelfall ein von der Regelleistung umfasster und nach den Umständen unabweisbarer Bedarf nicht gedeckt werden kann. Dass der hier vorliegende Bedarf nach den Umständen des Einzelfalles unabweisbar ist, ergibt sich aus der oben angeführten Rechtsprechung zu Art 6 Abs 2 GG. Er kann im Einzelfall auch weder durch das Vermögen nach § 12 Abs 2 Nr 4 SGB II noch auf andere Weise gedeckt werden, weil diese zusätzlichen Fahrtkosten, die dem nicht sorgeberechtigten Elternteil mit seinem Kinde entstehen, im Falle des Ast aus den bewilligten Regelleistungen nicht erbracht werden können; jedenfalls gibt es dafür bislang keine hinreichenden Anhaltspunkte.

Die übrigen im Verfahren vor dem SG aufgeworfenen Fragen, etwa zur Ermessenausübung durch den Ag, so wie die weitere Frage, ob die darlehensweise Erbringung dieser Leistung bzw ob die "Kostendeckelung" aus verfassungsrechtlichen Gründen zulässig ist (vgl dazu LSG Niedersachen-Bremen aaO) bedürfen keiner weiteren Vertiefung, weil sie für die hier zu treffende Entscheidung nicht mehr erheblich sind. Der Ag ist nämlich für die Bewilligung von Leistungen nach § 23 Abs 1 Satz 1 SGB II nicht zuständig (§ 6 Abs 1 Satz 1, § 44b SGB II) und mithin im vorliegenden Verfahren nicht der richtige Ag.

Die Beschwerde hat deshalb insgesamt keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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