L 10 V 6/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 13 (19) V 51/92
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 V 6/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 19.11.1997 abgeändert. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.03.1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.07.1992 verurteilt, die Bescheide vom 10.02.1954 und 26.04.1954 zurückzunehmen und dem Kläger unter Anerkennung einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung ab Januar 1986 Versorgung nach einer MdE um 40 v.H. zu gewähren. Der Beklagte trägt 3/4 der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1923 geborene Kläger absolvierte nach Besuch der Volksschule (1929 - 1937) im Betrieb seines Vaters eine Tischlerlehre (1937 - 1940) und war dort anschließend bis zu seiner Einziehung zum Reichsarbeitsdienst (RAD) im August 1941 als Geselle tätig. Aus dem RAD wurde er im Mai 1942 entlassen; sein wegen einer Arbeitsdienstbeschädigung (Belastungsbeschwerden in den Beinen bzw. Folgen einer Venenentzündung) gestellter Antrag auf Fürsorge und Versorgung blieb ohne Erfolg (Bescheide vom 12.10. und 02.12.1942). Am 01.04.1943 wurde der Kläger zur Wehrmacht eingezogen; im April 1945 geriet er in russische Gefangenschaft, aus der er am 22.12.1947 entlassen wurde. Wegen des auf den militärischen Dienst zurückzuführenden Gesundheitsschadens "Dystrophie" gewährte ihm die Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen Heilbehandlung (Bescheid vom 23.03.1948).

1952 beantragte der Kläger Versorgung nach dem BVG mit der von seinem Hausarzt Dr. R ... gestützten Begründung, dass ein 1952 festgestellter Diabetes mellitus auf die kriegsbedingte Dystrophie zurückzuführen sei. Nach Einholung eines Gutachtens lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 10.02.1954 und Widerspruchsbescheid vom 26.04.1954 mit der Begründung ab, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Zuckerkrankheit und dem Wehrdienst oder der Gefangenschaft bestehe. Auch im nachfolgenden Rechtsstreit hatte der Kläger mit seinem Begehren keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts (SG) Detmold vom 25.02.1957, II. KB 2979/54).

Im Januar 1990 beantragte er insbesondere unter Hinweis auf seine Belastungen während der Kriegsgefangenschaft erneut Versorgung. Der Beklagte lehnte den Antrag mit auf § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gestütztem Bescheid vom 20.03.1990 und Widerspruchsbescheid vom 28.07.1992 mit der Begründung ab, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten der insulinpflichtigen Zuckerstoffwechselstörung und den besonderen Einflüssen, insbesondere während der Kriegsgefangenschaft, nicht wahrscheinlich sei.

