L 10 SB 25/94

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 14 Vs 92/92
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 SB 25/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21.12.1993 abgeändert und die Klage abgewiesen, soweit der Kläger die Feststellung eines höheren GdB als 70 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsaus gleichs "RF" begehrt. Der Beklagte hat 1/5 der außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechtszüge zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten sind die Höhe des beim Kläger bestehenden Grades der Behinderung (GdB) sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht - Merkzeichen "RF" - streitig.

Durch Bescheid vom 22.10.1990, der aufgrund eines in dem beim Sozialgericht (SG) Dortmund anhängig gewesenen Streitverfahren - S 7 Vs 192/89 - abgeschlossenen außergerichtlichen Vergleichs erteilt wurde, hat der Beklagte folgende Funktionsstörungen mit einem GdB von 50 festgestellt:

1. Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, anhaltende Nerven- und Muskelreizerscheinungen nach zweimaliger Bandscheibenoperation

2. Kopfschmerz-Syndrom.

Grundlage dafür waren die im vorerwähnten Streitverfahren eingeholten Gutachten des Internisten Dr. H. vom 06.09.1989, des Chirurgen Dr. H. vom 31.10.1989 und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. A. vom 18.05.1990.

Am 02.10.1991 stellte der Kläger einen Änderungsantrag, zu dessen Begründung er ausführte, die festgestellten Funktionsstörungen hätten sich verschlimmert. Es seien ein Herz-, Magen- und Lungenleiden sowie Beschwerden in den Armgelenken hinzugekommen. Wegen der Kopfschmerzattacken müsse er ständig ein Sauerstoffgerät von 5 kg Gewicht mit sich führen. Die Sauerstoffmaske verursache bei Benutzung Geräusche, so daß ihm die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht möglich sei. Seinem Antrag fügte der Kläger zahlreiche medizinische Unterlagen, u.a. die im Streitverfahren S 24 Kn 150/88 (SG Dortmund) eingeholten Gutachten von Prof. Dr. A. und von Prof. Dr. P. vom 08.11.1990 und 19.03.1991, bei.

Aufgrund der dazu abgegebenen gutachtlichen Stellungnahme seines beratenden Arztes Dr. H. stellte der Beklagte durch Bescheid vom 26.11.1991 folgende Funktionsstörungen mit einem GdB von nunmehr 60 fest:

1. Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule mit anhaltenden Nerven- und Muskelreizerscheinungen nach mehrfachen Bandscheibenoperationen

2. Kopfschmerz-Syndrom mit Konzentrationsstörungen

3. Prinzmetalangina, periphere Durchblutungsstörungen im Sinne des Raynaud-Syndroms

4. Magenbeschwerden, abgeheilte Zwölffingerdarmgeschwüre.

Zugleich wurde dem Kläger das Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung) zuerkannt und u.a. die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" abgelehnt.

Auf den Widerspruch des Klägers hat der Beklagte einen Befundbericht von dem Chirurgen G. eingeholt und durch seinen beratenden Arzt gutachtlich auswerten lassen.

Daraufhin hat der Beklagte durch Abhilfebescheid vom 14.05.1992 unter Beibehaltung des GdB von 60 ein

5. Krampfaderleiden der Beine

als zusätzliche Funktionsstörung festgestellt und darüber hinaus den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 15.07.1992 zurückgewiesen.

Dagegen hat der Kläger am 23.07.1992 beim SG Dortmund Klage erhoben. Zu deren Begründung hat er geltend gemacht, er leide vor allem unter heftigen Kopfschmerzanfällen. Deswegen sei er darauf angewiesen, ständig ein 5 kg schweres Sauerstoffgerät bei sich zu führen. Darüber hinaus sei er durch Rücken- und Herzbeschwerden sowie durch eine Gefäßerkrankung beider Beine so beeinträchtigt, daß der GdB mit mindestens 80 zu bewerten sei. Da er wegen der heftigen unvorhersehbar auftretenden Kopfschmerzanfälle das Sauerstoffgerät immer bei sich führen müsse, sei ihm eine normale Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen auch nicht mehr möglich. Der Einsatz dieses Gerätes sei mit erheblichen Geräuschbelästigungen - Schlagen der Schläuche an den Metallkörper, Zischen bei der Betätigung - verbunden, die für die anderen Teilnehmer unzumutbar seien. Ihm stünde deshalb auch das Merkzeichen "RF" zu.

