L 10 VG 33/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 22 V 79/96
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 VG 33/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin zu 1) und des Klägers zu 2) gegen das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 23. April 1998 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rücknahme eines Bewilligungsbescheides.

Die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) sind die Witwe und die Waise des am 24.11.1991 im Alter von 20 Jahren verstorbenen A ... B ... (B.).

Im September 1994 beantragten die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) bei der Beklagten Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) und gaben an, B. sei am 23.11.1991 von dem Arbeiter Y ... C ... (C.) eine Schußverletzung beigebracht worden, an deren Folgen er einen Tag später gestorben sei.

Aus den beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft (StA) Essen (70 Js 884/91, 60 Ls 14 Js 250/91), insbesondere aber aufgrund der Feststellungen des Landgerichts (LG) Essen in seinem Urteil vom 05.07.1993 ergibt sich, daß B. 1989 aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland gekommen war und zunächst einige Monate in Bremen gelebt hatte. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Türkei reiste er 1990 wiederum in die Bundesrepublik ein und lebte bei seinem zukünftigen Schwiegervater in Essen. Der Bruder der Klägerin, E ... Y ... (jetzt J ...), hatte Kontakt zur kurdischen Drogenhändlerszene in Essen - Borbeck. Der Rauschgifthandel wurde vom Cafe am Borbecker Platz aus betrieben. Zu dieser Gruppe kurdischer Heroinhändler hatte B. ebenfalls Kontakt bekommen und mit Rauschgift gehandelt. Auf Vorschlag des E ... Y ..., der als Polizeiinformant tätig war, wurde B., dessen Dealertätigkeit damals noch nicht polizeibekannt war, ebenfalls nach dem Verpflichtungsgesetz verpflichtet. Im Februar 1991 wurde B. wegen Heroinhandels festgenommen und kam in Untersuchungshaft. Die ihm zugesicherte Vertraulichkeit wurde aufgehoben, weil die Polizei ihm vorwarf, seine Mitarbeit bei der Polizei als Alibi für eigene Heroingeschäfte benutzt zu haben. Während der Inhaftierung nannte B. den Polizeibeamten ein Heroinversteck im Toilettenbereich des Borbecker Cafes. Dort wurde ein Kilogramm Heroin gefunden. Die Polizei vermutete, daß B. das Heroin in das Versteck hatte bringen lassen, um mit Hilfe dieses "Fahndungserfolges" von der Untersuchungshaft verschont zu werden. Deshalb schuldete er möglicherweise den Lieferanten des Heroins 30.000 bis 40.000,- DM. In seiner anschließenden Vernehmung räumte B. ein, Heroin verkauft zu haben und belastete verschiedene Kurden aus Essen-Borbeck, kiloweise Heroin in Bremen gekauft und damit in Essen-Borbeck gehandelt zu haben. Im Mai 1991 wurde der Haftbefehl gegen B. außer Vollzug gesetzt mit der Auflage, sich zweimal wöchentlich nach Absprache bei der Polizei zu melden. B. war wegen seiner Dritte belastenden Aussagen mehrfach für den Fall mit dem Tode bedroht worden, daß er bei Polizei oder Gericht über den Borbecker Drogenhandel aussagen sollte. Nach dem Tode des B. wurde auch die Klägerin zu 1) im Dezember 1992 bedroht. Die von B. gewünschten Schutzmaßnahmen lehnte die Polizei ab. In der Anklageschrift vom Juli 1991 wurde B. der Handel mit Betäubungsmitteln ohne Erlaubnis im Zeitraum November 1990 bis Februar 1991 vorgeworfen. Der Hauptverhandlungstermin war für den 18.12.1991 vorgesehen. B. und die Klägerin zu 1), die eine eigene Wohnung in der S ... in Essen hatten, wohnten im November 1991 wegen eines Defekts an der Heizung in ihrer eigenen Wohnung wieder bei den Eltern der Klägerin zu 1). Am Mittag des 23.11.1991 fuhren B. und die damals im vierten Monat schwangere Klägerin zu 1) mit dem Bus von der Wohnung der Eltern der Klägerin zu 1) zu ihrer eigenen Wohnung in der S ... Dabei wurden sie von C. beobachtet. Dieser wartete an der nahen Bushaltestelle "S ..." auf die Rückkehr des B. Als sich dieser und die Klägerin zu 1) gegen 13.15 Uhr auf dem Rückweg von ihrer Wohnung zu der Bushaltestelle befanden, ging C. auf die beiden zu und rief ihnen etwas zu. Die Klägerin zu 1) verstand wegen der größeren Entfernung nur das Wort "Problem" und glaubte, der ihr unbekannte C. sei fremd und wolle nach dem Weg fragen. Deshalb forderte sie B. auf, einen Moment stehen zu bleiben, was dieser auch tat. C. näherte sich ihnen in normaler Gehgeschwindigkeit. Als er etwa zwei bis drei Meter von den beiden entfernt war, zog er wortlos aus seiner Manteltasche einen Revolver, zielte auf den Kopf des B. und schoß in der Absicht, ihn zu töten. Dabei hatte er angesichts der von B. eingenommenen Haltung erkannt, daß dieser mit einem tätlichen Angriff nicht rechnete und deswegen keinerlei Chance zu seiner Verteidigung besaß. B. stürzte zu Boden und starb am Tage darauf an den Folgen des Schädeldurchschusses. C. feuerte noch ein oder zwei ungezielte Schüsse ab und ergriff die Flucht. Einer ihm von der Bushaltestellte entgegenkommenden Frau rief er etwas mit dem Wort "erledigt", möglicherweise "die Sache ist erledigt" oder "es ist erledigt" zu. Kurze Zeit danach wurde er in einer nicht weit entfernten Pizzeria festgenommen. C., der damals in Bremerhaven lebte, sagte zum Motiv seiner Tat im polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren aus, B., der ihn in Bremen angesprochen habe, habe sich bereit erklärt, für ihn, C., Kokain zu besorgen. Er habe dann B. bei dem Treffen in Essen die vereinbarten 30.000,- DM übergeben und von ihm ein in Zeitungspapier eingewickeltes Paket erhalten. Zu Hause habe er festgestellt, daß es sich bei dem übergebenden Pulver nicht um Kokain gehandelt habe. Er sei dar auf hin, nachdem er telefonisch keinen Kontakt zu B. bekommen hätte, mehrfach nach Essen gefahren, um sein Geld zurückzufordern. Schließlich sei es ihm gelungen, B. zu sprechen. Er habe von B. entweder sein Geld zurück oder Kokain verlangt. B. habe ihm geantwortet, das Geld habe er nicht mehr, Kokain könne er ihm nicht liefern, möglicherweise jedoch Heroin. Das habe er, C., abgelehnt. Sie hätten sich dann geprügelt. Er, C., sei nach Bremerhaven zurückgekehrt und habe beschlossen, B. zu bedrohen, um an sein Geld oder das Kokain zu kommen. Mit einer Waffe sei er dann am Tattag wieder nach Essen zurück gekehrt. Er sei auf B. zugegangen, als dieser mit der Klägerin zu 1) in Richtung Bushaltestelle gegangen sei, und habe gesagt "Gib mir das wieder, was Du mir genommen hast, dann wird es zwischen uns keine Probleme mehr geben". B. habe ihn beleidigt. Daraufhin habe er, C., die Nerven verloren und wahrscheinlich auf ihn geschossen. An Einzelheiten könne er sich nicht mehr konkret erinnern. C. wurde durch Urteil des LG Essen vom 05.07.1993 rechtskräftig wegen Mordes an B. in Tateinheit mit vorsätzlichen unerlaubten Führens eines Revolvers (einer halbautomatischen Selbstladewaffe mit einer Länge von nicht mehr als 60 cm) zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Das LG ist hinsichtlich der Tatvorgeschichte im wesentlichen von der Aussage des C. ausgegangen, die Tat resultiere aus einem Kokaingeschäft zwischen ihm und B. Der von C. geschilderte Ablauf des Kokaingeschäftes sei nicht so absonderlich, daß man diesen Verlauf aus schließen könne. Der im Ermittlungsverfahren aufgekommene Verdacht, C. habe B. im Auftrag einer "Drogenmafia" getötet, hätte nicht der art erhärtet werden können, daß dieser Sachverhalt mit der erforderlichen Sicherheit zu Lasten des C. hätte festgestellt werden können.

