L 13 VU 51/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 44 VU 83/96 W 98
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VU 51/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. September 2002 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstat- ten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1936 geborene Kläger beantragte im August 1994 eine Versorgung nach dem StrRehaG in Verbindung mit dem BVG wegen der Gesundheitsschäden, die er auf die vom 17. Juli 1967 bis zum 30. Juli 1969 zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung in der DDR zurückführte. Zu den Haftbedingungen gab er u.a. an, mitunter in der Zwangsjacke an der Pritsche gefesselt gewesen zu sein, dazu Tage und Nächte in der Gummizelle verwahrt worden zu sein. Nach einer geraumen Zeit habe sich sein seelischer Zustand verschlechtert, so dass er seine Wutanfälle nicht mehr unter Kontrolle bekommen habe. Er sei in das Haftkrankenhaus W verlegt worden, in dem er unter Zwang einer vierwöchigen Elektroschockbehandlung ausgesetzt worden sei.

In dem das Urteil des Stadtgerichtsbezirks Treptow vom 2. Mai 1968 und den Beschluss des Stadtgerichts von Groß-Berlin vom 21. Mai 1968 aufhebenden Beschluss des Landgerichts Berlin vom 19. August 1993 heißt es zu dem Tathergang: "Nach den im Urteil getroffenen Feststellungen hatte der in Berlin (West) wohnhafte Betroffene am Abend des 17. Juli 1967 in alkoholisiertem Zustand unbekleidet den an der Grenze zwischen Berlin (West) und Berlin (Ost) verlaufenden Landwehrkanal in Höhe des Görlitzer Ufers durchschwommen. Auf der zu Berlin (Ost) gehörenden Seite erkletterte er die Uferböschung, überwandt teilweise die dort angebrachten Stacheldrahthindernisse und ließ sich dann von Angehörigen der Grenzsicherungseinheit festnehmen, nachdem er diese mehrfach aufgefordert hatte, ihn zu erschießen."

Im Zeitpunkt der Antragstellung war dem Kläger durch Bescheid vom 11. Februar 1993 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 wegen degenerativer Wirbelsäulenveränderungen mit Wurzelreizerscheinungen, Gelenkverschleiß, funktioneller Herzbeschwerden, hypotoner Kreislauflage mit Neigung zu orthostatischem Syndrom, chronischer Magenschleimhautentzündung mit Neigung zu Geschwürsbildung, seelischen Leidens und eines Augenleidens zuerkannt worden. In dem diesem Bescheid zugrunde liegenden Gutachten des Arztes B ist zu dem seelischen Leiden vermerkt, dass es sich um einen psychotischen Defektzustand bei erhaltener Restpersönlichkeit handele.

Der Beklagte holte Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte, des Internisten K, der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. J-A und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. S ein. Des Weiteren zog er die Unterlagen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR sowie Abschlussberichte des Haftkrankenhauses W, psychiatrische Beobachtungsabteilung, über einen Aufenthalt vom 5. Februar 1968 bis 29. April 1968, des Haftkrankenhauses L über Aufenthalte vom 11. bis 28. Oktober 1968 und vom 14. November bis 19. Dezember 1968 wegen verschluckter Fremdkörper sowie einen Abschlussbericht des Haftkrankenhauses für Psychiatrie W vom 18. April 1969, ein sozialmedizinisches Gutachten des MDK vom 7. April 1994 und Unterlagen der K-B-Nervenklinik und des W-Krankenhauses bei.

Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. G führte in dem vom Beklagten angeforderten Gutachten vom 27. Juli 1995 aus, der Kläger sei als Säugling zunächst von den Großeltern versorgt worden, mit zwei Jahren in ein Kinderheim gebracht worden, mit dem er auf der Flucht gewesen sei. In einem Kinderheim in W seien sie dann sesshaft geworden. Von dort sei er ungefähr 1949 ins Dheim T umgezogen. Als er schon älter und kräftiger gewesen sei, sei er in ein Kinderheim gekommen, wo er vormittags die Schule besucht und nachmittags in der dem Heim angeschlossenen Landwirtschaft gearbeitet habe. Er habe sich dann in einer Gärtnerei in D beworben, wo er bis 1955 tätig gewesen sei. Zusammenfassend sei festzustellen, dass der Antragsteller nach traumatischer Kindheit und Jugend eine deutliche psychische Fehlentwicklung genommen habe, während der Haft mehrfach in Haftkrankenhäusern auch operativ habe behandelt werden müssen zur Entfernung verschluckter metallischer Fremdkörper und Betthaken. Die mehrfachen stationären Behandlungen im W-Krankenhaus und in der K-B-Nervenklinik bestätigten die abnorme Persönlichkeitsstruktur mit psychogenen Anfällen, Selbstbeschädigungen und demonstrativen Selbstmorddrohungen. Während eines stationären Aufenthaltes im November 1971 habe der Kläger erstmals über paranoid-halluzinatorische Erlebnisse geklagt, wie er sie 1969 in der Haft erlebt habe. Diese Erlebnisstörungen seien jedoch von der Fachklinik als unglaubwürdige Berichterstattung gewertet worden, da sie im Zusammenhang mit den damaligen Lebensumständen als Zweckbehauptung zu sehen gewesen seien. Es sei demnach schwierig zu entscheiden, ob 1969 tatsächlich eine psychotische Episode in der Haft aufgetreten sei oder ob es sich um psychogene Zweckmechanismen gehandelt habe. Auch wenn es sich damals um eine psychotische Episode gehandelt habe, sei diese noch während der Haft abgeklungen. Bei dem Verschlucken diverser metallischer Gegenstände handele es sich um abnorme Verhaltensweisen, die nicht den Hafteigentümlichkeiten, sondern in der abnormen Persönlichkeitsstruktur des Klägers begründet seien. Schädigungsfolgen seien derzeit nicht mehr festzustellen. Der vom Beklagten gehörte Arzt für Chirurgie Dr. O und der Internist Dr. D konnten in ihren Gutachten die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsschäden nicht als haftbedingt erkennen.

Mit Bescheid vom 26. Oktober 1995 lehnte der Beklagte den Versorgungsantrag nach dem StrRehaG ab. Nach Auswertung der eingeholten medizinischen Befundberichte und den Ergebnissen der versorgungsärztlichen Begutachtungen liege bei dem Kläger eine persönlichkeitsbedingte Verhaltensstörung vor, die mit dem zu Unrecht erlittenen Gewahrsam in keinem ursächlichen Zusammenhang stehe. Als Ursache des seelisch-nervlichen Leidenszustandes seien beim Kläger ungünstige Lebensverhältnisse in der Kindheit und Jugend in Betracht zu ziehen.

Mit dem Widerspruch hiergegen wehrte sich der Kläger gegen die von Dr. G gezogenen Schlussfolgerungen.

Durch Widerspruchsbescheid vom 15. April 1996 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, die umfangreichen versorgungsärztlichen Begutachtungen hätten zu dem Ergebnis geführt, dass die geltend gemachten Gesundheitsstörungen nicht mit der vom Gesetz geforderten Wahrscheinlichkeit ursächlich auf Schädigungstatbestände zurückzuführen seien. Hafttypische reaktive psychische Symptome seien von dem Kläger weder für die Vergangenheit noch gegenwärtig mitgeteilt worden.

Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht zunächst den Entlassungsbericht der Psychiatrisch-Neurologischen Abteilung des W-Krankenhauses vom 23. Dezember 1996 über einen Aufenthalt vom 7. November bis zum 23. Dezember 1996 zur Akte genommen und ein Gutachten von Prof. Dr. S (vom 25. August 1999) eingeholt. Dieser hat dargelegt, es bestehe kein Zweifel, dass bei dem Kläger eine sehr ausgeprägte Persönlichkeitsstörung vorliege, für die schwierige Sozialisierungsbedingungen mitverursachend gewesen seien. Es habe bereits vor der Haft 1967 psychische Auffälligkeiten gegeben, da der Kläger bereits im Jahr 1965 - damals 29 Jahre alt - wegen Randalierens drei Monate inhaftiert gewesen sei. Während der Haft sei es zu einer psychotischen Dekompensation im Rahmen der schweren Persönlichkeitsstörung gekommen, bei der es sich nicht um eine im engeren Sinne schizophrene Erkrankung, sondern um eine typische Haftpsychose, d.h. um eine psychogene Reaktion mit Realitätsverlust und wohl auch Halluzinationen gehandelt habe. Es sei typisch, dass diese Symptomatik später auch tendenziös eingesetzt worden sei. Nach der Haft sei eine mehrjährige Episode von sozialer Desintegration erkennbar. Mitte der 80er Jahre sei eine Beruhigung eingetreten. Der Kläger sei durch die schwere Persönlichkeitsstörung nicht in der Lage gewesen, sich den Haftbedingungen anzupassen und habe sich in einer ständigen Überforderungssituation befunden. Auf diese habe er mit heftigen Gefühlsausbrüchen und selbstschädigendem Verhalten reagiert. Nach der Haftentlassung sei es ihm auf lange Zeit nicht gelungen, für sich einigermaßen stabile Lebensumstände zu schaffen. Die schwere Persönlichkeitsstörung sei sicher nicht durch die Haft hervorgerufen worden, sondern es sei zu einer deutlichen Verschlimmerung der psychischen Gestörtheit gekommen, die auch nach der Haft für einige Jahre angehalten habe, bis er 1984 das erste Mal geheiratet habe. Die ausgeprägte Persönlichkeitsstörung sei mit einem MdE-Grad von 50 v.H. zu bewerten. Durch die Haft sei diese passager verschlimmert worden. Diese Verschlimmerung habe sich in den Jahren nach der Inhaftierung durch häufige psychiatrische Krankenhausbehandlungen bis etwa 1984 gezeigt. Zu diesem Zeitpunkt habe die MdE 70 v.H. betragen. In den letzten 15 Jahren habe sich eine relative psychische und soziale Stabilisierung abgezeichnet, so dass die MdE-Einschätzung für die nicht-haftbedingte Persönlichkeitsstörung jetzt bei 50 v.H. liege.

Das Sozialgericht hat in der Folgezeit u.a. Entlassungsberichte des W-Krankenhauses vom 12. Mai 1999, einen Heilverfahrensentlassungsbericht der B Klinik vom 30. September 1995 über einen stationären Aufenthalt vom 8. August bis zum 19. September 1995, in den Strafakten der Staatsanwaltschaft B-B () enthaltene Vernehmungsprotokolle, eine psychiatrische Begutachtung vom 5. September 1965, die Anklageschrift wegen versuchter Blutschande sowie das Urteil des Schöffengerichts B-B vom 3. November 1965 zur Akte genommen. Zu dem Strafverfahren war es aufgrund einer Strafanzeige der Mutter des Klägers gegen diesen gekommen, weil dieser zur Fastnachtszeit 1965 seine Mutter in alkoholisiertem Zustand aggressiv und sexuell mehrfach attackiert hatte.