Der Kläger hat beantragt,

unter teilweiser Aufhebung der Bescheide vom 26.11.1991

und 14.05.1992 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15.07.1992 den Beklagten zu verurteilen, unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 22.10.1990 bei ihm ab 02.10.1991 einen GdB von 80 sowie ab Dezember 1991 das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen "RF") festzustellen.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung des internistischen Gutachtens von Dr. D. vom 14.04.1993, des orthopädischen Gutachtens von Dr. L., ebenfalls vom 14.04.1993, und des neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Dr. A. vom 13.02.1993.

Der orthopädische Sachverständige Dr. L. hat eine Verschlimmerung des Wirbelsäulenbefundes festgestellt und die Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule mit wechselnden erheblichen Schmerzsyndromen und anhaltenden Nerven- und Muskelreizerscheinungen nach mehrfachen Bandscheibenoperationen mit einem GdB von 40 bewertet. Für das umschriebene Krampfaderleiden der Beine hat er einen GdB von höchstens 10 angenommen.

Der Sachverständige Dr. A. hat die Kopfschmerzen - sogenanntes Bing-Horton-Syndrom -, für die er in seinem 1990 erstellten Gutachten entsprechend einer Migräne von mittelgradiger Verlaufsform noch einen GdB von 30 angenommen hatte, wegen Zunahme der Anfälle nunmehr mit einem GdB von 50 bewertet. Ferner ist der Sachverständige davon ausgegangen, daß der Kläger ständig gehindert sei, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, weil durch die zur Kupierung der unvorhergesehen eintretenden Kopfschmerzattacken notwendige Benutzung des Sauerstoffgerätes die Umgebung des Klägers nicht unwesentlich gestört werde. Das Wirbelsäulenleiden hat der Sachverständige ebenfalls mit einem GdB von 50 beurteilt.

Der Sachverständige D. hat die Funktionsstörungen "coronare Herzkrankheit mit Verdacht auf ein Raynaud-Syndrom" mit einem GdB von 20 und die Gesundheitsstörungen "Reizmagen" und "beginnende Schwerhörigkeit" mit einem GdB von jeweils 10 bewertet und unter Berücksichtigung der von den Sachverständigen Dr. L. und Dr. A. festgestellten Einzel-GdB-Grade den Gesamt-GdB mit 80 ein geschätzt.

Das SG ist den Sachverständigen gefolgt und hat den Beklagten mit Urteil vom 21.12.1993 verurteilt, ab Antragstellung einen GdB von 80 sowie ab Dezember 1991 das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht (Merkzeichen "RF") festzustellen.

Dieses Urteil greift der Beklagte fristgerecht mit der Berufung an. Zur Begründung trägt er vor, eine Zunahme der Kopfschmerzattacken gegenüber 1990 habe der Sachverständige Dr. A. nicht stichhaltig belegt. Die in seinem Gutachten festgehaltene Anamnese gäbe keinen Hinweis auf eine wesentliche Verschlechterung des Kopfschmerz-Syndroms. Soweit es um das Vorliegen der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" geht, verweist der Beklagte darauf, daß Zielsetzung des Schwerbehindertengesetzes die Eingliederung der Schwerbehinderten in das gesellschaftliche Leben sei. Eine Abgrenzung der Behinderten und ein Schutz der Öffentlichkeit vor Behinderten sei nur in äußersten Randsituationen erlaubt. Der Zweck des Nachteilsausgleichs "RF" werde in sein Gegenteil verkehrt, wenn er schon zuerkannt werde, um besonderen Empfindlichkeiten der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen. Bei den meisten öffentlichen Veranstaltungen herrsche entweder Toleranz (Kirche, Politik) oder sie spielten sich ohnehin in einem lebhaften, geräuschvollen Rahmen ab (Sport, Volksfeste, Messen und Märkte), so daß Störungen durch Behinderte nicht ins Gewicht fielen. Der Kläger könne, wie er es ja auch handhabe, wenn er zweimal wöchentlich zum Schwimmen gehe, das Sauerstoffgerät in seinem Auto lassen und bei Bedarf holen oder abholen lassen. Er sei bei der vorliegenden Frequenz von Kopfschmerzattacken nicht generell am Besuch solcher öffentlichen Veranstaltungen gehindert, bei denen man sich im Bedarfsfall jederzeit ohne nennenswerte Störung der Veranstaltung entfernen könne.

