Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 AL 48/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 310/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 23.05.2000 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die teilweise Rücknahme der Bewilligung und die Rückforderung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 21.02.1996 bis 20.02.1997.
Die am 1940 geborene Klägerin war bis 30.06.1993 bei der Fa. F. 18,5 Wochenstunden in der Montage beschäftigt und bezog zuletzt ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 1.616,14 DM. Danach erhielt sie Arbeitslosengeld (Alg) bis 20.02.1996 nach einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 400,00 DM und einem wöchentlichen Leistungssatz von 124,80 DM.
Auf Antrag wurde ihr mit Bescheid vom 29.02.1996 Anschluss-Alhi ab 21.02.1996 nach einem wöchentlichen Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von zunächst 1.590,00 DM mit einem wöchentlichen Leistungssatz von zunächst 262,20 DM gewährt. Mit Schreiben vom 27.02.1996 zur Erläuterung dieses Bescheides teilte die Beklagte ihr mit, wegen der gesundheitlichen Leistungseinschränkungen sei das wöchentliche Arbeitsentgelt bei einer Arbeitszeit von 18,5 Wochenstunden auf gerundet 370 DM - ausgehend von einem tariflich erzielbaren monatlichen Arbeitsentgelt in Höhe von 1.588,92 DM - festzusetzen.
Aufgrund eines Fortzahlungsantrages vom 28.01.1997 bemerkte die Beklagte das im Bescheid vom 29.02.1996 zu hoch festgesetzte wöchentliche Arbeitsentgelt und hörte deshalb die Klägerin zu einer beabsichtigten Rücknahme und Rückforderung der überzahlten Leistungen mit Schreiben vom 20.02.1997 an.
Ab 21.02.1997 erhielt die Klägerin Alhi lediglich nach einem Bemessungsentgelt von 400 DM in Höhe von 63,00 DM wöchentlich.
Mit Bescheid vom 05.08.1997 nahm die Beklagte die Bewilligung von Alhi aufgrund des Bescheides vom 29.02.1996 teilweise für die Zeit vom 21.02.1996 bis 20.02.1997 zurück. Die Klägerin habe erkennen können, dass ihr die Leistung nicht in der bewilligten Höhe zugestanden habe. Die geleistete Alhi sei höher gewesen als das Alg und auch als das zuletzt bezogene Nettoarbeitsentgelt. Die Beklagte forderte deshalb von der Klägerin zu Unrecht erhaltene Leistungen in Höhe von 6.803,50 DM zurück. Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 05.01.1998); insbesondere nach Erhalt des Schreibens vom 27.02.1996 habe die Klägerin erkennen können, dass das der Leistung zugrunde liegende wöchentliche Arbeitsentgelt zu hoch gewesen sei.
Mit der dagegen zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, aufgrund ihrer Bildung und mangelnder Rechtskenntnisse habe sie auf die Berechnung der Beklagten vertraut, Überzahlungen verbraucht und lebe derzeit in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen.
Mit Urteil vom 23.05.2000 hat das SG den Bescheid vom 05.08.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.01.1998 aufgehoben. Unabhängig davon, ob die Klägerin grob fahrlässig die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides nicht erkannt habe, habe die Beklagte den Bescheid nicht innerhalb der Einjahresfrist gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufgehoben. Diese Frist habe im vorliegenden Fall mit Fertigung des Schreibens vom 29.02.1996 begonnen, bereits damals sei die fehlerhafte Sachbearbeitung für die Beklagte erkennbar gewesen und es haben zu diesem Zeitpunkt alle Erkenntnisse vorgelegen, die zur Rücknahme der rechtswidrigen Bewilligung erforderlich gewesen seien. Einer Anhörung habe es wegen nicht erforderlicher Ermessenserwägungen nicht bedurft.
Dagegen richtet sich die zum Bayer. Landessozialgericht erhobene Berufung der Beklagten. Die Jahresfrist gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X beginne regelmäßig frühestens nach erfolgter Anhörung zu laufen und sei somit bei Erlass des angefochtenen Bescheides noch nicht abgelaufen. Die Klägerin habe einfachste Überlegungen hinsichtlich der Höhe der Leistungen nicht angestellt und damit grob fahrlässig gehandelt.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 23.05.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus, es liege allenfalls leichte Fahrlässigkeit vor, dem Bewilligungsbescheid seien keine Anhaltspunkte zu entnehmen, aus denen mehr oder minder augenfällig auf eine Fehlerhaftigkeit des Bescheides zu schließen wäre. Da die Richtigkeit amtlicher Mitteilungen aber für die Klägerin seit jeher grundsätzlich außer Zweifel stehe, habe sie keine Veranlassung zu einer vergleichenden Prüfung von Bewilligung und aufklärendem Schreiben vom 27.02.1996 gesehen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Sie ist auch begründet. Das SG hat zu Unrecht den Bescheid vom 05.08.1997 idG des Widerspruchsbescheides vom 05.01.1998 aufgehoben. Die Klägerin war bösgläubig iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X und die Rücknahme der Bewilligung erfolgte innerhalb der Einjahresfrist gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X.
