L 1 KR 31/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 88 KR 1431/02
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 31/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Versorgung mit einem (weiteren) Aktivrollstuhl als Hilfsmittel zu Lasten der Krankenkasse.

Der im Jahre 1954 geborene Kläger ist Mitglied der Beklagten. Er ist querschnittsgelähmt und von der Beklagten in der Vergangenheit bis zum Jahre 2002 zum Ausgleich seiner Behinderung mit zwei Aktivrollstühlen sowie einem Hand-Bike versorgt worden. Zuletzt ist er mit einem Aktivrollstuhl Sopur Modell Argon versorgt worden, nachdem der im Jahre 2000 bewilligte Rollstuhl für ihn nicht mehr geeignet war (Antrag vom 15. März 2005, Bewilligungsbescheid vom 25. Mai 2005).

Am 16. April 2002 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage einer Verordnung der Fachärztin für Innere Medizin M und einem Kostenvoranschlag des Hilfsmittellieferanten Rdie Kostenübernahme für einen Aktivrollstuhl mit Starrahmen Modell Sopur Allround 615 nebst Zurüstungen über 2602,68 Euro. Den Starrahmen-Rollstuhl, mit dem er seit dem 18. April 1998 versorgt sei, könne er nicht mehr nutzen, da der Rollstuhl zu schmal geworden sei. Es bestehe die Gefahr, dass er Druckstellen im Bereich der Oberschenkel bekomme. Derzeit nutze er ausschließlich den Aktivrollstuhl (Modell "Sopur Allround"), der im Jahre 2000 als Zweitversorgung bewilligt worden sei. Die Beklagte teilte dem Kläger zunächst mit, er habe zwar grundsätzlich Anspruch auf zwei Rollstühle jeweils für den Innen- und Außenbereich, jedoch nicht Anspruch auf zwei typengleiche Rollstühle. Auf den ergänzenden Vortrag des Klägers lehnte sie den Antrag mit Bescheid vom 15. Mai 2002 ab. Die Notwendigkeit eines zweiten Rollstuhls aufgrund seiner Erkrankung sei nicht erkennbar. Aus hygienischen Gründen sei der Rollstuhl nicht erforderlich, da Rollstühle mit entsprechenden Bezügen ausgestattet werden könnten. Im Falle einer Reparatur reiche ein Leihrollstuhl aus. Sofern eine außerordentliche Nutzung zwei Rollstühle erforderlich mache, sei es lediglich möglich einen Aktivrollstuhl und einen Leichtgewichtsrollstuhl/Standardrollstuhl zur Verfügung zu stellen. Die erkrankungsbedingte Notwendigkeit eines zweiten Aktivrollstuhls müsse durch den behandelnden Arzt begründet werden. Mit seinem Widerspruch hiergegen machte der Kläger geltend, es ginge ihm nicht um die Versorgung mit einem bestimmten Modell. Er könne jedoch aufgrund der erheblichen Streck- und Beugespastiken in den Beinen sinnvoll nur mit einem Starrahmenrollstuhl versorgt werden, einverstanden sei er auch mit der Versorgung durch den Aktivrollstuhl Modell "Starlight" der Firma Sopur, das mit Zusatzausstattung 2098 Euro koste. Er legte eine weitere Verordnung der Ärztin Dr. M über diesen Starrahmenrollstuhl vor. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2002).