Mit seiner Klage vom 01.09.1992 hat der Kläger vorgetragen, seit seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft habe er keinen Tritt mehr gefasst. Er habe seinen Beruf nicht mehr ausüben können und nur sporadisch im elterlichen Betrieb mitgearbeitet. Sein Hausarzt Dr. R ... habe schon in dem Rentenverfahren vor dem SG Detmold - S 7(16) J 32/91 - bestätigt, dass er nach dem Kriege unter schubweise auftretenden fieberhaften Erkrankungen und Phobien gelitten habe und psychisch sehr alterniert gewesen sei. Die Erlebnisse im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft hätten ihn nicht nur physisch sondern auch psychisch zerstört. Noch heute drehe sich sein ganzes Denken um die damaligen Ereignisse. Von den Kriegsereignissen werde er noch immer so geplagt, dass er dauernd den Verwandten davon erzähle. Er werde mitten in der Nacht wach, weil er Alpträume habe. Während der Gefangenschaft seien sie ständig geschlagen worden und hätten Nichts zu essen und zu trinken bekommen. Das ganze erste Jahr habe er auch im Winter bei -40° draußen stehen bleiben müssen. Die Gefangenen hätten sich dann immer zu größeren Gruppen zusammengestellt; die in der Mitte seien einigermaßen warm geworden, während die am äußeren Rand an der Kälte gestorben seien. Das ganze Lager habe ca. 3.000 Insassen gehabt und sei praktisch jedes Jahr neu aufgefüllt worden, weil fast alle starben. Mit anderen habe er die Leichen dann selbst zur Abraumhalde bringen und dort mit Schlacke bedecken müssen. Er habe Probleme mit dem Gehen und deshalb besondere Angst gehabt, dass es ihn im Lager auch erwischen würde. Kameraden hätten ihn über längere Zeit immer mit ins Bergwerk getragen, um zu verhindern, dass er totgeschlagen werde. Den Krieg habe er nur überlebt, weil er Sanitätssoldat gewesen sei. Als solcher habe er sehr viele Tote gesehen. Er habe als Sanitätssoldat an Hinrichtungen teilnehmen müssen; er habe die Delinquenten betreut. Viele hätten vor der Erschießung noch die Namen und Anschriften von Verwandten gesagt und um deren Benachrichtigung gebeten. Dies sei jedoch nicht möglich gewesen, weil er Nichts habe aufschreiben dürfen. Dies habe ihn sehr belastet. Die durch die Extrembelastung bedingte Persönlichkeitsveränderung sei nicht erkannt worden. Die psychische Seite sei wegen seiner einseitigen Festlegung, dass die Zuckerkrankheit für seine Probleme verantwortlich sei, nie richtig aufgeklärt worden.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 20.03.1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.07.1992 zu verurteilen, unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 10.02.1954 als Schädigungsfolge einen "Persönlichkeitswandel durch Extrembelastung" anzuerkennen und Versorgungsleistungen nach einer MdE um 60 gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat die Auffassung vertreten, dass die vorhandene Persönlichkeitsstörung nicht auf den Kriegsdienst zurückgeführt werden könne. Von Bedeutung sei insoweit, dass psychische Probleme während der Untersuchungen nach dem Krieg nicht festgestellt worden seien; es habe auch keine nervenärztliche Behandlung stattgefunden. Die spätere Leistungsbeeinträchtigung des Klägers sei im Wesentlichen auf den Diabetes mellitus zurückzuführen. Es bestünden auch keine typischerweise für einen Persönlichkeitswandel sprechenden Auffälligkeiten. Eine Angstsymptomatik, ein depressives Syndrom oder eine Psychose seien nicht festzustellen.

Das SG Detmold hat ein internistisches Gutachten von Dr. B ..., Medizinische Klinik der Städtische Krankenanstalten B ...- M ..., und ein Gutachten von dem Neurologen und Psychiater Dr. R ... eingeholt. Dr. B ... hat in seinem Gutachten vom 04.03.1996 ausgeführt, dass der bestehende Diabetes mellitus nicht auf den Wehrdienst oder die Kriegsgefangenschaft des Klägers zurückzuführen sei. Dr. R ... (Gutachten vom 09.12.1995, ergänzende Stellungnahme vom 27.09.1996, Aussage vom 19.11.1997) hat unter Berücksichtigung der Aussage des als sachverständigen Zeugen vernommenen Dr. R ... einen Persönlichkeitswandel durch Extrembelastung mit einer MdE von 60 v.H. als Schädigungsfolge gewertet. Der Kläger sei während der Wehrmachtszeit und der Kriegsgefangenschaft tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifenden und andauernden Belastungen ausgesetzt gewesen, die zu dem Persönlichkeitswandel mit erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten geführt hätten. Selbst wenn bereits vor dem Krieg eine dann allerdings gering ausgeprägte Persönlichkeitsstörung vorgelegen haben sollte, sei diese durch die kriegsbedingte Extrembelastung richtunggebend verschlimmert worden.

Das SG hat den Beklagten mit Urteil vom 19.11.1997 antragsgemäß verurteilt.

Gegen das am 09.01.1998 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Beklagten vom 06.02.1998, die er im Wesentlichen damit begründet, dass die bei dem Kläger bestehenden Einschränkungen auf die Zuckererkrankung zurückzuführen seien. Hinsichtlich der psychischen Verfassung sei im Laufe der Zeit - ähnlich wie bei den anderen Heimkehrern aus der Kriegsgefangenschaft - eine Besserung eingetreten. Die Zeugenaussagen, insbesondere die des Dr. R ..., seien widersprüchlich; früher habe dieser Arzt den Diabetes mellitus eindeutig in den Vordergrund gestellt. Insbesondere sei nicht nachvollziehbar, dass der Kläger wesentlich leistungsgemindert gewesen sei; so habe er später noch als Tierpräparator gearbeitet, insbesondere aber auch in der Betreuung von Pflegekindern. Es fehle fast jegliche nach der ICD (international classification of deseases) 10 bzw. dem DSM (diagnostic and statistical manual of mental disorders) IV zu fordernde Symptomatik.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Detmold abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückweisen, soweit dieser die Abweisung einer auf eine MdE von 40 v.H. gerichteten Klage begehrt.