Durch die bindenden Bescheide vom 24.01.1995 erkannte der Beklagte an, daß B. an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 OEG gestorben sei und die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) Anspruch auf die Gewährung einer Witwen-bzw. Waisenversorgung hätten. Die Versorgungsverwaltung ging davon aus, daß Versagungsgründe nicht ersichtlich seien. Daß B. sich nach den Angaben des Schädigers im Rauschgiftmilieu aufgehalten habe, reiche als Versagungsgrund nicht aus. Ferner wurden der Klägerin zu 1) und dem Kläger zu 2) durch die Bescheide vom 31.03.1995 Ausgleichsrente geleistet und durch die weiteren Bescheide vom 16.06.1995 die Versorgungsbezüge mit Wirkung vom 01.07.1995 neu berechnet.

Im Rahmen der Klärung von eventuellen Schadensersatzansprüchen gegen den Schädiger überprüfte der Beklagte erneut die Sach- und Rechtslage. Der Klägerin zu 1) und dem Kläger zu 2) wurde unter dem 22.11.1995 mitgeteilt, die erneute Überprüfung habe ergeben, daß ein Versagungsgrund im Sinne des § 2 Abs. 1 OEG vorliege, weil sich der Verstorbene zu Lebzeiten in einem vom OEG nicht geschützten Bereich aufgehalten habe. Die Versorgung gewährenden Bescheide seien daher von Beginn an unrichtig im Sinne des § 45 SGB X gewesen. Es sei beabsichtigt, diese Bescheide mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Die Klägerin zu 1) wandte hiergegen ein, B. habe sich - wie sich aus dem Urteil des LG ergebe - eindeutig aus der Szene der Heroinhändler gelöst. Ein Anspruch auf Witwen-und Waisenversorgung sei deshalb gegeben.