Des Weiteren hat das Sozialgericht den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. H vom B mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 3. Januar 2001 zu dem Ergebnis gelangt, bei dem Kläger habe schon vor der Haft eine Persönlichkeitsstörung vorgelegen; die Persönlichkeit sei mit einer schon vor der Haft vorhandenen Schwäche der Ich-Struktur verbunden, welche sich u.a. in offenbar punktuell unter Alkohol auftretendem impulsiven Kontrollverlust mit Fehlhandlungen äußere, woran sich entsprechend der Persönlichkeitsstruktur verstärkte depressive Verstimmungszustände mit Schuld-, Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen und Suizidimpulsen angeschlossen hätten. Im Jahr 1967 habe eine derartige abnorme Verhaltensweise vorgelegen, in welcher der sonst überangepasste Kläger eine erneute Grenzverletzung begangen habe. Während der Haft sei es zur Eskalation zwischen administrativer Gewalt und Gegenwehr mit unkontrollierbaren Erregungs- und Impulsdurchbrüchen sowie selbstdestruktiven Handlungen gekommen. Unmittelbar nach Haftentlassung bis zu heutigen Datum erfolgten psychiatrische stationäre Aufenthalte, wie sie vor der Haft nicht notwendig gewesen seien. Sie kennzeichneten einen deutlichen und tiefen Einschnitt in der Lebensentwicklung des Klägers aufgrund einer haftbedingten dauerhaften Verschlechterung seiner psychischen Verfassung. Der Kläger leide an einer schweren Persönlichkeitsstörung mit emotionaler Instabilität und beeinträchtigter Impulskontrolle bei depressiver Grundstruktur mit rezidivierenden tiefgreifenden depressiven Episoden mit Schuldgefühlen, Beeinträchtigungserleben und entsprechenden akustischen Halluzinationen. Das gesamte psychische Störungsbild sei teils im Sinne einer wesentlichen Verschlimmerung teils im Sinne einer Entstehung als Folge der von 1967 bis 1969 erlittenen Haft anzusehen. Anhand der aktuellen psychischen Verfassung sowie anhand der Aktenlage werde eindrücklich dokumentiert, dass das psychische Beschwerdebild 1994 bis heute schwerwiegend und mit erheblichen Anpassungsproblemen verbunden gewesen und noch verbunden sei. Die unmittelbaren psychischen reaktiven Schädigungsfolgen seien mit einer MdE von 30 v.H., die mittelbaren psychischen Schädigungsfolgen im Sinne einer wesentlichen Verschlimmerung einer Persönlichkeitsstörung, die vor der Haft schon bestanden habe, mit einer MdE von 50 v.H. zu bewerten. Insgesamt ergebe sich eine schädigungsabhängige Gesamt-MdE von 70 v.H., weil beide Syndrombestandteile zueinander in hoher, gegenseitig sich addierender Wechselbeziehung stünden.

Die hierzu vom Beklagten gehörte Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. W konnte in Stellungnahmen vom 14. Februar 2001 und 7. Juni 2001 einer Einschätzung einer MdE von 70 v.H. nicht folgen. Vielmehr sei die vor der Haft festzustellende emotional instabile Persönlichkeitsstörung in den unteren Bereich der schweren psychischen Störungen einzuordnen und mit einem GdB von 50 zu bewerten. Demgegenüber klammere Dr. H die vorbestehende psychische Störung aus. Die gutachterliche Darstellung sei versorgungsmedizinisch nicht haltbar, weil dem Gutachten nicht zu entnehmen sei, welche Symptomatik mit welcher diagnostischen Zuordnung mit der Formulierung "heute noch persistierende unmittelbare psychische reaktive Haftschädigungsfolge" gemeint sei.

Nach Beiziehung weiterer Entlassungsberichte des W-Krankenhauses vom 23. Dezember 1996, 15. Juli 1998, 12. Mai 1999, 1. September 2000 und 10. Mai 2001 verwies Dr. H in einer Stellungnahme vom 9. Juli 2002 darauf, dass der Kläger vor der Inhaftierung in der Lage gewesen sei, sein Leben mit Hilfe einer Überangepasstheit entsprechend seiner ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten zu gestalten, während dies nach der Haftentlassung nicht der Fall sei. Entgegen der Auffassung von Prof. Dr. S hätten neuere Untersuchungen gezeigt, dass mit dem Alter und vor allem dann, wenn der Tod eines Partners hinzukomme, die posttraumatischen intrusiven Symptome jahrzehntelang zurückliegender traumatischer Erfahrungen zunähmen.

