L 6 SB 5511/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 SB 1266/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 5511/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Hat ein schwerbehinderter Mensch eine Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr gegen Zahlung eines Eigenanteils erworben, obwohl die Voraussetzungen nach § 145 Abs. 1 Satz 5 SGB XI für den unentgeltlichen Erwerb vorgelegen haben, so besteht kein Anspruch auf Erstattung des Eigenanteils.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 4. November 2004 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten steht im Streit, ob der Klägerin 182,71 EUR zu erstatten sind.

Bei der 1914 geborenen Klägerin sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 90 seit 23. Dezember 2002 sowie die Merkzeichen B und G festgestellt (Bescheid vom 15. Januar 2003). Zuvor (Bescheid vom 20. Dezember 1994) waren ein GdB 80 sowie das Merkzeichen G ab 13. Oktober 1994 festgestellt.

Mit Schreiben vom 14. März bzw. 8. April 2003 machte die Klägerin geltend, dass sie seit März 2000 laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 27 a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) beziehe. Sie habe übersehen, dass sie in ihrem Antrag auf "Freifahrt" nach Bewilligung der Leistungen nach dem BSHG, anders als in den Vorjahren, ein Kreuz in der entsprechenden Rubrik auf der Antragsrückseite des Formulars des Beklagten hätte machen müssen. Sie habe daher ab April 2000 für die Wertmarken bezahlt, obwohl ihr diese unentgeltlich zugestanden hätten. Der zuviel bezahlte Betrag belaufe sich von Februar 2000 bis März 2003 auf insgesamt 242,72 EUR. Diesen möchte sie erstattet haben.

Mit Bescheid vom 30. Mai 2003 erstattete der Beklagte von dem entrichteten Eigenanteil 60,- EUR. Die Klägerin habe am 8. April 2003 eine Wertmarke zurückgegeben, die noch bis April 2004 Gültigkeit besessen hätte. Für jeden Monat der Erstattung (Mai 2003 bis April 2004) seien daher 5 ,- EUR erstattet worden.

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch mit der Begründung, über die Jahre 2000 bis 2002 sei nicht entschieden worden. Sie habe am 22. Februar 2000 120,- DM an den Beklagten überwiesen, nicht wissend, dass ihr Antrag auf laufende Leistungen nach dem BSHG zum 1. März 2000 bewilligt werde. Sie habe auch in den Folgejahren übersehen, dass diese Bewilligung Auswirkungen auf die Ausgabe einer unentgeltlichen Wertmarke habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 2004 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Behinderte Menschen würden zwar eine kostenfreie Wertmarke u.a. dann erhalten, wenn sie laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 27 a BSHG beziehen. Dies setze allerdings voraus, dass dem Beklagten dieser Umstand bekannt sei. Man habe davon erst im März 2003 Kenntnis erlangt. Eine rückwirkende Erstattung sei nicht möglich, da Erstattungen durch das Gesetz nur für noch nicht abgelaufene Zeiträume vorgesehen seien.

Dagegen erhob die Klägerin am 27. Februar 2004 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG), mit der sie geltend machte, ihr stünden noch weitere 182,72 EUR als Erstattungsbetrag für die Jahre 2000 bis 2002 zu. Auf Anfrage des SG teilte der Beklagte mit, die Klägerin habe erstmals am 10. Mai 1995 eine Wertmarke im Rahmen einer persönlichen Vorsprache beim Versorgungsamt Stuttgart beantragt. Der Eigenanteil von 120,- DM sei bar einbezahlt worden, die fortlaufenden Zahlungen seien durch Überweisung erfolgt. Dem Bezieher einer Wertmarke würde automatisch ca. 3 Monate vor deren Ablauf ein neues Antragsformular zur Neubeantragung einer Wertmarke zugeschickt. Daraus sei ersichtlich, dass unter gewissen Voraussetzungen eine kostenlose Wertmarke ausgestellt werden könne.

Mit Urteil vom 4. November 2004 verurteilte das SG den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 30. Mai 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Januar 2004 die "Bescheide" vom 24. Februar 2000, 22. Februar 2001, 22. März 2002 und 14. März 2003 über die Herausgabe einer Wertmarke nur gegen Zahlung eines Eigenanteils von 120,- DM bzw. 60,- EUR abzuändern und der Klägerin 182,71 EUR zu erstatten. Die Berufung wurde zugelassen. Zur Begründung führte das SG aus, bei den Entscheidungen des Beklagten, die Wertmarke nur gegen Zahlung eines Eigenanteils herauszugeben, handle es sich um Verwaltungsakte, die sich für die Jahre 2000 bis 2002 nachträglich als rechtswidrig herausgestellt hätten. Deshalb bestehe nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ein Anspruch der Klägerin auf rückwirkende Aufhebung und Erstattung. Denn der Beklagte habe aufgrund des falschen Sachverhalts Sozialleistungen, zu der auch die unentgeltliche Ausgabe einer Wertmarke zähle, nicht erbracht. Dem stehe auch nicht § 145 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) entgegen, auf den der Beklagte seiner Entscheidung stütze.