Rechtsgrundlage für die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit stellt § 45 Abs 1, 4 SGB X dar.
Die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 29.02.1996 lag vor, denn die Beklagte hatte der Klägerin unstreitig zu hohe Alhi gewährt. Sie ist von einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 1.590,00 DM statt von 370,00 DM (so Schreiben vom 27.02.1996) ausgegangen.
Allerdings eröffnet § 45 Abs 4 SGB X die Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten für die Vergangenheit nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X. Von dessen Tatbeständen kommt vorliegend nur die Nr 3 in Betracht. Hiernach kann ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 Halbs 2 SGB X).
Der Klägerin ist die positive Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides hier nicht nachzuweisen, so dass allein zu prüfen ist, ob ihre Unkenntnis auf grober Fahrlässigkeit beruht. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Das Maß der Fahrlässigkeit ist nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff; vgl zum Ganzen: BayLSG vom 10.12.2001 - L 10 AL 93/99 - veröffentl. in Juris mwN). Nach der Rechtsprechung des BSG können Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung Anhaltspunkt für den Berechtigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen (vgl zum Ganzen: BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 45). Dafür ist aber Voraussetzung, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder aus anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Das setzt zunächst voraus, dass der Leistungsempfänger den Bewilligungsbescheid zur Kenntnis genommen hat. Eine Obliegenheit, Bescheide zu lesen, besteht, auch wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist.
Die Klägerin, die zutreffende Angaben gemacht hat, war zwar nicht gehalten, den Bewilligungsbescheid des Näheren auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen (BSG aaO). Der Antragsteller darf nämlich davon ausgehen, dass die Behörde seine wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umsetzt (BSG aaO; BVerwGE 92, 81, 84). Dies gilt nach der Rechtsprechung des BSG auch, soweit Antragsteller über ihre Rechte und Pflichten durch Merkblätter aufgeklärt werden, weil sonst Begünstigten durch Merkblätter das Risiko für die sachgerechte Berücksichtigung von eindeutigen Tatsachen aufgebürdet würde (BSG aaO).
Allerdings ist dem Leistungsempfänger grobe Fahrlässigkeit dann vorzuwerfen, wenn der Fehler ihm bei seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten aus anderen Gründen geradezu "ins Auge springt" (vgl BSG aaO). So ist es hier. Aufgrund der Angaben im Bescheid vom 29.02.1996 springt es geradezu ins Auge, dass das darin angegebene wöchentliche Bruttoarbeitsentgelt zu hoch war. Der dort angegebene wöchentliche Betrag (zunächst 1590,00 DM), der nahezu dem letzten monatlichen Bruttoarbeitsentgelt entsprach, war beinahe viermal höher als das bisher der Bewilligung von Alg zugrunde gelegte Arbeitsentgelt. Auch der Leistungssatz der Alhi war mehr als doppelt so hoch wie der bisherige Leistungssatz des Alg. Dieses grobe Missverhältnis war offensichtlich. Rechtskenntnisse oder anderweitige besondere Kenntnisse (z.B der Berechnungsvorschriften) der Klägerin waren nicht erforderlich, um diesen Fehler zu erkennen, nachdem der Betrag von 1.590,00 DM als wöchentliches Bruttoarbeitsentgelt bezeichnet wurde. Nicht herangezogen werden kann zur Begründung der groben Fahrlässigkeit hingegen das Schreiben vom 27.02.1996, denn dieses ist der Klägerin erst nach dem Bescheid vom 29.02.1996 bekanntgegeben worden, so dass dann grobe Fahrlässigkeit nicht von Anfang an vorgelegen hätte.
Dafür, dass die persönliche Einsichtsfähigkeit der Klägerin in dieses Missverhältnis eingeschränkt sein könnte, finden sich keine Anhaltspunkte, zumal die Fehlerhaftigkeit beim bloßen Lesen offensichtlich wird; irgendwelche gedankliche oder rechnerische Erwägungen besonderer Art waren zum Erkennen des Missverhältnisses nicht erforderlich. Die Klägerin hat somit grob fahrlässig die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht erkannt.
Gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X muss die Beklagte die Bewilligung innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen aufheben, welche die Aufhebung des wegen wesentlicher Änderung rechtswidrig gewordenen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Für den Beginn der Jahresfrist maßgebliche Kenntnis der Behörde setzt voraus, dass der zuständige Leistungsträger sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig kennt. Das verlangt jedenfalls Kenntnis des rechtserheblichen äußeren Sacherhalts sowie darüber hinaus auch Kenntnis sog. innerer Tatsachen, sofern diese ebenfalls zu den normierten Tatbestandsvoraussetzungen gehören (vgl BSG vom 25.04.2002 - B 11 AL 69/01 R - veröffentl. in Juris). Sowohl der äußere Sachverhalt als auch die inneren Tatsachen waren der Beklagten erst nach Durchführung der Anhörung vom 20.02.1997 bekannt gewesen.
