L 19 R 284/05 ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
19
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 RJ 638/01
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 19 R 284/05 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 05.10.2004 - Az.: S 4 RJ 638/01 - wird bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz ausgesetzt (§ 199 Abs.2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Das Sozialgericht Würzburg (SG) hat mit Urteil vom 05.10.2004 die Beklagte verpflichtet, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab 01.09.2004 bis 31.08.2005 zu gewähren. Das SG stützt seine Entscheidung in erster Linie auf das gemäß § 109 SGG auf Antrag der Klägerin bei dem Orthopäden Dr.B. eingeholte Gutachten. Obwohl dieser Sachverständige ebenso wie die Gutachterin im Verwaltungsverfahren, die Orthopädin Dr.B. , und der vom SG gehörte ärztliche Sachverständige, der Internist und Rheumatologe Dr.B. , die Klägerin noch für fähig erachtete, leichte Arbeiten mehr als 6 Stunden täglich zu verrichten, kam das SG zu dem Ergebnis, dass die Klägerin mit dem ihr verbliebenen körperlichen Leistungsfähigkeit nicht mehr in der Lage sei, zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein, weil sie die von der Rechtsprechung geforderten Wegestrecken nicht zurücklegen könne. Dies ergebe sich aus den ausführlichen ärztlichen Darlegungen des Sachverständigen Dr.B ... Die Beklagte habe entsprechende Teilhabeleistungen, die die Wegefähigkeit wieder herstellen könnten, nicht angeboten.

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil am 17.01.2005 Berufung eingelegt, zu deren Begründung sie am 14.04.2005 vorträgt, das SG habe nicht ausreichend ermittelt, ob konkret eine eingeschränkte Wegefähigkeit der Klägerin vorliege. So stehe die Entfernung der Wohnung der Klägerin zur nächsten Haltestelle eines öffentlichen Verkehrsmittels nicht fest. Betrage diese weniger als 500 m könne auch unter Zugrundelegung der Feststellungen im Gutachten des Dr.B. nicht von einer eingeschränkten Wegefähigkeit ausgegangen werden, da die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen auch während der Hauptverkehrszeiten zweimal täglich öffentliche Verkehrsmittel benutzen könne. Das SG, das erst in der mündlichen Verhandlung auf die eingeschränkte Wegefähigkeit hingewiesen habe, hätte der Beklagten eine Frist zur Äußerung einräumen müssen, ob Leistungen zur Teilhabe gewährt werden. Mittlerweile sei mit Bescheid vom 25.01.2005 eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form eines Zuschusses zum Kauf eines behindertengerechten Fahrzeuges gewährt worden. Im Übrigen habe Dr.B. auch nicht ausreichend begründet, weshalb die Wegefähigkeit auf unter 500 m gesunken sei.

Mit der Berufungsbegründung, die am 21.04.2005 bei Gericht einging, beantragt die Beklagte auch, die Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil auszusetzen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, den Antrag der Beklagten zurückzuweisen. Ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des SG bestünden nicht.

Nach § 154 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bewirkt die Berufung eines Versicherungsträgers Aufschub, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen. Keine aufschiebende Wirkung tritt dagegen kraft Gesetzes für die Zeit nach Erlass des Urteils ein, wenn ein Versicherungsträger verurteilt wurde, dem Versicherten eine Rente zu zahlen. Der Versicherungsträger ist daher verpflichtet, die sog. "Urteilsrente" einzuweisen, die der Versicherte aber wieder zu erstatten hat, wenn das Urteil des Erstgerichts auf die Berufung hin oder in einem evenutellen Revisionsverfahren aufgehoben wird.