Mit Zustimmung des Landesversorgungsamtes wurden durch die Bescheide vom 15.01.1996 die Verwaltungsakte vom 24.01.1995, 31.03.1995 und 16.06.1995 gemäß § 45 SGB X mit Wirkung vom 01.12.1995 zurückgenommen und zu Unrecht gewährte Bezüge in Höhe von 4194,- DM gem. § 50 SGB X zurückgefordert. Es wurde festgestellt, daß ein Anspruch auf Witwen- bzw. Waisenversorgung nach dem OEG nicht gegeben sei, weil ein Versagungsgrund im Sinne des § 2 OEG vorliege. Die Tat resultiere aus der Zugehörigkeit des B. zum kriminellen Milieu. Die Distanzierung von der kriminellen Szene sei kein Grund, Entschädigungen für Taten zu leisten, die aus der ehemaligen Zugehörigkeit zum kriminellen Milieu herrührten. Das gelte sogar dann, wenn sich B. nicht wegen einer Strafverfolgung, sondern aus innerer Kraft von der Szene befreit hätte. Bis zur Bekanntgabe des Anhörungsschreibens vom 22.11.1995 hätten die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) auf den Bestand der Verwaltungsakte vertrauen dürfen, weil die Ursache für die Rechtswidrigkeit der Bescheide ausschließlich im Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung gelegen hätte. Nach diesem Zeitpunkt seien die Voraussetzungen für eine Rücknahme erfüllt. Das öffentliche Interesse an der Aufhebung der Verwaltungsakte überwiege schon allein im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip und das Interesse an der Einhaltung und gleich mäßigen Anwendung der Rechtsordnung. Das gelte sogar dann, wenn die Betroffenen an dem Zustandekommen der Rechtswidrigkeit kein Verschulden trügen. Die Anwendung des § 45 SGB X stehe im Ermessen des Leistungsträgers. Eine Rücknahme der Verwaltungsakte sei im vorliegenden Fall geboten, da keine Gründe ersichtlich seien, die eine andere Regelung gerechtfertigt erscheinen ließen. Das öffentliche Interesse an der Herstellung des gesetzesmäßigen Zustandes überwiege im vorliegenden Fall das private Interesse an der Aufrechterhaltung der rechtswidrigen Verwaltungsakte. Die hiergegen erhobenen Widersprüche wies der Beklagte durch die Widerspruchsbescheide vom 08.05.1996 zurück. Nach der Rechtsprechung des BSG sei eine Entschädigung auch dann als unbillig anzusehen, wenn das Opfer zur Zeit der Gewalttat aus dem Kreis der Straftäter endgültig ausgeschieden sei und auch an der Aufklärung der Straftat mitgewirkt habe bzw. sich zur Mitarbeit bei der Bekämpfung der Kriminalität bereit gefunden hätte und damit ein erhöhtes Risiko eingegangen sei.

Zur Begründung ihrer beim Sozialgericht (SG) Duisburg am 31.05.1996 erhobenen Klagen, die zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden sind, haben die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) vorgetragen, der Beklagte habe zu Unrecht die Versorgung bewilligen den und die nachfolgenden Bescheide zurückgenommen. Denn ein Grund, die Leistungen zu versagen, liege nicht vor. B. habe nur kurzzeitig Drogen verkauft. Entscheidend sei, daß er sich freiwillig als Vertrauensperson der Staatsanwaltschaft und der Polizei zur Verfügung gestellt habe, bevor bekannt gewesen sei, daß er mit Heroin gehandelt habe. Nachdem er der Polizei weitere Informationen gegeben habe, sei er aus der U-Haft entlassen worden. Wegen seiner Tätigkeit als Vertrauensmann nach dem Verpflichtungsgesetz sei er mehrfach mit dem Tode bedroht worden. Keineswegs habe sich B. im Zusammenhang mit dieser Tätigkeit rechtsfeindlich verhalten, vielmehr habe er als Vertrauensperson der Rechtsordnung unterstützend gegenüber gestanden. Es bestehe ein Interesse daran, demjenigen Entschädigungsleistungen zu gewähren, der sich zur Mitarbeit und Bekämpfung der Kriminalität bereit fände und damit erhöhte Risiken trüge. Unerheblich sei in diesem Zusammenhang, daß C. aus der gleichen Szene gekommen sei, die B. verlassen habe. Erst recht könne nicht davon ausgegangen werden, daß sich B. und C. gekannt hätten, denn dies habe das LSG lediglich zugunsten des C. unterstellt, aber im Urteil ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dieser Umstand nicht bewiesen sei.

Nachdem der Beklagte im Termin zur mündlichen Verhandlung die angefochtenen Bescheide insoweit aufgehoben hatte, als darin die gewähr ten Leistungen für die Vergangenheit (vom 01.12.1995 bis 29.02.1996) zurückgenommen wurden, haben die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) beantragt,

die Bescheide des Beklagten vom 15.01.1996 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 08.05.1996 auch insoweit aufzuheben, als damit Leistungen für die Zukunft versagt würden.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat die Auffassung vertreten, die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig. Unstreitig habe B. einem kurdischen Heroinhändlerring angehört und sei selbst als Heroinhändler tätig gewesen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könnten Personen, die sich zur Mitarbeit bei der Bekämpfung der Kriminalität bereit fänden und damit erhöhte Risiken eingingen, den Schutz des OEG nicht beanspruchen, wenn die Gewalttat aus dem Milieu stamme, das sie verlassen hätten. Daß der Schädiger möglicherweise das spätere Opfer nicht gekannt habe, führe nicht zu einer anderen Beurteilung.

