L 1 KR 38/05

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 28 KR 1629/03
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 38/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 13. Juni 2005 aufgehoben und die Klage abgewiesen. 2. Die Klägerin trägt in beiden Rechtszügen die Gerichtskosten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen. 4. Der Streitwert wird auf EUR 5.000,00 festgesetzt.

Tatbestand:

Streitig ist die Frage, ob der Beigeladene zu 1) in der Zeit vom 1. Mai 2003 bis 30. Juni 2004 Mitglied der Klägerin war.

Der 1976 geborene Beigeladene zu 1) ist bei der Beigeladenen zu 2) seit dem 11. Mai 1998 versicherungspflichtig beschäftigt und war bis zum 31. Dezember 2002 Mitglied der E. BKK. Am 11. Oktober 2002 wählte er schriftlich bei der Klägerin die Mitgliedschaft ab 1. Januar 2003. Im Jahr 2002 betrug der Beitragssatz der Klägerin 14,5 %. Mit Wirkung zum 1. Januar 2003 erhöhte sie den Beitragssatz auf 15,2 %.

Mit Schreiben vom 24. Februar 2003, bei der Klägerin eingegangen am 26. Februar 2003, kündigte der Beigeladene zu 1) die Mitgliedschaft bei der Klägerin zum 30. April 2003. Ab 1. Mai 2003 wählte er die Mitgliedschaft bei der Beklagten. Darauf hin teilte ihm die Klägerin mit, dass seine Mitgliedschaft erst zum 30. Juni 2004 beendet werden könne, da ein Sonderkündigungsrecht des Arbeitnehmers erst bei einer künftigen Beitragsänderung bestehe. Die Klägerin forderte die Beigeladene zu 2) schriftlich auf, die Beiträge weiter an sie zu entrichten. Mit Schreiben vom 12. Juni 2003 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass dem Beigeladenen zu 1) ihrer Auffassung nach ein Sonderkündigungsrecht zugestanden habe und dieser deshalb seit 1. Mai 2003 ihr Mitglied sei.

Die Klägerin hat am 20. Oktober 2003 beim Sozialgericht Feststellungsklage bzgl. der Mitgliedschaft des Beigeladenen zu 1) in der Zeit vom 1. Mai 2003 bis 30. Juni 2004 erhoben. Dessen Kündigung zum 1. Mai 2003 sei unwirksam gewesen, da ihr Beitragssatz sich nach Beginn der Mitgliedschaft am 1. Januar 2003 nicht erhöht habe. Mit Urteil vom 13. Juni 2005 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und festgestellt, dass der Beigeladene zu 1) über den 30. April 2003 hinaus bis zum 30. Juni 2004 Mitglied der Klägerin gewesen sei. Ein Sonderkündigungsrecht habe nicht bestanden, da im Laufe seiner Mitgliedschaft bei der Klägerin keine Beitragserhöhung erfolgt sei.

Gegen das ihr am 30. Juni 2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 15. Juli 2005 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, dass ein Sonderkündigungsrecht auch im vorliegenden Fall bestanden habe. Der Gesetzgeber habe durch die Regelung des § 175 Abs. 4 Satz 5 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) in der Fassung vom 1. Januar 2002 bis 31. Dezember 2003 (a. F.) das Interesse des Mitglieds an einem möglichst niedrigen Beitragssatz höher bewertet als das Interesse der Krankenkassen, Kurzmitgliedschaften zu vermeiden. Der Beigeladene zu 1) müsse daher mit denjenigen Versicherten gleichgestellt werden, die im Vormonat vor der Beitragserhöhung Mitglied geworden seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 13. Juni 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beigeladenen haben keine Anträge gestellt.

Der Senat hat die Verwaltungsakte der Beklagten beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte und form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben.

Die Klage ist als Feststellungsklage zulässig. Das Feststellungsinteresse ergibt sich aus dem wirtschaftlichen Interesse der Klägerin an der Beitragszahlung des Beigeladenen zu 1). Das nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderliche streitige Rechtsverhältnis ist mit dem Rechtsverhältnis der Krankenkassen zum Beigeladenen zu 1) gegeben.

Die Klage ist aber unbegründet. Der Beigeladene zu 1) war in der Zeit vom 1. Mai 2003 bis 30. Juni 2004 nicht Mitglied der Klägerin. Seine am 26. Februar 2003 ausgesprochene Kündigung entfaltete bereits zum 1. Mai 2003 Rechtswirkung. Zwar sind Versicherungs-pflichtige gemäß § 175 Abs. 4 Satz 1 SGB V a. F. grundsätzlich mindestens 18 Monate an die Wahl der Krankenkasse gebunden, wenn sie das Wahlrecht ab dem 1. Januar 2002 ausüben. Dem Beigeladenen zu 1) stand aber ein Sonderkündigungsrecht nach § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V a. F. zu. Nach dieser Vorschrift kann die Mitgliedschaft abweichend von Satz 1 gekündigt werden, wenn eine Krankenkasse ihren Beitragssatz erhöht. Diese Voraussetzungen waren mit der Beitragssatzerhöhung der Klägerin zum 1. Januar 2003 erfüllt.