Auf Antrag oder von Amts wegen kann jedoch der Vorsitzende des für die Berufung zuständigen Senats des Landessozialgerichts gemäß § 199 Abs 2 SGG durch einstweilige Anordnung die Voll- streckung aus dem Urteil aussetzen - soweit die Berufung gemäß § 154 Abs 2 SGG keine aufschiebende Wirkung hat. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) soll eine Aussetzung allerdings nur dann erfolgen, wenn das Rechtsmittel offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat (BSG 12, 138; 33, 118, 121). Nach der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung ist der Auffassung des BSG nicht uneingeschränkt zu folgen und eine Aussetzung der Vollstreckung auch dann anzuordnen, wenn es nur überwiegend wahrscheinlich ist, dass der Leistungsträger mit seinem Rechtsmittel jedenfalls in wesentlichem Umfang Erfolg haben wird (s. Niesel, der Sozialgerichtsprozess, 4.Aufl, Rdnr 400; Meyer-Ladewig, SGG, 7.Auflage, § 199, Rdnrn 8 und 8a mwN). Zu berücksichtigen ist auch, ob in der Zwischenzeit geleistete Beträge nach Aufhebung des Urteils dann eingetrieben werden können. Das Interesse des Leistungsträgers an der Rüccerstattung der Leistung ist umso höher zu bewerten, je größer die Erfolgsaussichten der Berufung des Leistungsträgers einzuschätzen sind. Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass insbesondere dann, wenn in absehbarer Zeit ein Anspruch auf Altersrente entsteht, der Versicherungsträger nach § 51 Abs 2 SGB I aufrechnen kann bzw. sonst nach § 52 SGB I eventuell einen anderen Leistungsträger mit der Verrechnung beauftragen kann.

Vorliegend scheint es überwiegend wahrscheinlich, dass die Beklagte mit ihrem Rechtsmittel jedenfalls in wesentlichem Umfang Erfolg haben wird. Nach den Feststellungen aller gehörten Gutachter und der Auffassung des SG kann die Klägerin mehr als 6 Stunden täglich leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen aber auch in wechselnder Stellung in geschlossenen Räumen verrichten. Dabei müssen Tätigkeiten mit besonderer Belastung des Bewegungs- und Stützsystems und Tätigkeiten unter ungünstigen äußeren Bedingungen sowie häufiges Heben und Tragen von Lasten, häufiges Bücken oder Überkopfarbeiten sowie Arbeiten in Zwangshaltungen und häufiges Steigen vermieden werden. Nur der auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG gehörte Dr.B. hält eine Wegestrecke von mehr als 500 m, welche täglich viermal zu Fuß zurückgelegt werden müsse, aufgrund der Veränderungen beider Sprunggelenke, des rechten Großzehengelenkes und der entzündlichen Veränderung des linken Kniegelenkes nicht für zumutbar, während Dr.B. die Wegefähigkeit im November 2003 noch bejahte.

Gemäß § 43 Abs SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen. Das SG hält die Klägerin wegen der Auswirkungen der bei ihr festgestellten Gesundheitsstörungen grundsätzlich noch für fähig, zu den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG lässt das Leistungsvermögen eines Versicherten eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes möglicherweise dann nicht zu, wenn wegen der Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkung bzw wegen schwerer spezifischer Leistungsbehinderung keine Arbeitsstellen zur Verfügung stehen. In solchen Fällen muss der Leistungsträger konkret einen geeigneten Arbeitsplatz benennen. Die bei der Klägerin vorliegenden Leistungsstörungen stellen auch nach Auffassung des SG in ihrer Kombination keine solche Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen dar, dass deshalb unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes keine Erwerbstätigkeit möglich wäre. Auch nach Auffassung des SG kann die von ihm im Hinblick auf die Ausführungen im Gutachten von Dr.B. angenommene Einschränkung der Wegefähigkeit durch eine Teilhabeleistung wieder hergestellt werden. Die Beklagte hat eine entsprechende Leistung am 25.01.2005 erbracht und der Klägerin einen Zuschuss zur Anschaffung eines behinderten gerechten Kfz bewilligt. Es spricht deshalb vieles dafür, dass die Beklagte mit ihrer Berufung jedenfalls im wesentlichen Umfang Erfolg haben kann.

Unter diesen Umständen besteht unter Abwägung einerseits des Interesses der Klägerin an der Vollstreckung des Urteils und andererseits des Interesses der Beklagten daran, vor endgültiger Klarstellung der Rechtslage nicht leisten zu müssen, Anlass die Vollstreckung aus dem mit der Berufung angefochtenen Urteil des SG Würzburg auszusetzen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs 4 SGG.

Diese Anordnung ist gemäß § 199 Abs 2 Satz 3 SGG unanfechtbar; sie kann jedoch jederzeit aufgehoben werden.
Rechtskraft
Aus
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