Der Beklagte und Berufungskläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21.12.1993 abzuändern und die Klage abzuweisen, soweit sie den GdB von 70 übersteigt.

Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,

Prof. Dr. P. ergänzend zu seinem Gutachten zu der Frage zu hören, welche Anzahl von Schmerzattacken er bei der ergänzenden Stellungnahme vom 06.10.1998 zugrunde gelegt hat und weiter dazu zu befragen, ob eine Abweichung in dieser Frequenz zu einer Änderung seiner Einschätzung des GdB bezüglich der Kopfschmerzproblematik ergibt, ferner die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, die Schmerzattacken seien intensiver geworden. Er benötige zur Linderung der Kopfschmerzattacken jeweils 20 bis 30 Minuten Sauerstoff. Im Hinblick auf eine beginnende Beeinträchtigung der Lungen habe er das Sauerstoffgerät eine Zeit lang nicht mehr benutzt, wegen der starken Kopfschmerzattacken dann jedoch wieder eingesetzt. Der Besuch öffentlicher Veranstaltungen sei wegen der regelmäßig erfolgenden Sauerstoffeinnahme nicht möglich. Zum Transport des 5 kg schweren Sauerstoffgerätes benötige er außerdem fremde Hilfe, weil er die Arme nur mit einem Gewicht von maximal 1 kg belasten dürfe.

Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes von Dr. P., Prof. Dr. P. und Dr. F. Berichte über Behandlungen wegen Kopfschmerzen und Bandscheibenvorfällen der Lendenwirbelsäule sowie von Prof. Dr. J. das neurologische Gutachten vom 16.07.1997 und auf den Antrag des Klägers gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) von Prof. Dr. P. das neuro-chirurgische Gutachten vom 24.07.1998 und von der Schmerztherapeutin Dr. F. das Gutachten vom 16.07.1998 eingeholt. Ferner hat der Sachverständige Prof. Dr. P. auf Anforderung des Senats von Amts wegen die ergänzende Stellungnahme vom 06.10.1998 erstattet.

Der Sachverständige Prof. Dr. J. hat die beim Kläger festgestellten chronisch-rezidivierenden Rückenschmerzen sowie die Zeichen einer mäßiggradigen älteren Wurzelaffektion bei L5 und S1 rechts bei Zustand nach mehrfachen (sechs) Operationen, jeweils in Höhe der Lendenwirbelkörper 5/6 mit einem GdB von 40 bewertet. Hinweise auf eine Wurzelkompression hat er verneint. Für den chronischen Kopfschmerz, am ehesten vom Typ des Spannungskopfschmerzes, und - davon schwer abgrenzbar - den eher halbseitigen Kopfschmerz mit Verdacht auf Cluster-Kopfschmerz (= Bing-Horton-Syndrom) hat der Sachverständige einen GdB von 30 angenommen.

Unter Berücksichtigung der von dem Sachverständigen Dr. D. aufgeführten weiteren Funktionsstörungen hat Prof. Dr. J. den Gesamt-GdB mit 60 bewertet. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF" hat Prof. Dr. J. verneint, weil die Notwendigkeit, dauernd eine Sauerstoffflasche, die der Kläger durchaus in der Lage sei zu tragen, mit sich zu führen, nicht bestehe. Denn die Insufflation des Sauerstoffs habe nach den Angaben des Klägers lediglich in weniger der Hälfte der Kopfschmerzattacken einen zuverlässigen und sofortigen Effekt.

Die Sachverständige Dr. F. hat für die Kopfschmerzsituation einen GdB von 50 für angemessen gehalten. Zur Begründung hat sie zwei Schmerztagebücher des Klägers aus den Monaten Mai und Juni 1998 übersandt, die die durch die Kopfschmerzattacken bedingte Veränderung der Lebensqualität sowie die Attackenfrequenz belegen sollen. Sie hat den Kläger aufgrund des Kopfschmerzleidens für nicht mehr in der Lage erachtet, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, weil die mit der Benutzung des Sauerstoffinhalationsgerätes einhergehende Lautstärke für die Umgebung des Klägers sehr störend und nicht zumutbar sei.