Auf der Grundlage der Stellungnahmen von Dr. W hat der Beklagte mit Bescheid vom 15. August 2001 bei dem Kläger als Schädigungsfolge "belastende Erinnerungen und Träume" mit einer MdE von unter 25 ab 1. August 1994 anerkannt und mit Bescheid vom 22. Januar 2002 die Anerkennung auf den Zeitraum ab 1. Juni 1992 erweitert. Das Sozialgericht hat den Beklagten mit Urteil vom 17. September 2002 verurteilt, eine posttraumatische intrusive Symptomatik im Sinne der Verursachung sowie eine Persönlichkeitsstörung im Sinne der Verschlimmerung als Schädigungsfolge anzuerkennen und dem Kläger eine Versorgung aufgrund einer MdE von 30 v.H. seit dem 1. Juni 1992 und von 40 v.H. seit dem 1. November 1996 zu gewähren. Im Übrigen werde die Klage abgewiesen. Der Beurteilung des Sachverständigen H sei insoweit zu folgen, als die Schwere der heute bestehenden Persönlichkeitsstörung des Klägers teils im Sinne einer wesentlichen Verschlimmerung, teils im Sinne der originären Verursachung den Haftbedingungen zuzuschreiben sei. Es sei nämlich zu aktenkundigen schwerwiegenden Persönlichkeitsveränderungen und Verhaltensauffälligkeiten wie autoaggressivem Verhalten, Stimmenhören, dem Auftreten von Verfolgungsgefühlen bis hin zu suizidalen Handlungen erst nach der Inhaftierung gekommen. Demgegenüber sei dem Umstand, dass es in der Zeit zwischen dem Ende der 70er Jahre und dem Beginn der 90er Jahre nicht zu aktenkundigen schwerwiegenden Beeinträchtigungen gekommen sei, keine durchgreifende Bedeutung zuzumessen. Vielmehr seien die verschiedentlichen biographischen Krisen lediglich als Faktoren zu beurteilen, die die durch die Haftbedingungen verursachten seelischen Leiden nach zwischenzeitlich längerer Latenzzeit wieder verstärkt in den Vordergrund treten ließen.