Er hat darauf hingewiesen, dass in dem Rechtsstreit ausschließlich der psychische/psychiatrische Teil der bei ihm vorliegenden Schädigungsfolgen, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung bzw. ein Persönlichkeitswandel, geltend gemacht werde.

Es wurden die Zeugen G ... A ..., H ... A ..., H ... H ..., P ... K ..., C ... P ...-C ..., H ... P ..., I ... P ..., M ... P ..., Dr. K ... R ... und C ... S ... vernommen und ein Gutachten nebst er gänzenden Stellungnahmen (25.02.1999; 23.07.1999, 16.02.2000) von Prof. Dr. F ..., Leiter der Sektion Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinik T ..., eingeholt. Dieser hat eine posttraumatische Belastungsstörung mit einer MdE von 40 v.H. als Schädigungsfolge beschrieben; sowohl die nach der ICD 10 als auch dem DSM IV geforderten Kriterien seien erfüllt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten, die Verwaltungsvorgänge des Beklagten, die Akten des SG Detmold (Aktenzeichen S 7(16) J 32/91) sowie die Rentenakten der LVA Westfalen (Versicherungsnummer ...) Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand mündlicher Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Beklagten ist nur zum Teil begründet. Der Kläger hat wegen der Schädigungsfolgen "posttraumatische Belastungsstörung" - entsprechend seinem dem Beweisergebnis angepassten Klageantrag - lediglich Anspruch auf Versorgung nach einer MdE von 40 v.H.

Nach § 44 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt; denn der Kläger hatte von Anfang an Anspruch auf Anerkennung einer posttraumatischen Belastungsstörung und daraus folgend auf Versorgungsrente; der Bescheid vom 10.02.1954 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26.04.1954 war unrichtig.

Nach § 1 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erhält derjenige wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schädigung Versorgung, der diese Schädigung durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse erlitten hat. Einer Schädigung in diesem Sinne stehen Schädigungen gleich, die durch eine Kriegsgefangenschaft herbeigeführt worden sind (§ 1 Abs. 2 Buchst. b) BVG). Der Versorgungsanspruch setzt voraus, dass durch schädigende Einwirkungen eine gesundheitliche (Primär-) Schädigung eingetreten ist und dass Gesundheitsstörungen vorliegen, die als Folgen dieser Schädigung zu beurteilen sind. Militärische Dienstverrichtung bzw. Kriegsgefangenschaft, schädigende Einwirkungen, (Primär-) Schädigung und Schädigungsfolgen müssen mit an Sicherheit grenzender, ernste vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit erwiesen sein (vgl. BSG SozR 3850 § 51 Nr. 9). Für den Nachweis des ursächlichen Zusammenhanges zwischen (Primär-) Schädigung und Schädigungsfolgen genügt nach § l Abs. 3 Satz 1 BVG Wahrscheinlichkeit.

Der Kläger war sowohl während seines Wehrdienstes als auch während seiner Kriegsgefangenschaft erheblichen psychischen Belastungen ausgesetzt. Der Senat folgt den dazu von dem Kläger gemachten - im Tatbestand im Einzelnen aufgeführten und auch von dem Beklagten nicht in Zweifel gezogenen - Angaben; diese sind widerspruchsfrei und nach den Umständen des Falles in vollem Umfang glaubhaft (vgl. auch § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung); die Angaben über die Verhältnisse während der Kriegsgefangenschaft werden zudem von dem Zeugen Sch., der mit dem Kläger zusammen in Kriegsgefangenschaft war, bestätigt.

Auf diese psychischen Belastungen ist die bei dem Kläger bestehende posttraumatische Belastungsstörung ursächlich zurückzuführen. Dies ergibt sich aus der schlüssigen und überzeugenden Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. F ..., die nicht nur - wie auch die Stellungnahmen des Beklagten - auf einer umfangreichen Aktenanalyse sondern zusätzlich auch entsprechend den Forderungen der Sektion "Versorgungsmedizin" des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (ÄSVB) vom 12./13.11.1997 zu Punkt 1.1 - Post traumatische Belastungsstörung - Klinik und Begutachtung - auf einer sorgfältigen psychiatrischen Untersuchung des Klägers beruht.