Das SG hat mit Urteil vom 23.04.1998 die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 45 SGB X für eine Rücknahme der Versorgung bewilligenden Verwaltungsakte für die Zukunft lägen vor. Die Bewilligung von Entschädigungsleistungen nach dem OEG an die Klägerin zu 1) und den Kläger zu 2) seien zu Unrecht erfolgt. B. sei zwar Opfer einer Gewalttat im Sinne des OEG geworden. Es wäre jedoch unbillig, seinen Hinterbliebenen Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Es läge nämlich in der Person des B. ein Versagungsgrund im Sinne des § 2 Abs 1 Alt 1 OEG vor. B. habe sich durch seine Zugehörigkeit zur Drogenszene bewußt außerhalb der staatlichen Gemeinschaft gestellt. Deshalb könnten sich seine Hinterbliebenen nicht, wenn sich die damit verbundene Gefahr verwirkliche, auf den Schutz des OEG berufen. Der Frage, ob die im Urteil des LG zugunsten des Täters angenommenen Gründe für die Tat ursächlich gewesen seien, brauche nicht nachgegangen zu werden. Entweder habe es sich bei der Tat tatsächlich um einen Racheakt gehandelt, weil der Verstorbene den Täter bei einem Kokaingeschäft um sein Geld betrogen habe, oder es habe sich um einen Auftragsmord gehandelt, d.h., der Verstorbene sei aus Gewinn sucht des Täters getötet worden, weil er im Rahmen von polizeilichen Ermittlungsverfahren Aussagen gegen im Drogengeschäft tätige Personen gemacht habe. Es sei auch möglich, daß der Verstorbene umgebracht worden sei, weil er einen Betrag in Höhe von 30.000 bis 40.000,- DM für den Kauf von dem Heroin geschuldet habe, welches er in einem Versteck im Toilettenbereich des Borbecker Cafes deponiert gehabt hätte, um der Polizei zu beweisen, daß er nunmehr als Polizeiinformant zur Verfügung stehe. Andere Gründe für die Ermordung des B. seien nicht ersichtlich. Daß der Verstorbene sich zu nächst freiwillig der Polizei und der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt habe und später möglicherweise aus dem Milieu ausgeschieden sei und durch die Offenbarung seines Wissens dazu beigetragen habe, daß unter Umständen weitere Straftaten hätten verhindert oder zumindest aufgeklärt werden können, sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes unerheblich. Der Rücknahme stehe auch nicht die Ermessensschranke des schutzwürdigen Vertrauens der Klägerin zu 1) und des Klägers zu 2) auf den Bestand der Versorgung ge währenden Verwaltungsakte entgegen. Der Beklagte habe das ihm zustehende Ermessen sachgemäß ausgeübt. Zu Recht habe er bei der erforderlichen Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Rücknahme mit dem Interesse der Klägerin zu 1) und des Klägers zu 2) an dem Fortbestand der Verwaltungsakte dem Umstand, den gesetzesmäßigen Zu stand wieder herzustellen, überragende Bedeutung beigemessen.

Gegen das ihnen am 24.06.1998 zugestellte Urteil haben die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) am 30.06.1998 Berufung eingelegt. Zur Begründung haben sie vorgetragen, B. sei wegen seiner Aussagen umgebracht worden. Es sei ihm gedroht worden, wenn er diese nicht zu rücknehme, passiere etwas.

Die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) beantragen sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 23.04.1998 abzuändern und die Bescheide vom 15.01.1996 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 08.05.1996 auch insoweit aufzuheben, als damit Leistungen für die Zukunft versagt werden.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgericht Duisburg vom 23.04.1998 zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie die von der StA Essen beigezogenen Akten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Klägerin zu 1) und des Klägers zu 2) entscheiden, weil diese von dem Termin zur mündlichen Verhandlung mit entsprechendem Hinweis benachrichtigt worden sind.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das SG hat die Klage zu Recht und mit überzeugender Begründung abgewiesen. Die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) sind durch die angefochtenen Bescheide des Beklagten vom 15.01.1996 und 08.05.1996 nicht beschwert. Die Rücknahme der Bescheide vom 24.01.1995, 31.03.1995 und 16.06.1995 und die Ablehnung der Leistung von Versorgung für die Zukunft (ab 01.03.1996) sind rechtmäßig.

1.

Gemäß § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X) - Verwaltungsverfahren - darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

a) Die Versorgungsleistung gewährenden Bescheide vom 24.01.1995, 31.03.1995 und 16.06.1995 waren rechtswidrig. Zwar beruht der Tod des B. auf einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, denn C. hat mit dem Revolverschuß bewußt und gewollt dem B. die zum Tode führende Körperverletzung zu gefügt. Der Senat folgt insoweit den Feststellungen des LG Essen in seinem Urteil vom 05.07.1993.

b) Jedoch stehen der Klägerin zu 1) und dem Kläger zu 2) keine Hinterbliebenenleistungen zu, weil in der Person des B. ein Grund für die Versagung der Versorgungsleistungen vorliegt, den sich die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) als dessen Hinterbliebene an rechnen lassen müssen (BSG, Urteil vom 07.11.1979 - 9 RVg 2/78 - in: BSGE 49, 104 ff).