Der Wortlaut des § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V a. F. setzt eine vor der Beitragssatzerhöhung bereits bestehende Mitgliedschaft nicht voraus. Vorausgesetzt wird lediglich, dass die Krankenkasse "ihren Beitragssatz erhöht". Infolgedessen besteht das Sonderkündigungs-recht auch für Mitglieder, die der Kasse erst zum Zeitpunkt der Erhöhung beigetreten sind (ebenso Schmidt "Das Recht auf Wahl der Krankenkasse – insbesondere zum Sonderkündigungsrecht bei Beitragssatzerhöhungen", NJW 04, 2628, 2630). Dass sich die Beitragssatzerhöhung der Klägerin für den Beigeladenen zu 1) seit Beginn seiner Mitgliedschaft nicht ausgewirkt hat, weil er tatsächlich zuvor keinen niedrigeren Beitrag an sie gezahlt hat, ist unerheblich, da es nach der Gesetzesbegründung für das Sonderkündigungsrecht generell ohne Bedeutung ist, ob das Mitglied von der Erhöhung unmittelbar betroffen ist (vgl. BT-Drs. 13/5724, S. 5).

Eine solche (weite) Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Die Regelung soll die Krankenkasse ausnahmslos bei jeder Beitragssatzerhöhung mit dem Risiko belegen, dass ihre Mitglieder von ihrem Sonderkündigungsrecht Gebrauch machen und die Kasse so mittelbar zwingen, auf Grund einer Gesamtabwägung von der Möglichkeit der politisch unerwünschten Beitragssatzanhebung nur nach dem ultima-ratio-Prinzip und nach Ausschöpfung aller Wirtschaftlichkeitsreserven Gebrauch zu machen (vgl. BSG 2.12.04 – B 12 KR 23/04 R, NJW 05, 923). Vor diesem Hintergrund ist es nicht erforderlich, diejenigen, die sich mit Ausübung ihres Wahlrechts bereits an eine Krankenkasse gebunden haben, zugunsten der Krankenkasse, die eine Beitragssatzerhöhung plant, von dem Sonderkündigungsrecht auszunehmen.

Die vom Sozialgericht angegebene Begründung, dass nur der Beginn der Mitgliedschaft "zeitlicher Anknüpfungspunkt für die Beitragssatzerhöhung" sein könne, weil nur dieser "genau definiert und tatsächlich feststellbar" sei, überzeugt nicht. Denn die Ausübung des Wahlrechts durch den Versicherten stellt als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung ebenso einen tatsächlich feststellbaren Zeitpunkt dar. Mit dem Zugang der Wahlrechtserklärung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 SGB V an die gewählte Krankenkasse wird bei dieser unmittelbar die Mitgliedschaft und damit das Versicherungsverhältnis begründet (vgl. Hauck in Hauck/Noftz, SGB V, K § 175 Rdnr. 7). Eines Verwaltungsaktes bedarf es nicht, da die Wahlrechtserklärung rechtsgestaltend ist. Die Vorschriften des BGB über Willenserklärungen sind analog anwendbar (vgl. Hauck in Hauck/Noftz, SGB V, K § 175 Rdnr. 3). Nach § 130 Abs. 1 Satz 2 BGB ist ein Widerruf nach dem Zugang der Erklärung nicht mehr möglich. Der Beigeladene zu 1) ist somit an seine Krankenkassenwahl, die er unter der Voraussetzung eines Beitragssatzes von 14,5 % getroffen hatte, schon vor der Erhöhung gebunden gewesen. Er ist daher ebenso zu stellen, wie jemand, dessen Mitgliedschaft bereits vor dem 1. Januar 2003 begonnen hat.

Die sonstigen Voraussetzungen für den Kassenwechsel sind erfüllt. Die Frist für die Krankenkassenwahl gemäß § 175 Abs. 4 Satz 2 SGB V a. F. ist vorliegend gewahrt. Denn der Beigeladene zu 1) kündigte die Mitgliedschaft bei der Klägerin wirksam am 26. Februar 2003 zum 30. April 2003, also zum Ablauf des übernächsten Monats. Der Nachweis der Wahl nach § 175 Abs. 4 Satz 4 SGB V a. F. ist nicht erforderlich, wenn die gekündigte Krankenkasse durch die rechtswidrige Weigerung, eine Kündigungsbestätigung auszustellen, die Ursache dafür setzt, dass das Verfahren zum Wechsel der Krankenkasse nicht den im Gesetz vorausgesetzten Ablauf nehmen kann (vgl. BSG a. a. O.). Der Beigeladene zu 1) ist daher seit 1. Mai 2003 bei der Beklagten krankenversichert.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 1 bis 3, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Streitwertfestsetzung richtet sich nach §§ 71, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz in der Fassung ab 1. Juli 2004.

Ein Grund für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG ist nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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