Bei dem Kläger bestehen durchgehend seit seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft von den vernommenen Zeugen bestätigte Auffälligkeiten wie z.B. nächtliche Alpträume, tagsüber auftretende, heftig emotional gefärbte Erinnerungen, vegetative Erregbarkeit und eine kontinuierliche, heftig emotional getönte Befassung mit dem Thema Krieg u.ä. Die Angaben der Zeugen stimmen zwar - worauf der Beklagte zu Recht hinweist - in Teilbereichen nicht immer vollständig überein. Dies kann aber bereits im Hinblick darauf, dass die Zeugen rückblickend teilweise über einen Zeitraum von weit über 40 Jahren berichten mussten, auch nicht gefordert werden, zumal schon aufgrund der unterschiedlichen Intensität der Beziehung der Zeugen zu dem Kläger auch unterschiedliche Kenntnis über dessen psychische Befindlichkeiten zu erwarten ist. Gerade deshalb würde eine vollständige Übereinstimmung der Zeugenaussagen eher Zweifel an deren Glaubhaftigkeit begründen, während solche Zweifel vorliegend tatsächlich eben nicht bestehen und auch von dem Beklagten nicht substantiiert vorgetragen worden sind. Dementsprechend beschreiben die Ehefrau des Klägers I ... P ... und dessen Tochter C ... P ...-C ... die bei dem Kläger vorhandenen Auffälligkeiten besonders intensiv während z.B. der ehemalige Schulkamerad des Klägers G ... A ..., der nach dem Krieg in keinem engen Kontakt zu dem Kläger stand, auch keine psychischen Auffälligkeiten anzugeben vermochte und das ihm gegenüber gezeigte Verhalten des Klägers als normal bewertete. Von hervorgehobener Bedeutung und die Angaben der nächsten Angehörigen des Klägers bestätigend sind die Aussagen des Arztes Dr. R ..., der den Kläger von Jugendzeit an kannte und ihn nach dem Krieg zunächst zusammen mit seinem Vater und anschließend allein behandelt hat. Im Gegensatz zu allen anderen Zeugen verfügt Dr. R ... als Allgemeinmediziner über eine medizinische Ausbildung und ist deshalb zu einer sachkundigen Beschreibung der von ihm bei dem Kläger seit dessen Rückkehr aus der Gefangenschaft festgestellten Symptome in der Lage. Von der Richtigkeit seiner Angaben, der Kläger sei als gebrochener Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, er sei seitdem depressiv gestimmt, weinerlich, introvertiert, vollkommen eingekapselt, frustriert und von Angstzuständen beeinträchtigt, ist der Senat ebenso überzeugt wie von der Richtigkeit der anderen Zeugenaussagen. Die Angaben des Dr. R ... sind auch nicht in sich widersprüchlich. Dr. R ... hat zwar in seinen in dem Verwaltungsverfahren nach dem Schwerbehindertengesetz abgegebenen Befundberichten vom 28.11.1979 und 03.04.1981, wie auch der Beklagte vorträgt, lediglich physische Beeinträchtigungen geschildert. Er hat aber bereits 1984, also Jahre vor dem hier streitigen Versorgungsantrag des Klägers, über dessen Depressionen berichtet und schon in dem Rentenverfahren S 16 J 32/91 auf eine psychische Alteration des Klägers und dessen Phobien hingewiesen. Ergänzend hat er nachvollziehbar dargelegt, dass in den Nachkriegsjahren Fragen der Psyche bzw. Psychotherapie keine große Rolle und auch von ihm als Allgemeinmediziner mit chirurgischer Ausbildung psychischen Komponenten zunächst - im Gegensatz zu späteren Zeiten - nur sekundäre Bedeutung zugemessen wurde.

Der Sachverständige Prof. Dr. F ... hat die von dem Kläger gezeigten Auffälligkeiten zutreffend als Symptome einer auf die Erlebnisse während Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft zurückzuführenden Belastungsstörung gewertet. Seine Beurteilung stimmt sowohl mit den Vorgaben der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), denen im Interesse einer objektiven und objektivierbaren Bewertung und einer am Gleichheitsgebot orientierten Gleichbehandlung normähnliche Wirkung beizumessen ist (vgl. BSGE 72, 285, 286 = SozR 3-3870 § 4 Nr. 6; BSGE 75, 176, 177 f = SozR 3-3870 § 3 Nr. 5, bestätigt durch Beschluss des BVerfG vom 06.03.1995, SozR 3-3870 § 3 Nr. 6; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 19), als auch den die AHP ergänzenden Ausführungen des ÄSVB vom 12./13.11.1997 zu Punkt 1.1, ergänzt durch die ICD 10 und das DSM IV, überein.