aa) Gemäß § 2 Abs. 1 Alt 2 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus in dem eigenen Verhalten des Opfers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei dem ersten der in dieser Vorschrift genannten Versagungsgründe (Mitverursachung) um einen Sonderfall des an zwei ter Stelle genannten Versagungsgrund (Unbilligkeit), der abschließend regelt, wann die unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten Leistungen ausschließt (BSG vom 09.12.1998 - B 9 VG 8/97 R -m.w. N; vgl. auch Senatsurteil vom 16.12.1998 -L 10 VG 43/96-). Ein Mitwirken des B. an dem Tathergang, welches dem Verhalten des Schädigers annähernd gleichwertig ist (BSG, Urteil vom 15.08.1996 - 9 RVg 67/94 - in: SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 5; BSG, Urteil vom 18.06.1996 - 9 RVg 7/94 - in: SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 4), liegt nicht vor. Der Geschädigte hat die Tat mitverursacht, wenn er dafür eine wesentliche Bedingung im Sinne der allgemeinen sozialrechtlichen und speziell versorgungsrechtlichen Ursachentheorie gesetzt hätte (BSG, Urteil vom 07.11.1979 a.a.O.). Die Mitwirkung des Geschädigten muß ebenso wie der rechtswidrige Angriff von der Rechtsordnung mißbilligt sein. Mißbilligt in diesem Sinne kann auch ein selbstgefährdendes Verhalten sein (Urteile vom 15.08. und 18.06.1996 a.a.O.; BSG, Urteil vom 18.10.1995 - 9 RVG 5/95 - in: SozR 3-3800 § 2 Nr. 3). Eine unmittelbare Tatbeteiligung des Geschädigten B., auch nicht im Sinne eines selbstgefährdenden Verhaltens, kommt vorliegend nicht in Betracht. Denn aus seinem Verhalten unmittelbar vor seinem Tod ist kein zu mißbilligender Beitrag des B. zu seiner Schädigung ersichtlich. Ins besondere ist nicht davon auszugehen, daß - wie C. im Strafverfahren behauptet hatte - eine beleidigende Äußerung des B. wesentlich ur sächlich für die zum Tode führende Tat war. Diese Behauptung ist nicht bewiesen. Die im Strafverfahren gehörte Klägerin zu 1), die im Zeitpunkt der Tat neben B. gestanden hatte, hat eine beleidigende Äußerung des B. nicht bekundet (zur Verwertung von Feststellungen und Aussagen aus dem Strafverfahren, vgl. BSG vom 28.04.1999 - B 9 VG 7/98 R -).

bb) Jedoch ist es aus in dem eigenen Verhalten des B. liegenden Gründen unbillig, Entschädigung zu gewähren. Die Unbilligkeit begründenden Umstände müssen von einem solchen Gewicht sein, daß sie einer Mitverursachung der Schädigung (§ 2 Abs. 1 Alt 1 OEG) annähernd gleichkommen (BSG, Urteil vom 07.11.1979 a.a.O; BSG, Urteil vom 24.03.1993 - 9/9a RVg 3/91 - in: SozR 3-3800 § 2 OEG Nr. 2). Unbilligkeit ist zu bejahen, wenn Eigenarten des Einzelfalles eine staatliche Hilfe nach den allgemeinen Vorschriften des § 1 OEG i.V.m. den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als sinnwidrig und damit ungerecht bewerten lassen. Rechtsgrund für die Gewährung von Opferentschädigung ist das Einstehen der staatlichen Gemeinschaft für die Folgen bestimmter Gesundheitsstörungen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen. Aufgabe des Staates ist es u.a., den Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Kann er dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so besteht ein Bedürfnis für eine allgemeine Entschädigung. Stellt sich jemand jedoch bewußt außerhalb der staatlichen Gemeinschaft, so kann er nicht - wenn sich die damit verbundene Gefahr verwirklicht - staatliche Leistungen verlangen. Dabei ist nicht einmal danach zu unterscheiden, ob dieses gefahrbringende Verhalten des Geschädigten in unmittelbarem oder in mittelbarem Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis steht (vgl. Amtliche Begründung des Regierungsentwurfs zum OEG in: BT-Drucksache 7/256 S 7). Eine solche zu mißbilligende Selbstgefährdung kann auch schon in der Zugehörigkeit zum "Milieu" oder zur "Szene" bestehen, in der Straf taten an der Tagesordnung sind (BSG, Urteil vom 24.03.1993 aaO; so auch Beschluss des erkennenden Senats vom 05.03.1998 - L 10 V 10/96-). In einem solchen Milieu hat sich B. bewegt. Er hat auch mit Drogen gehandelt. Wie er selbst in dem gegen ihn geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen Verstosses gegen das Betäubungsmittelgesetz, in dem die Anklage zur Hauptverhandlung bereits zugelassen war, gegenüber der Polizei zugegeben hat, hat er mit Heroin gehandelt. Den Handel mit Heroin hat auch die Klägerin zu 1) gegenüber der Polizei bestätigt. Aufgrund der polizeilichen Ermittlungen, wie sie sich in den beigezogenen Strafakten darstellen, bestehen sogar Anhaltspunkte dafür, daß B. in die organisierte Kriminalität verwickelt gewesen sein und damit der weitere Versagungsgrund des § 2 Abs. 2 Ziffer 3 OEG in Betracht kommen könnte, der allein an die Zugehörigkeit zur organisierten Kriminalität die Versagung der Leistungen knüpft und dem Geschädigten die Beweislast dafür auferlegt, daß die Schädigung hiermit nicht in Zusammenhang steht.

Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, daß in der Zugehörigkeit des B. zum Rauschgiftmilieu, in der Straftaten an der Tagesordnung sind, die Ursache für seine Ermordung liegt. Das gilt sowohl für den vom LG Essen angenommenen Beweggrund der Rache, weil B. den C. bei einem Kokaingeschäft betrogen hat, als auch für den Fall daß B. getötet wurde, weil er einen Geldbetrag von 30.000 bis 40.000,- DM für den Kauf von Heroin geschuldet hatte, das er in dem Toilettenbereich des türkischen Cafes in Essen-Borbeck deponiert hatte, um der Polizei zu beweisen, daß er als Polizeiinformant zur Verfügung stehe. Das gilt gleichermaßen für den Fall, daß B., wie die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) zur Begründung der Berufung vorgetragen haben, wegen seiner andere zur Drogenszene gehörenden Personen belastenden Aussagen ermordet worden ist. Andere nicht in Zusammenhang mit der Zugehörigkeit des B. zur Rauschgiftszene stehenden Beweggründe für seine Ermordung sind weder von der Klägerin vorgetragen worden, noch bietet der Inhalt der vorliegenden Akten erfolgversprechende Ansatz punkte für weitere Ermittlungen.

Auch die Verpflichtung nach dem Verpflichtungsgesetz, die vor Bekanntwerden der Dealertätigkeit des B. erfolgte, sowie die behauptete Distanzierung von der Rauschgiftszene sind - wie das SG zutreffend unter Berufung auf die Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 24.03.1993 a.a.O) ausgeführt hat - kein Grund, Entschädigung für eine Tat zu leisten, die aus dem rechtsfeindlichen Milieu stammt, das das Opfer verlassen hat. Das gilt auch dann, wenn sich das Opfer nicht wegen einer Strafverfolgung sondern aus innerer Kraft von der Szene befreit hat oder wenn das Opfer durch Offenbarung seines Wissens zur Aufklärung oder Verhinderung von Straftaten beigetragen hat (BSG, Urteil vom 24.03.1993 a.a.O).

c) Die Zweijahresfrist des § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X ist gewahrt. Dies folgt unmittelbar aus den Daten der jeweiligen Bescheide, nämlich Bewilligungsbescheide vom 24.01.1995 und Rücknahmebescheide vom 15.01.1996.

d) Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist.

aa) Ob und inwieweit noch eine Ermessensentscheidung zu treffen ist, richtet sich nach dem Ergebnis der Vertrauensschutzprüfung (hierzu BSG vom 04.02.1998 zu den Az. B 9 V 5/97 R und B 9 V 9/97 R). Ermessen darf nicht ausgeübt werden, soweit der gesetzwidrig Bereicherte schutzwürdig auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat (Meyer, Vertrauens-, Sozial- und Betrügerschutz in Festschrift für Krasney 1997, 319, 324; BSG aaO mwN). Deshalb läßt sich die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Rücknahmebescheide erst beurteilen, wenn alle für die Interessenabwägung und eventuell dann noch notwendige Ermessensentscheidung in Betracht kommenden Umstände er mittelt sind; stellt sich heraus, daß der Vertrauensschutz zu versagen ist und daß für eine Ermessensausübung keine Gesichtspunkte übrigbleiben, ist das Ermessen auf Null reduziert; dann kann nur eine Entscheidung richtig sein, nämlich die Leistungsbewilligung zurückzunehmen (BSG aaO mwN; aA BSG vom 09.09.1998 - B 13 RJ 41/97 -).

Für das Vorliegen von Vertrauen der Klägerin zu 1) und des Klägers zu 2) spricht eine Vermutung, weil der Staatsbürger auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns vertrauen darf (vgl. BSG aaO mwN). Gegenteilige Umstände sind nicht ersichtlich und insbesondere vom Beklagten in den angefochtenen Bescheiden auch nicht dargelegt. Daß die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) um die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung wußten und damit in den Bestand der Bewilligungsbescheide nicht vertraut haben, ist im übrigen schon deswegen ausgeschlossen, weil dies von ihnen eine eingehende rechtliche Auseinandersetzung mit den Versagensgründen des § 2 OEG verlangt hätte. Im Ergebnis zutreffend ist daher auch der Beklagte davon ausgegangen, daß die die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) auf den Bestand der Bewilligungsbescheide vertraut haben.

bb) Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Ermittlungen hierzu hat der Beklagte nicht durchgeführt. Vielmehr hat er im angefochtenen Bescheid - insoweit verkürzend - nur ausgeführt, daß das öffentliche Interesse an der Aufhebung der Verwaltungsakte im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip und das Interesse an der Einhaltung und gleichmäßigen Anwendung der Rechtsordnung überwiegt. Diese Prüfung ist indes nachrangig und kommt erst in Betracht, wenn der Begünstigte nicht schon nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X Vertrauensschutz genießt (BSG aaO mwN). Da es sich bei der Vertrauensschutzprüfung um die Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs handelt, ist der Senat nicht gehindert, diese Prüfung nunmehr nachzuholen. Dabei ist in zeitlicher Hinsicht zu differenzieren.