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die hiergegen gerichtete Klage mit Urteil vom 4. April 2003 abgewiesen. Ein Anspruch auf Gewährung eines Zweit-Rollstuhls bestehe nicht. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich die Kammer anschließe, sei die "Erforderlichkeit" der Versorgung mit einem Hilfsmittel im Sinne des § 33 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) dann zu bejahen, wenn der Einsatz des Hilfsmittels zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt werde. Zu diesen Grundbedürfnissen gehörten neben den körperlichen Grundfunktionen auch das selbständige Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes. Die Grundbedürfnisse eines Erwachsenen, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen sowie die Wohnung zur Bewältigung von Wegstrecken, die üblicherweise der Erledigung von Alltagsgeschäften im Nahbereich der Wohnung dienten, verlassen zu können, könnten im Fall des Klägers aber allein mit dem ihm noch verbliebenen, im Jahr 2000 zur Verfügung gestellten Aktivrollstuhl befriedigt werden. Die vom Kläger vorgetragenen hygienischen Gründe bei der Nutzung nur eines Rollstuhls im Innen- und Außenbereich halte die Kammer zwar für nachvollziehbar und plausibel, innerhalb der Grenzen des § 33 SGB V komme es hierauf aber nicht an.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Wie bereits im Widerspruchs- und Klageverfahren begründet er die Notwendigkeit einer Zweitversorgung damit, dass die bei ihm vorliegende Lähmung eine komplette Blasen- und Mastdarmlähmung umfasse. Trotz entsprechender Vorkehrungen (Windeln und Katheder), auf die ihn die Beklagte im Widerspruchs- und Klageverfahren verwiesen habe, könnten Verschmutzungen bisweilen nicht verhindert werden. Er sei berufstätig und sportlich aktiv und verlasse deshalb jeden Tag das Haus. Der Rollstuhl werde – vor allem im Winterhalbjahr - stark in Anspruch genommen; zudem verschmutze er die Wohnung, wenn er den Rollstuhl sowohl im Innen- als auch im Außenbereich nutzen müsse. Soweit die Beklagte offenbar im Regelfall bei kompletter Querschnittslähmung einen Faltrollstuhl, der für den Innenbereich geeigneter sei als ein Aktivrollstuhl mit Starrahmen, und einen Aktivrollstuhl für den Außenbereich zur Versorgung mit Hilfsmitteln gewähre, müsse dies auch für ihn gelten. Da er allerdings aufgrund der erheblichen Streckspasmen in den Beinen einen Faltrollstuhl nicht nutzen könne, habe er Anspruch auf einen zweiten Aktivrollstuhl.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. April 2003 und den Bescheid vom 15. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit einem weiteren Aktivrollstuhl zu versorgen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Dem Gericht haben die Gerichtsakten des Sozialgerichts Berlin (Az.: S 88 KR 1431/02) sowie die den Rechtsstreit betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Akten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Zutreffend hat das SG entschieden, dass die Beklagte nicht verpflichtet ist, den Kläger mit einem zweiten Aktivrollstuhl zu versorgen. Die ablehnenden Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.

Nach § 33 SGB V haben Versicherte einen Anspruch gegen ihre Krankenkasse ua auf Versorgung mit orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V durch Rechtsverordnung ausgeschlossen sind. Hier geht es um ein "anderes Hilfsmittel", das erforderlich ist, um eine Behinderung auszugleichen. Der streitige Aktivrollstuhl ist weder ein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, noch ist er durch Rechtsverordnung als Hilfsmittel ausgeschlossen; im Hilfsmittelverzeichnis der Spitzenverbände der Krankenkassen gemäß § 128 SGB V ist sowohl der zunächst beantragte Aktivrollstuhl Sopur Allround 615 als auch der im Laufe des Widerspruchsverfahrens alternativ beantragte Aktivrollstuhl Sopur Starlight in der Produktgruppe 18 (Krankenfahrzeuge) Untergruppe 03 (Aktivrollstühle) ausdrücklich aufgeführt. Er ist jedoch – bezogen auf die konkreten Gegebenheiten des Einzelfalles - nicht erforderlich, um eine Behinderung auszugleichen. Die Versorgung mit nur einem Aktivrollstuhl, die während des gesamten Verfahrens gewährleistet war, ist ausreichend im Sinne des § 33 SGB V.