Nach Nr. 71 AHP kommen durch psychische Traumen bedingte Störungen nach langandauernden psychischen Belastungen (z.B. in Kriegsgefangenschaft) in Betracht, sofern die Belastungen ausgeprägt und mit Erleben von Angst und Ausgeliefertsein verbunden waren. Die Störungen können nach ihrer Art, Ausprägung, Auswirkung und Dauer verschieden sein; sie können kurzfristig, von einer Dauer von ein bis zu zwei Jahren oder auch anhaltend sein. Anhaltend kann sich eine Chronifizierung der Störungen mit Misstrauen, Rückzug, Motivationsverlust, Gefühl der Leere und Entfremdung ergeben. Diese nach den AHP für die Diagnose einer chronifizierten Belastungsstörung erforderlichen Voraussetzungen werden von den ICD 10 und DSM IV bzw. dem ÄSVB vom 12./13.11.1997 zu Punkt 1.1 nicht nur ebenfalls gefordert, sondern noch weiter spezifiziert. Auch die dort aufgeführten Voraussetzungen, dass A. die betroffene Person Opfer oder Zeuge eines Ereignisses war, bei dem das eigene Leben oder das anderer Personen bedroht war oder eine ernste Verletzung zur Folge hatte oder eine Bedrohung für die eigene physische Unversehrtheit oder für die anderer Personen darstellte, und dass die Reaktion des/der Betroffenen Gefühle von intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen beinhaltete, B. ein ständiges Wiedererleben des traumatischen Erlebnisses auf mindestens einer der im DSM IV genannten Arten geschildert wird, C. eine anhaltende Vermeidung von Stimuli, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, oder eine Einschränkung der allgemeinen Reagibilität, die vor dem Trauma nicht vorhanden war, in mindestens drei der im DSM IV genannten Merkmale zum Ausdruck kommt, D. anhaltende Symptome eines erhöhten Erregungsniveaus vorliegen, die vor dem Trauma nicht vorhanden waren und die durch mindestens zwei der im DSM IV genannten Merkmale gekennzeichnet sind, sind erfüllt.

zu A:

Der Kläger hat während des Wehrdienstes bzw. der Gefangenschaft nicht nur ein schwerwiegendes Ereignis erlebt; er war vielmehr Opfer gleich vieler gravierender, anhaltender schädigender Einwirkungen. Er hat Ereignisse erlebt bzw. war mit Erlebnissen konfrontiert, die den drohenden und auch den tatsächlichen Tod, ernsthafte Verletzungen, Gefahren der körperlichen Unversehrtheit sowohl der eigenen als auch anderer Personen beinhaltet haben. Seine Reaktion darauf bestand in intensiver Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen.

zu B:

Die traumatischen Ereignisse werden von dem Kläger auf nicht nur eine Art der im DSM genannten Arten, sondern sogar auf zwei Arten ständig wiedererlebt, nämlich zum Einen durch widerkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an die Ereignisse und zum Anderen durch themenbezogene Alpträume.

zu C:

Nach der Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. F ... liegen mindestens drei der im DSM IV genannten Merkmale vor, nämlich (1.) ein bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, (2.) ein bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen, sowie (3.) eine eingeschränkte Bandbreite des Affekts.