(1) Für die Zeit bis einschließlich Februar 1996 bedarf es einer Vertrauensschutzprüfung nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X nicht mehr. Der Beklagte hat die Rücknahmebescheide vom 15.01.1996 in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 23.04.1998 dahin aufgehoben, daß Leistungen für die Zeit vom 01.12.1995 bis 29.02.1996 nicht zu erstatten sind.

(2) Für den nachfolgenden Zeitraum hat der Beklagte die Zahlungen für März 1996 von der Sparkasse Essen zurückgefordert und nach den Einnahmemitteilungen vom 04.04.1996 auch zurückerhalten. Ab April 1996 hat der Beklagte die Leistungen eingestellt (Datenbelege vom 08.02.1996). Demgemäß können die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) Entschädigungsleistungen ab März 1996 nicht im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X verbraucht haben. Daß die Kläger irreversible Vermögensdispositionen getroffen hätten, ist nicht ersichtlich und nicht dargetan. Soweit das BSG in der Entscheidung vom 04.02.1998 - B 9 B 5/97 R - meint, im Hinblick auf mögliche Vermögensdispostionen sei der Sachverhalt schon dann weiter aufzuklären, wenn es "nicht ganz fern liegt", daß der Begünstigte mittels der Leistungen einen Kredit aufgenommen hat, begegnet dies Bedenken. Denn sofern dem Leistungsträger weder aus den Akten noch aus dem Vorbringen des Begünstigten bis zum Abschluß des Widerspruchsverfahrens Anhaltspunkte bekannt sind, die für irreversible Dispositionen sprechen können, hat er weder die Befugnis noch die Pflicht, Beweise ins Blaue hinein oder Ausforschungsbeweise zu erheben (vgl. auch Meyer aaO S.332 zu atypischen Fällen im Bereich der Ermessensbetätigung). Weit entfernt liegenden Möglichkeiten braucht die Behörde nicht nachzugehen (Jahn, Kommentrar zum SGB X, § 20 SGB X Rdn. 5). Letztlich kann dies dahinstehen, denn es sind weder Anhaltspunkte für eine irreversible Vermögensdisposition vorhanden, noch liegt es "nicht ganz fern", daß die Kläger einen Kredit aufgenommen haben. Insbesondere aus der Sozialhilfebedürftigkeit der Klägerin zu 1) kann dies nicht hergeleitet werden, denn sie wohnt durchgängig bei ihren Eltern, so daß Mietaufwendungen nicht anfallen. Sollte die Klägerin zu 1) ihrer Mutter allerdings - unüblich - Miete entrichten, wertet der Senat dies als "weit entfernt liegende Möglichkeit", die nicht aufklärungsbedürftig ist.

(3) Im übrigen:

Ab Februar 1996 wußten die Kläger um die Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung, denn die am 22.01.1996 als zugestellt geltenden Rücknahmebescheide sind mit einem am 20.02.1996 eingegangen Widerspruch angefochten worden. Ab diesem Zeitpunkt wäre die Vertrauensschutzprüfung nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X entbehrlich, wenn die Kläger sich gem. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X auf Vertrauen nunmehr nicht mehr berufen könnten. Dem steht indes entgegen, daß der Begünstigte die Rechtswidrigkeit eines Bescheides - denklogisch - nicht im Sinn dieser Vorschrift kannte, wenn er nachträglich durch Anhörung (hierzu z.B. LSG NRW vom 14.05.1985 - L 6 V 168/84 -) oder Zugang des Rücknahmebescheides von der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides unterrichtet wird; die Bösgläubigkeit muß im Zeitpunkt der Bekanntgabe jenes Verwaltungsaktes vorgelegen haben; auf spätere Hinweise der Verwaltung kommt es insoweit nicht an (BSG vom 22.03.1995 - 10 RKg 10/89 - in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nr. 24). Im eigentlichen Anwendungsbereich des § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X ist das Vertrauen im Fall eines Leistungsverbrauch oder irreversibler Vermögensdisposition indessen nur "in der Regel" schutzwürdig. Von dieser Regel ist abzuweichen, wenn dem bislang Gutgläubigen die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der empfangenen Leistungen vermittelt wird oder der Verwaltungsakt, ungeachtet dessen, daß rechtswidrige Vorbehalte nicht ausgeübt dürfen (vgl. BSG SozR 3 - 1300 § 32 Nr 2 und SozR 3- 1500 § 45 Nr. 5), von vornherein mit einem - ggf. auch unzulässigen - Widerrufsvorbehalt (§ 32 SGB X) versehen ist (hierzu Jahn, aaO § 45 Rdn. 8). Dem entspricht es im Ergebnis, wenn das BSG zu sog. Urteilsrenten die Auffassung vertritt, sofern der Begünstigte in Zusammenhang mit den Ausführungsbescheiden darauf hingewiesen werde, daß die Urteilsleistungen zu erstatten seien, falls das Urteil aufgehoben werde, schließe ein solcher Hinweis die Gutgläubigkeit des Begünstigten nach Sinn und Zweck des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X aus (BSG vom 31.10.1991 - 7 RAr 60/89 - in SozR 3 - 1300 § 45 SGB X Nr. 10). Sonach können die Kläger sich auf den durch § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X eingeräumten Vertrauensschutz ab März 1996 aus Rechtsgründen nicht mehr berufen.