Gegen das ihm am 25. November 2004 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 6. Dezember 2004 Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, die Ausgabe der Wertmarke gegen Entgelt besitze nicht die Qualität eines Verwaltungsakts. Es handle sich vielmehr um schlichtes Verwaltungshandeln. Ein Verwaltungsakt sei vielmehr lediglich im Bescheid vom 20. Dezember 1994 zu sehen, in welchem der Klägerin das Merkzeichen G und damit ein Anspruch auf Freifahrt im Nahverkehr zuerkannt worden sei. Nachdem die Klägerin ihren Eigenanteil einbezahlt habe, sei ihr ohne jede weitere Prüfung eine Wertmarke ausgegeben worden. Allein der Irrtum der Klägerin darüber, dass ihr eine kostenfreie Wertmarke zugestanden hätte, mache das Verwaltungshandeln des Beklagten noch nicht unrichtig. Er sei an den Antrag der Klägerin gebunden gewesen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 4. November 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für richtig.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte den Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Die gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG zulässige Berufung ist begründet. Das SG hat zu Unrecht einen Erstattungsanspruch der Klägerin bejaht.

Da die Klägerin auch Erstattungsansprüche für Zeiträume vor Inkrafttreten des seit 1. Juli 2001 geltenden Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX) vom 19. Juni 2001 (BGBl I S 1046) geltend macht, sind für die Beurteilung der Erstattungspflicht für das Jahr 2000 bis 30. Juni 2001 die einschlägigen Bestimmungen des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) idF der Neubekanntmachung vom 26. August 1986 (BGBl I S 1421) und des Gesetzes vom 11. Januar 1993 (BGBl I S 50) sowie die Ausweisverordnung Schwerbehindertengesetz (SchwbAwV) vom 25. Juli 1991 (BGBl I S 1739) idF des Gesetzes vom 27. Dezember 1993 (BGBl I S 2378) maßgebend, ab 1. Juli 2001 die insoweit weitgehend inhaltsgleiche Vorschrift des § 145 SGB IX.

Nach § 59 Abs. 1 Satz 1 SchwbG in der Fassung vom 16. Dezember 1997, gültig ab 1. Januar 1998, waren Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos waren, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 4 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 61 Abs. 1 unentgeltlich zu befördern. Voraussetzung war, dass der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen war. Sie wurde gegen Entrichtung eines Betrags von 120 Deutsche Mark für ein Jahr oder 60 Deutsche Mark für ein halbes Jahr ausgegeben. Wurde sie vor Ablauf der Gültigkeitsdauer zurückgegeben, war auf Antrag für jeden vollen Kalendermonat ihrer Gültigkeit nach Rückgabe ein Betrag von 10 Deutsche Mark zu erstatten, sofern der zu erstattende Betrag 30 Deutsche Mark nicht unterschritt. Auf Antrag war eine für ein Jahr gültige Wertmarke, ohne dass der Betrag nach Satz 3 zu entrichten war, u.a. nach § 59 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 SchwbG an Schwerbehinderte auszugeben, die Arbeitslosenhilfe oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) oder den §§ 27a und 27d des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erhielten.

Nach § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert; die unentgeltliche Beförderung verpflichtet zur Zahlung eines tarifmäßigen Zuschlages bei der Benutzung zuschlagpflichtiger Züge des Nahverkehrs. Voraussetzung ist, dass der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist. Sie wird gegen Entrichtung eines Betrages von 60,- EUR für ein Jahr oder 30,- EUR für ein halbes Jahr ausgegeben. Wird sie vor Ablauf der Gültigkeitsdauer zurückgegeben, wird auf Antrag für jeden vollen Kalendermonat ihrer Gültigkeit nach Rückgabe ein Betrag von 5,- EUR erstattet, sofern der zu erstattende Betrag 15,- EUR nicht unterschreitet; Entsprechendes gilt für jeden vollen Kalendermonat nach dem Tod des schwerbehinderten Menschen. Auf Antrag wird eine für ein Jahr gültige Wertmarke, ohne dass der Betrag nach Satz 3 zu entrichten ist, unter anderem an schwerbehinderte Menschen ausgegeben, die Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz oder die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), dem SGB VIII oder den §§ 27a und 27d BVG erhalten (§ 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 SGB IX). Die Ausgabe der Wertmarken erfolgt auf Antrag durch die nach § 69 Abs. 5 zuständigen Behörden (§ 145 Abs. 1 Satz 7 SGB IX).