Gegen das ihm am 29. November 2002 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten vom 13. Dezember 2002. Er macht geltend, das Sozialgericht habe keine Differenzierung und Einzel-MdE-Bewertungen der Schädigungsfolgen im Sinne der Entstehung bzw. im Sinne der Verschlimmerung vorgenommen. Auch sei nicht beachtet worden, dass bezüglich psychischer Störungen unterschiedliche MdE-Bewertungen vorzunehmen seien. Einen Teil der Persönlichkeitsstörungen im Sinne der originären Verursachung den Haftbedingungen zuzuschreiben, sei falsch, da dies in einem Alter von 30 Jahren nicht mehr möglich sei.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. September 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat ein Gutachten von Prof. Dr. Z, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des A-V-Klinikums eingeholt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 9. Februar 2004 dargelegt, aus den Gutachten und verschiedenen Stellungnahmen des Beklagten ergebe sich ein recht widersprüchliches Bild, das zudem nicht mit den diagnostischen Bewertungen übereinstimme, welche aus den verschiedenen epikritischen Berichten der Psychiatrischen Abteilung des W-Krankenhauses hervorgingen. Dort werde durchgängig eine paranoid-halluzinatorische Psychose diagnostiziert und damit das Krankheitsbild als paranoide Schizophrenie qualifiziert. Es überrasche, dass Prof. Dr. S eine psychotische Erkrankung im engeren Sinne ausdrücklich verneine und lediglich eine Persönlichkeitsstörung habe feststellen wollen. Betrachte man den biographischen Längsschnitt, so gebe es gewichtige Hinweise auf eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung in Jugend und frühem Erwachsenenalter, die auf ungünstige Entwicklungsbedingungen der heranreifenden Persönlichkeit verwiesen. Vor diesem Hintergrund sei um 1965 eine deutliche Labilisierung der Persönlichkeit eingetreten. Manches spreche dafür, dass einige ungewöhnliche Verhaltensweisen, durch die der Kläger mit dem Gesetz in Konflikt geraten sei, Teil einer schizophrenen Prodromalverfassung gewesen seien, somit als Vorboten der späteren psychotischen Erkrankung anzusehen seien. Auch die eigenartigen Umstände, die ihn 1967 in Haft gebracht hätten, deuteten in diese Richtung. Die Sukzession von präschizophren abnormer Persönlichkeit, Prodromalstadium, Erstmanifestation, Exazerbationen und Residualsyndrom kennzeichne einen recht charakteristischen Entwicklungsgang schizophrener Psychosen. Im vorliegenden Fall sei komplizierend ein Alkohol- und zeitweise ein Medikamentenmissbrauch hinzugekommen, ein klinisches Phänomen, das recht häufig bei schizophren Kranken zu beobachten sei. Das Gericht habe sich 1965 auf ein forensisch-psychiatrisches Gutachten des Dr. K gestützt, das auf eine abknickende Lebenslinie hinweise. Ungelöste innerseelische Konflikte und ein ungeklärtes Verhältnis zur Mutter hätten sich in symptomwertigen Handlungen Bahn gebrochen. Bedenke man, in welchem Maß der vormals schüchtern-stille, arbeitsame Mann Mitte der 60er Jahre zunehmend in eine innere Konfliktlage und damit einhergehend in Widerstreit mit den Anforderungen der Wirklichkeit geraten sei, erscheine der seltsame Vorfall vom 17. Juli 1967 in einem neuen Bild. Die Inhaftierung habe nicht auf einem unglücklichen Missverständnis beruht, sondern im Vorfall vom 17. Juli 1967 zeige sich eine grundlegende Störung des Wirklichkeitsbezuges und eine wachsende Entfremdung von den Anforderungen der Realität, die für die Annahme spreche, dass bereits vor Inhaftierung Prodromalsymptome der später sich voll ausbildenden schizophrenen Erkrankung sichtbar geworden seien. Unter den ungewohnten und extremen Bedingungen der Haft sei das bis dahin latente schizophrene Krankheitsgeschehen manifest geworden. Die Analyse des Krankenblattes zeige eindeutig, dass aus einem Vorstadium rebellischer Auflehnung gegen die Haft eine akute paranoid-halluzinatorische Episode mit schweren Erregungszuständen manifest geworden sei, welche den Kläger zu selbstschädigenden Handlungen treibe. Zum Kausalzusammenhang zwischen Haft und schizophrener Erkrankung definierten die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (Anhaltspunkte) 1996 in Nr. 39 eine "Kann-Versorgung". Orientiere man sich an der Zusammenhangsbeurteilung, so rechtfertigten es Art und Dauer der Haft, von Schädigungsfaktoren auszugehen, die tief in das Persönlichkeitsgefüge eingegriffen hätten. Die enge zeitliche Verbindung zur akuten psychotischen Erkrankung sei ebenfalls gegeben. Die Kausalbeurteilung müsse dem Umstand Rechnung tragen, dass schizophrene Prodromalverfassungen nicht immer in akute schwere Krankheitsbilder übergingen. Grundsätzlich hätte der Kläger 1967 die Chance besessen, nicht in das Vollbild der schizophrenen Erkrankung abzugleiten, wenn nicht die Haftumstände das psychotische Krankheitsgeschehen angetrieben hätten. Da jene Faktoren, welche zur Chronifizierung schizophrener Psychosen beitrügen, nur unzulänglich bekannt seien, sei eine gut begründete Wahrscheinlichkeitsaussage hinsichtlich der längerfristigen Auswirkungen, welche die Haft auf die schizophrene Erkrankung gezeitigt hätten, angesichts des heutigen medizinischen Wissensstandes kaum möglich. Man könne für die ersten Jahre nach Haftentlassung eine Interaktion zwischen posttraumatischer Verarbeitung und schizophrener Erkrankung voraussetzen. Das Ende der Verschlimmerung sei in den Anfang der 80er Jahre zu verlegen. Dass der Kläger seit Ende der 90er Jahre erneut eine psychische Labilisierung erfahren habe, stehe hierzu nicht im Widerspruch. Denn die Verunsicherungen der letzten Zeit ergäben sich vor allem aus der Auseinandersetzung, welche der Kläger mit Verlust der Partnerin, Einsamkeit und Älterwerden zu leisten habe. In diesem Erlebniskontext komme der Erinnerung an das Haftgeschehen nur noch eine untergeordnete Bedeutung zu. Nach den Anhaltspunkten sei bei episodischem Verlauf einer schizophrenen Psychose in der Regel nur für diejenige Episode, welche in zeitlichem Zusammenhang mit dem belastenden Vorgang steht, ein Kausalzusammenhang anzuerkennen. Bei dem Kläger sei die schizophrene Erkrankung unter spezifischer Behandlung noch während der Haft abgeklungen. Für einige Jahre nach Haftentlassung dürfe eine verlaufsprägende ungünstige Beeinflussung des schizophrenen Krankheitsgeschehens unterstellt werden. Es gebe keinerlei Anlass, eine Verschlimmerung jenseits des von Prof. Dr. S vorgeschlagenen Zeitpunktes (1984) zu bejahen. Das psychiatrische Krankheitsbild sei seit 1992 nur in seiner Erlebnisthematik haftgeprägt. Qualität und Dynamik der psychotischen Erkrankung sowie die mit ihr verknüpfte Leistungsminderung sei haftunabhängig.