cc) Genießen die Kläger nach alledem nicht schon nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X Vertrauensschutz, können gem. § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X dennoch andere Umstände für Schutzwürdigkeit sprechen (BSG aaO). Hierzu rechnet, daß die Unrichtigkeit der Bewilligungsbescheide allein dem Verantwortungsbereich des Beklagten zuzurechnen ist. Zwar sollen grobe Fehler der Verwaltung bei Erlaß des Bewilligungsbescheides das Vertrauen des Begünstigten in die Bestandskraft der Leistungsbewilligung nachhaltig stärken können (BSG aaO mwN), indes erscheint dieser Gesichtspunkt dem Senat als fragwürdig. Denn ein grober Fehler ist u.U. eher geeignet, (schutzwürdiges) Vertrauen gar nicht erst entstehen zu lassen (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Dies kann hier dahinstehen. Ein grober Fehler ist dem Beklagten nicht anzulasten. Ein solcher läge erst vor, wenn die dem Bewilli gungsbescheid zugrundeliegende Rechtsauffassung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar ist. Die Wertung der zuständigen Dezernentin beruht indessen auf einer im Ergebnis unzutreffenden Beweiswürdigung (Verfügung vom 19.12.1994) bzw. mit der Rechtspre chung des BSG (Urteil vom 24.03.1994 - 9/9a RVg 3/91 -) nicht über einstimmenden Interpretation des § 2 OEG zu den Fällen, in denen sich das Opfer von der kriminellen Szene distanziert hat. Vorliegend spricht gegen einen Vertrauensschutz überdies, daß der Beklagte die angefochtenen Bescheide vom 15.01.1996 am 23.04.1998 dahin aufgehoben hat, daß die Rücknahme nur noch ab Zugang der Rücknahmebescheide, also mit Wirkung in die Zukunft, gelten soll. Dann ist dem Umstand, daß die Unrichtigkeit der Bewilligungsbescheide allein dem Beklagten zuzurechnen ist, keine Bedeutung mehr beizumessen (hierzu Meyer aaO S. 325, 326).

dd) Für die Vertrauensschutzprüfung können ferner die allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse am Wohnsitz des Betroffenen und seine wirtschaftliche Lage von Bedeutung sein (BSG vom 04.02.1998). Hieraus kann nichts zugunsten der Kläger hergeleitet werden. Die Kläger wohnen in der Bundesrepublik. Die Klägerin zu 1) hat zwar Sozialhilfe bezogen, der Entzug der Entschädigungsleistungen schmälert ihre Existenzgrundlage allerdings nicht dermaßen, daß sie nunmehr in Armut oder in menschenunwürdigen Umständen wohnen müßte (hierzu BSG aaO). Nötigenfalls werden ihr wieder Sozialhilfeleistungen gewährt. Für die Kläger streitet letztlich auch nicht der Grundsatz, daß mit zunehmendem zeitlichen Abstand vom Zeitpunkt der Leistungsbewilligung die Stellung des rechtswidrig Begünstigten gestärkt wird (BSG aaO). Denn die Rücknahmebescheide sind bereits binnen eines Jahres nach Erlaß der Bewilligungsbescheide ergangen.

ee) Mithin gilt, daß bei Verwaltungsakten, mit denen Dauerleistungen bewilligt worden sind, das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes in der Regel höher einzuschätzen ist als bei Gewährung einmaliger Leistungen und es mit den anerkannten Grundsätzen einer sparsamen Haushaltsführung nicht zu vereinbaren ist, gesetzeswidrig Versorgungsleistungen zu erbringen (BSG aaO mwN). Da zugunsten der Kläger allenfalls spricht, daß die Rechtswidrigkeit der zurückgenommenen Bescheide allein in den Verantwortungsbereich des Beklagten fällt (vgl. aber oben), überwiegt das öffentliche Interesse an der Herstellung eines rechtmäßigen Zustandes.

e) Ist Vertrauensschutz sonach zu versagen, ist in einem zweiten Schritt grundsätzlich eine Ermessensprüfung durchzuführen. Ob der floskelhafte Satz in den angefochtenen Bescheiden, eine Rücknahme sei geboten, da keine Gründe ersichtlich sind, eine andere Regelung als gerechtfertigt erscheinen zu lassen, eine zureichende Ermessensausübung und -begründung darstellt, mag zweifelhaft sein. Hierauf kommt es nicht an, weil der Beklagte die Bewilligungen zurücknehmen mußte, mithin im Ergebnis eine gebundene Entscheidung ergangen ist. Da der Senat bei der Interessenabwägung alle in Betracht kommenden Gesichtspunkte geprüft hat, die die Verwaltung auch bei der Ermessenausübung nach § 45 Abs. 1 SGB X zu berücksichtigen hätte und Ausnahmen hiervon (hierzu BSG vom 10.08.1993 - 9 BV 4/93 - in: SozR 1300 § 45 SGB X Nr. 18) nicht ersichtlich sind, ist das Ermessen des Beklagten auf Null reduziert.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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