Nach Maßgabe dieser Vorschriften hat der Beklagte zu Recht 60,- EUR für die im Jahr 2004 nicht verbrauchte Wertmarke erstattet. Ein darüber hinaus gehender Anspruch auf Erstattung steht der Klägerin nicht zu. Dafür bietet weder § 59 SchwbG noch § 145 SGB X eine Rechtsgrundlage, da darin nur die Erstattung nicht verbrauchter Wertmarken geregelt wird.

Ob es sich bei diesen spezialgesetzlich geregelten Erstattungsansprüchen um abschließende Regelungen handelt, die weitergehende Erstattungsansprüche ausschließen, kann offen bleiben. Denn weitergehende Erstattungsansprüche der Klägerin bestehen auch dann nicht, wenn § 59 SchwbG bzw. § 145 SGB IX kein abschließender Charakter zukommt.

Ein Erstattungsanspruch besteht nicht nach § 44 Abs. 1, 2 i.V.m. Abs. 4 SGB X, da bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift nicht erfüllt sind. Denn die Entscheidung des Beklagten über die Herausgabe einer Wertmarke nur gegen Zahlung eines Eigenanteils stellt keinen Verwaltungsakt dar; zudem handelt es sich bei der Herausgabe einer Wertmarke zur unentgeltlichen Personenbeförderung nicht um eine Sozialleistung im Sinne des SGB X.

Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des Sozialgesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X). Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist nur dann ein - unanfechtbarer - Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Gemäß § 44 Abs. 2 SGB X ist im übrigen ein rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt stellt jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme dar, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist (§ 31 Satz 1 SGB X).

Soweit die Versorgungsverwaltung das SGB IX bzw. zuvor das Schwerbehindertengesetz (SchwbG) ausführt, hat sie nur die Aufgabe, Bescheide über die in § 69 SGB IX bzw. § 4 SchwbG erfassten Tatbestände zu erlassen, d.h. Feststellungsbescheide über die Zugehörigkeit von Behinderten zu einem bestimmten Personenkreis (Statusbescheide), das Vorliegen eines GdB und das Bestehen weiterer gesundheitlicher Merkmale als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen. Die ihm nach § 69 Abs. 5 SGB IX bzw. § 4 Abs. 5 SchwbG i.V.m. den Vorschriften der SchwbAwV weiter obliegende Verpflichtung, entsprechende Ausweise und, für den Fall der Feststellung des Merkzeichens G, nach § 145 SGB IX Beiblätter und Wertmarken auszustellen, dient nur dieser Aufgabe (BSG, Urteil vom 7. November 2001 - B 9 SB 3/01 R = BSGE 89, 79-86). Denn der Schwerbehinderte wird durch diese Unterlagen lediglich in Stand gesetzt, seinen Status Dritten gegenüber nachzuweisen und die ihm diesen gegenüber eingeräumten Rechte zu verwirklichen. Eine Regelungswirkung kommt der Herausgabe der Wertmarke gegen Zahlung eines Eigenanteils nicht zu, denn sie setzt keine unmittelbaren Rechtsfolgen dem Behinderten gegenüber. Dies gilt auch dann, wenn die Versorgungsverwaltung vor der Herausgabe zu prüfen hat, ob die Voraussetzung für die Herausgabe einer Wertmarke, d.h. das Vorliegen des Merkzeichens G, vorliegt. Rechtsfolgen werden in diesem Fall dennoch allein durch den statusbegründenden Bescheid mit der Zuerkennung des Merkzeichens gesetzt. Das Erfordernis, die Ausstellung des Beiblatts und die Herausgabe der Wertmarke zu beantragen, begründet ebenfalls keine Regelungswirkung der Herausgabehandlung. Vielmehr wird die Versorgungsverwaltung durch den Antrag lediglich in die Lage versetzt, die sich bereits aus dem Statusbescheid ergebenden Rechtsfolgen zu erfüllen.