Der Sachverständige Prof. Dr. P. hat die Wirbelsäulenbeschwerden ebenfalls mit einem GdB von 40 bewertet. Den von der Sachverständigen F. für die Kopfschmerzen angenommenen Einzel-GdB von 50 hat er als außerordentlich wohlwollend bezeichnet. Er hat sich im wesentlichen den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. J. angeschlossen, jedoch den GdB für den Kopfschmerz etwas höher als dieser, nämlich mit 40, bewertet. Den Gesamt-GdB hat er mit 70 eingeschätzt. Dabei ist er von der führenden Symptomatik des Rücken- und des Kopfschmerzsyndroms aus gegangen. Das dadurch bedingte Ausmaß der Behinderung - so Prof. Dr. P. - werde durch die übrigen, von den im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Sachverständigen mit einem GdB von 20 und 10 bewerteten Funktionsstörungen nicht vergrößert.

Im Hinblick auf die vom Kläger geschilderte Lungenproblematik hat der Sachverständige Prof. Dr. P. vom Einsatz des Sauerstoffgerätes abgeraten. Seiner Auffassung nach könne eine Kupierung der Anfälle durch Medikamente erreicht werden, so daß das Sauerstoffgerät zu gesellschaftlichen Ereignissen nicht mitgeführt werden müsse, sondern höchstens bei schwersten Anfällen zu Hause benutzt werden solle.

Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahmen und der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten des Beklagten sowie die vom SG Dortmund beigezogenen Vorprozeßakten S 7 V 192/89 und die Rentenakten der Bundesknappschaft Bochum - Versicherungs-Nr. 11 050347 J 011 - Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund ist zulässig.

Sie ist jedoch nur zum Teil begründet.

Insoweit als das SG den Beklagten zur Feststellung eines höheren GdB als 70 und der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "RF" verurteilt hat, war das Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die angefochtenen Bescheide vom 26.11.1991 und 14.05.1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.07.1992 beschweren den Kläger nur insoweit im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, als der Beklagte die Neufeststellung des GdB mit 70 abgelehnt hat.

Der Kläger hat weder einen Anspruch auf Neufeststellung des GdB mit 80, § 48 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X), §§ 3, 4, Schwerbehindertengesetz, noch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF", § 1 Abs. 2 Nr. 3 der Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 30.11.1993 - 198. Erg. - SGV. NW. - (Stand 16.06.1994).

Nach § 48 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Diese Voraussetzungen liegen hier lediglich insoweit vor, als in dem Ausmaß der Behinderung gegenüber den Verhältnissen, die Grundlage des Bescheides vom 22.10.1990 waren, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, die die Erhöhung des Gesamt-GdB von 60 auf 70 rechtfertigt.

Im Vordergrund des Behinderungszustandes des Klägers stehen die Funktionsstörungen an der Lendenwirbelsäule und das Kopfschmerz leiden, die sich verschlimmert haben und nunmehr unter Berücksichtigung der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", sowohl in der bis zum 31.12.1996 geltenden Fassung (Ausgabe 1983) als auch in der danach geltenden Fassung (Ausgabe 1996), mit einem Einzel-GdB von jeweils 40 zu bewerten sind.

Das 1990 schon dreimal operierte Bandscheibenleiden der Lendenwirbelsäule hat danach weitere Operationen erforderlich gemacht. Festzustellen sind nunmehr beim Kläger Verschleißerscheinungen der Lendenwirbelsäule mit wechselnden und anhaltenden Schmerzen sowie Muskelreizerscheinungen. Begünstigend für den chronisch-rezidivierenden Rückenschmerz mit Muskelverspannungen und einem ausgeprägten Schonungsverhalten waren die zahlreichen Operationen. Durch die Narbenbildung und die eingetretene knöcherne Instabilität ist es nämlich zu einem chronifizierten Schmerzsyndrom - sogenanntes Postdiskotomiesyndrom - gekommen. Eine Wurzelkompression besteht nicht. Motorische Ausfälle im Sinne von Lähmungen liegen nicht vor. Es handelt sich lediglich um eine geringgradige Wurzelaffektion im Bereich der Lendenwirbelkörper L5/S1 mit sensiblen Störungen und einer Reflexschwächung rechts.