Nach der Rechtsprechung des BSG, auf die bereits das SG Bezug genommen hat und der sich auch der erkennende Senat anschließt, ist Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst weit gehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktion einschließlich der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die Anforderungen des Alltags meistern zu können. Eine darüber hinausgehende berufliche oder soziale Rehabilitation bleibt Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung daher nur dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung (vgl BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 31 - Rollstuhl-Bike – SozR 3-2500 § 33 Nr. 32 - Therapie-Tandem; SozR 3-2500 § 33 Nr. 46 - Dreirad -) gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums.

Das hier in Betracht kommende Grundbedürfnis des "Erschließens eines gewissen körperlichen Freiraums" hat die Rechtsprechung nur im Sinne eines Basisausgleichs der Behinderung selbst verstanden. Zwar ist die Bewegungsfreiheit als Grundbedürfnis in der Rechtsprechung anerkannt, es wird dabei aber nur auf diejenigen Entfernungen abgestellt, die ein Gesunder zu Fuß zurücklegt (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 7), was das BSG in einer späteren Entscheidung auf die Fähigkeit präzisiert hat, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 31). Für die Versorgung Erwachsener hat das BSG an dieser Auslegung des Begriffs der Erforderlichkeit eines Hilfsmittels auch nach Inkrafttreten des Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) festgehalten und klargestellt, dass, soweit es um die Versorgung im Hinblick auf einen größeren Radius geht, zusätzliche qualitative Momente zu verlangen sind (BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 3).

Vorliegend sind keine Gründe erkennbar, die die Versorgung mit einem weiteren Rollstuhl, der ausschließlich im Außenbereich benutzt werden kann, zu Lasten der Krankenversicherung verlangen. Zwar hat der Kläger dargelegt, aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit und seiner vielfältigen sportlichen Aktivitäten den Rollstuhl sehr stark in Anspruch zu nehmen. Damit ist nachvollziehbar, dass er ein besonderes Bedürfnis hat, den im Außenbereich genutzten Rollstuhl nicht auch in der Wohnung nutzen zu müssen. Der Kläger übersieht jedoch, dass diese Aktivitäten gerade nicht (mehr) zur Erfüllung der genannten Grundbedürfnisse gehören, sondern darüber hinausgehen. Die Förderung und Unterstützung seiner Integration über den vom BSG beschriebenen Bereich hinaus durch die Versorgung mit Hilfsmitteln ist aber nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung. Soweit er hygienische Gründe geltend macht und vorträgt, es komme bisweilen zu Verschmutzungen des Rollstuhls mit Ausscheidungen, ist ebenfalls nicht dargetan, dass der zweite Rollstuhl notwendig zur Versorgung mit Hilfsmitteln ist. Insbesondere aus der im Laufe des Widerspruchsverfahrens eingereichten Verordnung und dem ausgestellten ärztlichen Attest geht nicht hervor, dass hygienische Gründe aus ärztlicher Sicht zwingend eine Zweitversorgung notwendig machen. Da solche Verschmutzungen auch nach dem Vortrag des Klägers nicht der Regelfall sind, ist es zulässig ihn auf entsprechende Wechselbezüge des Rollstuhls zu verweisen. Die Möglichkeit, den zweiten Rollstuhl in solchen Fällen oder auch bei Reparaturen usw. als Reserve zu nutzen, reicht nicht aus, um die Notwendigkeit im Sinne der Krankenversicherung zu begründen.

Bei alledem kommt es nicht darauf an, dass die Beklagte den Kläger in der Vergangenheit mehrfach mit einem zweiten Rollstuhl versorgt hat. Ein schutzwürdiges Vertrauen in eine bestimmte zukünftige Bewilligungspraxis ist dadurch nicht entstanden. Schließlich hat die Beklagte auch klargestellt, dass sie die übrigen Versicherten mit ähnlicher Behinderung gleich wie den Kläger behandelt. Soweit vor allem im Verwaltungsverfahren der Eindruck entstanden ist, für den Innenbereich würde stets ein Faltrollstuhl bewilligt und der Anspruch des Klägers scheitere nur daran, dass er einen Faltrollstuhl nicht sinnvoll nutzen könne, hat sie an diesem Vortrag nicht festgehalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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