Eine weitergehende Prüfungspflicht der Versorgungsverwaltung könnte lediglich für den Fall angenommen werden, dass nach § 145 Abs. 1 Satz 5 SGB IX ein Antrag auf unentgeltliche Herausgabe einer Wertmarke u.a. wegen der Inanspruchnahme von Leistungen nach dem BSHG gestellt wird. In diesen Fällen hat die Versorgungsverwaltung neben dem Vorliegen des Merkzeichens G und unabhängig von den bereits geprüften Tatbestandsmerkmalen im Statusbescheid zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die unentgeltliche Herausgabe erfüllt sind, d.h. ob einer der Tatbestände des § 145 Abs. 1 Satz 5 Nrn. 1 bis 3 SGB IX erfüllt ist. Ob daraus auf eine Verwaltungsaktsqualität der Herausgabehandlung geschlossen werden kann, nämlich auf eine Regelung des Inhalts, Anspruch auf eine unentgeltliche Wertmarke zu besitzen, kann letztendlich offen bleiben, da die Klägerin für die Jahre 2000 bis 2003 unstreitig einen entsprechenden Antrag nicht gestellt hatte.

Die Herausgabe einer Wertmarke kann auch nicht unter Verweis auf die Rechtsprechung des BSG zur Befreiung von der Zuzahlung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, worauf das SG seine Beurteilung gestützt hat, als Verwaltungsakt angesehen werden. Zum einen liegt bereits keine der Befreiung von der Zuzahlung vergleichbare Entscheidung des Beklagten vor. Denn diese könnte allenfalls in einer -stattgebenden oder ablehnenden - Entscheidung über die unentgeltliche Herausgabe einer Wertmarke gesehen werden, da darin ein Verfügungssatz des Inhalts begründet liegen könnte, der Antragsteller habe abweichend vom Regelfall einen Anspruch auf unentgeltliche Herausgabe. Spricht man dieser Entscheidung Verwaltungsaktsqualität zu, so folgt aus einem Umkehrschluss, dass aus der entgeltlichen Herausgabe der Wertmarke nicht auf einen Regelungsgehalt geschlossen werden kann. Denn die Versorgungsverwaltung hat gerade nicht darüber entschieden, dass nur ein Anspruch auf entgeltliche Herausgabe besteht. Sie hat mit der Herausgabe vielmehr nur die bereits in der Statusfeststellung begründete Rechtsfolge vollzogen. Darüber hinaus liegt der Zuwendung einer unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr ein völlig anderes System zugrunde als etwa der Erbringung von Sachleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Vergleichbarkeit würde voraussetzen, dass den Beklagten die Pflicht treffen würde, dem in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr beeinträchtigten Schwerbehinderten eine Leistung zuzuwenden, die mit einer Sachleistung der Krankenversicherung vergleichbar wäre. Den Beklagten trifft aber, wie bereits ausgeführt, nur die Pflicht zur Vornahme von Feststellungen und zur Ausgabe von Ausweisen, welche dem Behinderten die Wahrnehmung entsprechender Rechte Dritten gegenüber ermöglichen (vgl. BSG vom 7. November 2001 a.a.O.). Die Leistungspflicht selbst trifft allerdings nur das Verkehrsunternehmen in Gestalt der unentgeltlichen Beförderung.

Doch selbst unterstellt, es würde sich bei der bloßen Herausgabe einer Wertmarke gegen Entgelt um einen Verwaltungsakt handeln, wären die Voraussetzungen des § 44 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 SGB X auch deshalb nicht erfüllt, weil es sich bei der unentgeltlichen Personenbeförderung bzw. der (un-)entgeltlichen Herausgabe einer Wertmarke nicht um eine Sozialleistung im Sinne der §§ 4, 5 SGB IX bzw. des § 20 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) in der bis 30. Juni 2001 gültig gewesenen Fassung handelt, die von der Versorgungsverwaltung nachträglich erbracht werden könnte. Zur Teilhabe behinderter Menschen werden nach § 4 i.V.m. § 5 SGB IX Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben, unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen sowie Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erbracht. Als besondere Leistung der Versorgungsverwaltung für die behinderten Menschen sind in § 69 SGB IX bzw. den maßgeblichen Vorschriften des SchwbG lediglich die Feststellung des Vorliegens einer Behinderung, des GdB sowie die Gewährung von Nachteilsausgleichen vorgesehen.

Bei diesen Feststellungen handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des BSG (vgl. zuletzt BSG vom 7. November 2001 mit zahlreichen Nachweisen) nicht um Sozialleistungen, denn die Tätigkeit der Versorgungsverwaltung beschränkt sich allein auf die Statusfeststellung. Für die Gewährung von im Schwerbehindertenrecht vorgesehenen Leistungen sind andere Behörden zuständig, z.B. für die Gewährung von Steuererleichterungen, die Befreiung von den Rundfunkgebührenpflicht, die Gewährung von Parkerleichterungen, oder der Arbeitgeber in Fragen des Kündigungsschutzes oder des verlängerten Urlaubs. Ob es sich hierbei um Sozialleistungen im Sinne des Sozialgesetzbuchs handelt, kann jedoch offen bleiben, da es der Klägerin nicht um die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen gegenüber Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs oder gegenüber einem Arbeitgeber geht.