Der Beklagte hat den dargelegten Beschwerdekomplex an der Lendenwirbelsäule zu Recht mit einem Einzel-GdB von 40 bewertet. Diese Einschätzung halten auch die Sachverständigen Dr. L., Prof. Dr. J. und Prof. Dr. P. für angemessen und gerechtfertigt. Daß Prof. Dr. J. den Kläger - wie dieser behauptet hat - nur zehn Minuten "gesehen" hat - steht der Verwertung seines Gutachtens nicht entgegen. Prof. Dr. J. hat durch seine mit dem Zusatz "Einverstanden aufgrund eigener Untersuchung und Urteilsbildung" versehene Unterschrift persönlich die volle Verantwortung für das Gutachten und somit auch für die von Dr. H. als Hilfskraft vor genommenen Untersuchungen übernommen. Anhaltspunkte dafür, daß der gerichtlich bestellte Sachverständige Prof. Dr. J. den Auftrag an Dr. H. übertragen oder mit diesem die Verantwortung für das Gutachten geteilt hat, sind nicht ersichtlich (vgl. BSG, Urteil vom 28.03.1984 - 9a RV 29/83 - in: SozR 1500 § 128 Nr. 24; BSG, Urteil vom 25.05.1988 - 9/9a RV 40/85 in: SozR 1500 § 128 Nr. 33). Die Einschätzung der genannten Sachverständigen steht in Einklang mit den Vorgaben der "Anhaltspunkte". Diese sehen in ihrer bis zum 31.12.1996 geltenden Fassung bei degenerativen Veränderungen mit anhaltender Funktionsbehinderung und häufig rezidivierenden stärkeren, langanhaltenden Nerven- und Muskelreizerscheinungen einen GdB von 30 vor. Bei einem außergewöhnlichen Schmerzsyndrom - wie es von den Sachverständigen beim Kläger bejaht worden ist - kann in Ausnahmefällen ein höherer GdB in Betracht kommen.

Die ab 01.01.1997 zu beachtenden "Anhaltspunkte" 1996 (Nr. 26.18, S. 140) sehen bei schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, deutlich rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ebenfalls einen GdB von 30 vor, wobei bei einem Postdiskotomiesyndrom ebenfalls eine Höherbewertung erfolgen kann. Funktionsstörungen, wie schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, die unter Einbeziehung eines Post diskotomiesyndroms mit 50 zu bewerten wären, sind in den eingeholten Gutachten nicht beschrieben worden. Alle gehörten Sachverständigen, auch der einen GdB von 50 annehmende Gutachter Dr. A., haben keine schweren Gesundheitsstörungen im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule festgestellt.

Bei dem ebenfalls im Vordergrund des Leidensbildes des Klägers stehenden Kopfschmerzsyndrom handelt es sich einerseits um einen Spannungskopfschmerz, der den gesamten Kopf umfaßt, andererseits um einen halbseitigen Kopfschmerz (Cluster-Kopfschmerz = Bing-Horton-Syndrom). Die durch das Kopfschmerzleiden bedingte Funktionsstörung ist unter Berücksichtigung der Vorgaben in den "Anhaltspunkten" mit 40 zu bewerten. Dabei hat der Senat die Angaben des Klägers gegenüber den Sachverständigen Prof. Dr. J. und Dr. F. zur Häufigkeit der Kopfschmerzattacken - hervorgerufen sowohl durch den Spannungs- als auch durch den halbseitigen Kopfschmerz - und zu deren Intensität zugrunde gelegt. Der Einholung einer weiteren ergänzenden Stellungnahme von dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. P., der für das Kopfschmerzsyndrom einen Einzel-GdB von 40 angenommen hat und dabei möglicherweise - wie der Kläger behauptet hat - von nur zwei Kopfschmerzattacken pro Monat ausgegangen ist, bedurfte es daher nicht. Hatte der Kläger 1993 gegenüber dem Sachverständigen Dr. A., der 1990 für das Kopfschmerzleiden einen Teil-GdB von 30 angenommen hatte, lediglich angegeben, die Kopfschmerzen hätten nicht nachgelassen, so hat er bei der Begutachtung durch Prof. Dr. J. berichtet, der halbseitige Cluster-Kopfschmerz könne mehrfach - bis zu viermal täglich -, an anderen Tagen, die auch aufeinander folgen könnten, überhaupt nicht auftreten; der den gesamten Kopf umfassende Spannungskopfschmerz könne an bis zu fünf Tagen pro Woche auftreten. Die Sachverständige Dr. F. hat die wechselnde Häufigkeit des halbseitigen Kopfschmerzes bis August 1996 mit ein bis fünf Attacken pro Monat, nach einer wegen Ansteigen der Anfallsfrequenz erfolgten medikamentösen Behandlung ab November 1997 eine Attackenfrequenz von zwei pro Monat wiedergegeben worden. Der im Vordergrund stehende Spannungskopf schmerz führe - so die Sachverständige - an durchschnittlich 11 Tagen pro Monat zu Anfällen.