Auf Antrag des Klägers hat der ihn seit 1978 behandelnde Internist Dr. K am 27. Juli 2004 eine Beschreibung des Krankheitsbildes des Klägers abgegeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akten des SG - S 44 VU 83/96- W 89 ) und die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Schwerbehindertenakten des Klägers verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet.

Der Kläger hat entgegen der Auffassung des Sozialgerichts keinen Anspruch auf Versorgung nach § 4 Abs. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Nr. 1 Häftlingshilfegesetz. Auch ein Anspruch nach § 21 StrRehaG scheidet aus. Der Anspruch des Klägers richtet sich nach dem StrRehaG, weil der Kläger nicht wegen des schädigenden Ereignisses bereits Versorgung aufgrund des BVG oder aufgrund von Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des BVG vorsehen, erhält, § 21 Abs. 1 Satz 2 StrRehaG.

Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG erhält ein Betroffener, der infolge der Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG. Gemäß § 21 Abs. 5 StrRehaG genügt zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.

Der Kläger erfüllt die genannten Anspruchsvoraussetzungen nicht, weil nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, dass die bei ihm heute bestehende psychische Erkrankung eine Folge der rechtsstaatswidrigen Haft ist. Die vom Kläger für die Zeit ab 1992 geltend gemachten psychischen Gesundheitsstörungen können weder im Sinne der Entstehung noch im Sinne der Verschlimmerung anerkannt werden. Unter Berücksichtigung sämtlicher Sachverständigengutachten steht fest, dass der Kläger bereits vor der Inhaftierung unter verschiedenen, erheblichen psychischen Beschwerden gelitten hat, die übereinstimmend von den Gutachtern als Persönlichkeitsstörung beschrieben werden.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass durch die belastenden Haftbedingungen eine akute schizophrene Krankheitsmanifestation ausgelöst worden ist. Dies hat der Sachverständige Prof. Dr. Z unter sorgfältiger Auswertung vor allem der Strafakten der Staatsanwaltschaft B-B und den in engem zeitlichen Zusammenhang nach der Haft in den 70er Jahren erhobenen Befunden, in welchen der Kläger u.a. seine sexuelle Entwicklung geschildert hat, für den medizinischen Laien nachvollziehbar dargestellt. Der Vorfall vom 17. Juli 1967 selbst stellt demzufolge bereits eine grundlegende Störung des Wirklichkeitsbezuges dar und spricht für die Annahme, dass bereits vor der Inhaftierung Prodromalsymptome als Vorboten der später sich voll ausbildenden schizophrenen Erkrankung sichtbar geworden sind. Die Haft als schädigendes Ereignis hat den Ausbruch der Schizophrenie im Sinne eines Vollbildes verursacht. Dies hat der Sachverständige für den Senat nachvollziehbar damit begründet, dass nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft psychosoziale Stressoren, denen der Kläger in außerordentlichem Umfang durch die Haft ausgeliefert war, für Auslösung und Verlaufsgestaltung schizophrener Psychosen bedeutsam sind. Diese Bewertung entspricht den Vorgaben der Anhaltspunkte in der nunmehr anzuwendenden Fassung von 2004. Nach Nr. 69, S. 212 der Anhaltspunkte sind die Voraussetzungen der Kannversorgung dann als gegeben anzusehen, wenn zum einen als Schädigungsfaktoren tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende psychosoziale Belastungen vorgelegen haben - was alle Gutachter übereinstimmend bejaht haben - und die eigentliche Erkrankung in enger zeitlicher Verbindung mit diesen Belastungen begonnen hat. Auch diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, da der Kläger noch während der Haft Ende des Jahres 1968 schwerwiegend erkrankt ist.