Sollte für den Fall, dass zwar Verwaltungsaktsqualität angenommen, das Vorliegen einer Sozialleistung aber verneint wird, folglich § 44 Abs. 2 SGB X für die Rücknahme der Herausgabeentscheidung zur Anwendung kommen können (vgl. LSG Berlin, Urteil vom 9. Oktober 1997 - L 11 Vs 27/97), wäre ein Verwaltungsakt grundsätzlich nur für die Zukunft zurückzunehmen. Er könnte nur im Rahmen einer Ermessensentscheidung auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gründe, die eine Ermessensreduktion auf Null und damit eine Verpflichtung des Beklagten zur Rücknahme der Herausgabeentscheidung begründen könnten, konnte der Senat nicht erkennen. Im übrigen wäre damit auch nur die Herausgabeentscheidung rückgängig zu machen, nicht aber eine Rechtsgrundlage für die Erstattung der geforderten Summe gegeben.

Es besteht aber auch kein sonstiger öffentlich-rechtlicher Anspruch auf Erstattung von 182,71 EUR, insbesondere kein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch.

Leistungen ohne Rechtsgrund und sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen müssen rückgängig gemacht werden. Dieser Rechtsgedanke, der sich unmittelbar aus der Forderung nach wiederherstellender Gerechtigkeit ergibt, hat im bürgerlichen Recht seine Ausprägung in den Vorschriften der §§ 812 ff. BGB über die ungerechtfertigte Bereicherung gefunden. Im öffentlichen Recht hat er sich auf den verschiedenen Rechtsgebieten in einer Vielzahl von Vorschriften niedergeschlagen, in denen für das jeweilige Rechtsgebiet die Rückgewähr des rechtsgrundlos Erlangten geregelt ist. Aber auch dort, wo es - wie im vorliegenden Fall - an einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung fehlt, müssen rechtsgrundlose Vermögensverschiebungen grundsätzlich rückgängig gemacht werden. Hierzu dient der allgemeine öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch. Dieser setzt eine unmittelbare Vermögensverschiebung zwischen zwei Rechtssubjekten im Sinne einer Entreicherung auf der einen und einer Bereicherung auf der anderen Seite voraus, die ohne Rechtsgrund erfolgt ist.

Durch die Zahlung des Eigenanteils an den Wertmarken war die Klägerin entreichert, der Beklagte bereichert, auch wenn von diesen Einnahmen das Land einen Teil an den Bund abzuführen hatte (vgl. § 152 ff SGB IX). Jedoch war die Herausgabe der Wertmarken nicht ohne Rechtsgrund erfolgt. Denn der Klägerin stand ohne Antrag auf unentgeltliche Herausgabe einer Wertmarke nach § 145 Abs. 1 Satz 3 SGB IX lediglich ein Anspruch auf Herausgabe einer Wertmarke gegen Bezahlung von 60,- EUR bzw. 120,- DM zu. Dieser Rechtsgrund ist auch nicht nachträglich entfallen, da ein Antrag auf kostenlose Herausgabe der Wertmarke für einen zurückliegenden Zeitraum nicht mehr gestellt werden kann bzw. einem solchen Antrag kein Erstattungsanspruch folgt. Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 7. November 2001 a.a.O. deutlich gemacht, dass selbst die rückwirkende Feststellung der Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "unentgeltliche Personenbeförderung” keinen Anspruch auf Erstattung der im Rückwirkungszeitraum angefallenen Fahrtkosten bewirkt und dies auch nicht gegen Art. 3 Grundgesetz (GG) verstößt. Dieser Grundsatz muss erst recht gelten, wenn zwar die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "unentgeltliche Personenbeförderung" ohne Zahlung eines Eigenanteils vorliegen, sie aber nicht geltend gemacht werden.

Da nach alldem kein Rechtsgrund für die geltend gemachte Erstattungsforderung besteht und auch über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch bzw. einen - ohnehin nur zivilgerichtlich geltend zu machenden - Amtshaftungsanspruch keine Ersatzansprüche bestehen, hat das SG zu Unrecht der Klage stattgegeben.

Daher ist das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Revision war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG erfüllt ist.
Rechtskraft
Aus
Saved