Der so beschriebene Beschwerdekomplex ist vergleichbar mit einer Migräne mittelgradiger Verlaufsform (häufigere Anfälle jeweils einen oder mehrere Tage dauernd), die sowohl nach den "Anhaltspunkten" 1983 (Nr. 26.2, S. 41) als auch nach den "Anhaltspunkten" 1996 (Nr. 26.2, S. 51) mit einem GdB von 20 bis 40 zu bewerten ist. Ein höherer GdB, wie er bei einer Migräne schwerer Verlaufsform oder bei einer schweren Gesichtsneuralgie, gekennzeichnet durch einen blitzartig einschießenden Schmerz, der zu den schwersten Schmerzsyndromen überhaupt gehört, in Betracht kommt, ist sowohl hinsichtlich der Dauer als auch der Intensität der jeweiligen Anfälle, wie sie der Kläger gegenüber dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. J. (20 Minuten bis eine Stunde bei Sauerstoff-/medikamentöser Behandlung) und auch in den Kopfschmerztagebüchern angegeben hat, nicht gerechtfertigt. Der Kläger hat in den Kopfschmerztagebüchern, die den Zeitraum vom 20.05. bis 02.06.1998 umfassen, nicht einmal "stärkste vorstellbare Schmerzen" auf der Skala für die Schmerzstärken angekreuzt.

Zusätzlich zu dem Wirbelsäulen- und Kopfschmerzleiden bestehen bei dem Kläger die von den im erstinstanzlichen Verfahren gehörten Sachverständigen Dr. D. und Dr. L. mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete coronare Herzerkrankung mit Verdacht auf Raynaud-Syndrom und die jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 beurteilten Gesundheitsstörungen "Reizmagen", "Krampfaderleiden" und "beginnende Schwerhörigkeit". Diese Einschätzungen sind entsprechend den Vorgaben der "Anhaltspunkte" nachvollziehbar vorgenommen und von den Beteiligten auch nicht beanstandet worden.

Unter Zusammenfassung aller vorstehend beschriebenen Funktionsstörungen ist der Gesamt-GdB unter Beachtung der Grundsätze der Nr. 19 der "Anhaltspunkte" mit 70 zu bewerten. Bei der Bildung des Gesamt-GdB sind die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu beurteilen. Bestimmend für den Gesamt-GdB sind die jeweils mit einem Einzel-GdB-Wert von 40 zu beurteilenden Gesundheitsstörungen an der Wirbelsäule und das Kopfschmerzleiden. Diese betreffen unterschiedliche Lebensbereiche. Das Wirbelsäulen leiden führt zu einer Einschränkung der körperlichen Belastbarkeit; der Kopfschmerz beeinträchtigt das allgemeine Lebensgefühl. Durch die zusätzlichen mit einem Einzel-GdB von 20 und 10 bewerteten Funktionsstörungen wird das Ausmaß des durch das Wirbelsäulen- und Kopfschmerzleiden geprägten Behinderungszustandes nicht weiter vergrößert.

Der Beklagte hat zu Recht das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "RF" verneint. Nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 der Verordnung über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 30.11.1993 werden Behinderte mit einem GdB von wenigstens 80, die wegen ihrer Leiden an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können, von der Rundfunkgebührenpflicht befreit. Der geltend gemachte Anspruch scheitert vorliegend schon daran, daß beim Kläger lediglich ein GdB von 70 besteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs. 1 SGG. Der Kläger hat gegen den Beklagten lediglich einen Kostenerstattungsanspruch in Höhe von 1/5, denn er hat sein wesentliches Klageziel, nämlich die Verurteilung des Beklagten zur Feststellung des GdB mit 80 als Grundvoraussetzung für die ebenfalls geltend gemachte Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht nicht erreicht.

Anlaß, die Revision zuzulassen, besteht nicht, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, § 160 Abs. 2 SGG. Für die Entscheidung sind vielmehr die konkreten Umstände des Einzelfalles maßgebend.
Rechtskraft
Aus
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