Ist nach alledem durch die Haft eine akute paranoid-halluzinatorische Episode mit schweren Erregungszuständen verursacht worden, können die längerfristigen Auswirkungen der schizophrenen Erkrankung nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit als durch die Haft verursacht angesehen werden. Bei episodischem Verlauf der schizophrenen Psychose sind nach den Vorgaben der Nr. 69 Abs.1 S. 212 der Anhaltspunkte 2004 nur für die der Belastung folgende Episode die Voraussetzung für eine Kannversorgung erfüllt. Als Episode hat der Gutachter Prof. Dr. Z insoweit über den engen Wortlaut der Anhaltspunkte hinaus den Verlauf der Erkrankung des Klägers bis zum Jahre 1984 angesehen. Für die Zeit ab 1992 ist demzufolge ein Kausalzusammenhang zwischen der Erkrankung des Klägers und den Haftbedingungen nicht mehr zu bejahen.

Soweit Dr. H einen Kausalzusammenhang der von ihm als Persönlichkeitsstörung beschriebenen Erkrankung mit den Haftbedingungen auch heute noch bejaht, begründet er dies damit, dass zu der ursächlich auf Kindheit und Adoleszenz zurückgehenden Persönlichkeitsstörung nach der Haft eine zusätzliche psychisch-reaktive posttraumatische Symptomatik mit heute noch bestehenden intrusiven Nachhallerinnerungen und Alpträumen hinzugetreten sei. Nur in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die posttraumatischen intrusiven Symptome nach jahrzehntelang zurückliegender traumatischer Erfahrung dem Schädigungstatbestand noch zugerechnet werden können. Demgegenüber ist eine derartige Erörterung nicht zu führen, wenn man - wie oben dargelegt - die Erkrankung des Klägers als Schizophrenie einordnet, weil dann nach Nr. 69 der Anhaltspunkte nur die der Belastung folgende Episode dem schädigenden Ereignis im Wege der Kannversorgung zugerechnet werden kann.

Etwas anderes folgt auch nicht aus der Tatsache, dass der Beklagte als schädigungsbedingte Gesundheitsstörung "belastende Erinnerungen und Träume" anerkannt hat. Denn auch im Bereich der Folgen psychischer Traumen ist nach Nr. 71 Abs. 2 S. 213 der Anhaltspunkte bei länger anhaltenden Störungen zu prüfen, ob die Schädigungsfaktoren fortwirken oder schädigungsunabhängige Faktoren für die Chronifizierung verantwortlich sind. In diesem Zusammenhang hat Dr. W für den Senat nachvollziehbar dargelegt, dass durch das Gutachten von Dr. H und seine ergänzende Stellungnahme eine Abgrenzung der Schädigungsfaktoren von den schädigungsunabhängigen Faktoren nicht vorgenommen wird. Dies ist vor allen Dingen vor dem Hintergrund überzeugend, dass Dr. H in seiner Stellungnahme vom 9. Juli 2002, obwohl Dr. W Einwendungen gegen die fehlende Differenzierung bereits dargelegt hatte, keine nachvollziehbare Begründung liefert, warum bei dem Kläger die jetzt bestehenden Störungen auf die Haft zurückzuführen sein sollten. Vielmehr äußert sich der Sachverständige dahingehend, dass sich nicht unterscheiden lasse, in welchem Ausmaß die bei dem Kläger schon vor der Haft vorhandene ausgeprägte Symptomatik verstärkt werde, ebenso wenig wie sich heute sicher abschätzen lasse, in welchem Grad die schon vor der Haft vorhandene persönlichkeitsbedingte emotionale Instabilität von einer traumatogen bedingten Erregungsanspannung mit Impulsivität und affektivem Kontrollverlust verstärkt werde. Des weiteren räumt der Sachverständige ein, dass er sich außer Stande sehe, inhaltlich vernünftig und nachvollziehbar eine Einzel-MdE für die zweifellos schon vor der Haft bestandenen psychische Störung anzugeben.

Nach alledem war die Berufung des Beklagten erfolgreich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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