Entgegen der Auffassung des Beklagten kann demgegenüber aus dem Umstand, dass der Kläger wiederholt Kriegsereignisse schildert, nicht geschlossen werden, dass kein Vermeidungsverhalten vorliegt. Gerade wiederkehrende und eindringliche Erinnerungen sind Voraussetzung nach Punkt B und können schon begrifflich deshalb nicht als Ausschlusskriterium bei Punkt C gewertet werden. Gefordert wird auch vielmehr ein Vermeidungsverhalten gegenüber den Reizen - so auch die von dem Beklagten vorgelegte Ausarbeitung "Posttraumatische Belastungsstörung", S. 488, - bzw. gegen über äußeren Anlässen - so Prof. Dr. F ... -, die mit dem Trauma in Verbindung stehen. Der Sachverständige geht dementsprechend zutreffend von einem Vermeidungsverhalten aus. Dies wird u.a. durch die glaubhaften Äußerungen des Klägers "Er hasse alles, was mit Krieg zu tun habe, könne auch keine Gewehre sehen, auch nicht, wenn es Holzgewehre von Kindern seien.", "Kriegsszenen ... könne er nicht ansehen, fühle sich elend.", "Mit dem Schützenverein, der überwiegend mit Waffen zu tun hat, wollte ich nach dem Krieg und will ich auch heute nichts zu tun haben." oder "Nach dem Krieg konnte ich wegen meiner Erlebnisse während des Krieges und der Gefangenschaft nicht mehr in die Kirche gehen. Ich war schon vorher mit dem Verhalten der Kirche während des Krieges nicht einverstanden." belegt.

Zudem sprechen die Aussagen der Zeugen auch dafür, dass als zusätzliches viertes Merkmal i.S.d. der DSM IV bei dem Kläger ein deutlich vermindertes Interesse bzw. eine verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten besteht. Insbesondere nach den Aussagen der Ehefrau und der Tochter des Klägers, aber auch nach der des Dr. R ... hat sich der Kläger seit seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft eingekapselt und lediglich an den Hobbys Garten und Basteln - darunter fällt auch die von dem Beklagten angeführte Tätigkeit als Tierpräparator - Interesse gezeigt, während er ansonsten keine nennenswerten, insbesondere keine wesentlichen beruflichen Aktivitäten entfaltet hat, wofür letztlich auch die Höhe seines Altersruhegeldes von 216,12 DM (Dezember 1992) spricht. Auch bei der Betreuung der von seiner Familie aufgenommenen Pflegekinder hat der Kläger nur in geringem Umfang mitgewirkt (Aussagen der Ehefrau und der Tochter des Klägers).

zu D.

Als nicht vor dem Trauma vorhandene anhaltende Symptome erhöhten Arousals bzw. Erregungsniveaus liegen bei dem Kläger nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. F ... zumindest Übererregbarkeit, Konzentrationsstörungen und Durchschlafstörungen vor.

Auch die weiteren Voraussetzungen, dass das Störungsbild länger als 1 Monat vorliegt (Punkt E) und dass das Störungsbild in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen verursacht (Punkt F), sind erfüllt.

Der von dem Beklagten als Ursache für die Beeinträchtigungen des Klägers angeführte Diabetes mellitus kann nicht nur aufgrund der Ausführungen des Prof. Dr. F ... sondern auch im übrigen ganz offensichtlich nicht in ursächlichen Zusammenhang mit den o.a. Symptomen - insbesondere emotional gefärbte Kriegserinnerungen, entsprechende Befassung mit dem Thema Krieg oder von diesem Thema geprägte Alpträume - gebracht werden. Gleichermaßen kann der erst in den letzten Jahren aufgetretene dementielle Abbau nicht Ursache für die schon seit 1947/48 bestehenden Auffälligkeiten sein. Ebenso besteht kein einziger Anhaltspunkt dafür, dass bei dem Kläger schon vor seinem Wehrdienst eine psychischen Erkrankung bestand.

Die durch die in ihren Auswirkungen unverändert bestehende Belastungsstörung hervorgerufene MdE ist seit Januar 1986 (§ 44 Abs. 4 SGB X) in Übereinstimmung mit Prof. Dr. F ... mit 40 v.H. zu bemessen. Bei dem Kläger liegen stärker behindernde Folgen psychischer Traumen vor, die zu einer wesentlichen Einschränkung der Lebens- und Gestaltungsfähigkeit geführt haben und mit den AHP Nr. 26.3 sowohl nach der Ausgabe 1996 (S. 60) als auch der Ausgabe 1983 (S. 48) eine MdE von 40 bedingen. Dr. R ... ist zwar sogar von auf einer Persönlichkeitsveränderung beruhenden erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die eine höhere MdE bedingen, ausgegangen; der Sachverständige Prof. Dr. F ... hat dafür aber keine Anhaltspunkte gesehen, zumal das psychische Krankheitsbild zwischenzeitlich auch von der schädigungsunabhängigen dementiellen Entwicklung beeinflusst wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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