Nach der Rechtsprechung (BSG vom 06.03.1997 - 7 RAr 40/96 - veröffentl. in Juris, im Anschluss an BSGE 77, 295) beginnt die Jahresfrist regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung zu laufen. So ist es hier, denn zur Prüfung des Vorliegens grober Fahrlässigkeit ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit des Betroffenen, also auf Umstände abzustellen, die sich nur in seltenen Fällen anhand objektiver Umstände beurteilen lassen. Zu diesen entscheidungserheblichen Tatsachen muss dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden (vgl BSG aaO). Die Jahresfrist hat damit frühestens mit der Antwort auf die Anhörung (05.03.1997) zu laufen begonnen und ist bei Erlass des Bescheides vom 05.08.1997 noch nicht abgelaufen. Ob die Anhörung selbst neue Erkenntnisse erbracht hat, erlangt keine entscheidende Bedeutung.
Bei der Rücknahmeentscheidung hat die Beklagte kein Ermessen auszuüben, § 152 Abs 2 AFG.
Gemäß § 50 Abs 1 SGB X ist die Klägerin zur Erstattung der überzahlten Leistung verpflichtet.
Nachdem alle weiteren Voraussetzungen zur Rücknahme der Bewilligung für die Vergangenheit vorliegen (ua Anhörung gemäß § 24 SGB X), ist der streitgegenständliche Bescheid vom 05.08.1997 idG des Widerspruchsbescheides vom 05.01.1998 rechtmäßig und das Urteil des SG daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die teilweise Rücknahme der Bewilligung und die Rückforderung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 21.02.1996 bis 20.02.1997.
Die am 1940 geborene Klägerin war bis 30.06.1993 bei der Fa. F. 18,5 Wochenstunden in der Montage beschäftigt und bezog zuletzt ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 1.616,14 DM. Danach erhielt sie Arbeitslosengeld (Alg) bis 20.02.1996 nach einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 400,00 DM und einem wöchentlichen Leistungssatz von 124,80 DM.
Auf Antrag wurde ihr mit Bescheid vom 29.02.1996 Anschluss-Alhi ab 21.02.1996 nach einem wöchentlichen Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von zunächst 1.590,00 DM mit einem wöchentlichen Leistungssatz von zunächst 262,20 DM gewährt. Mit Schreiben vom 27.02.1996 zur Erläuterung dieses Bescheides teilte die Beklagte ihr mit, wegen der gesundheitlichen Leistungseinschränkungen sei das wöchentliche Arbeitsentgelt bei einer Arbeitszeit von 18,5 Wochenstunden auf gerundet 370 DM - ausgehend von einem tariflich erzielbaren monatlichen Arbeitsentgelt in Höhe von 1.588,92 DM - festzusetzen.
Aufgrund eines Fortzahlungsantrages vom 28.01.1997 bemerkte die Beklagte das im Bescheid vom 29.02.1996 zu hoch festgesetzte wöchentliche Arbeitsentgelt und hörte deshalb die Klägerin zu einer beabsichtigten Rücknahme und Rückforderung der überzahlten Leistungen mit Schreiben vom 20.02.1997 an.
Ab 21.02.1997 erhielt die Klägerin Alhi lediglich nach einem Bemessungsentgelt von 400 DM in Höhe von 63,00 DM wöchentlich.
Mit Bescheid vom 05.08.1997 nahm die Beklagte die Bewilligung von Alhi aufgrund des Bescheides vom 29.02.1996 teilweise für die Zeit vom 21.02.1996 bis 20.02.1997 zurück. Die Klägerin habe erkennen können, dass ihr die Leistung nicht in der bewilligten Höhe zugestanden habe. Die geleistete Alhi sei höher gewesen als das Alg und auch als das zuletzt bezogene Nettoarbeitsentgelt. Die Beklagte forderte deshalb von der Klägerin zu Unrecht erhaltene Leistungen in Höhe von 6.803,50 DM zurück. Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 05.01.1998); insbesondere nach Erhalt des Schreibens vom 27.02.1996 habe die Klägerin erkennen können, dass das der Leistung zugrunde liegende wöchentliche Arbeitsentgelt zu hoch gewesen sei.
Mit der dagegen zum Sozialgericht Würzburg (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, aufgrund ihrer Bildung und mangelnder Rechtskenntnisse habe sie auf die Berechnung der Beklagten vertraut, Überzahlungen verbraucht und lebe derzeit in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen.
Mit Urteil vom 23.05.2000 hat das SG den Bescheid vom 05.08.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.01.1998 aufgehoben. Unabhängig davon, ob die Klägerin grob fahrlässig die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides nicht erkannt habe, habe die Beklagte den Bescheid nicht innerhalb der Einjahresfrist gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufgehoben. Diese Frist habe im vorliegenden Fall mit Fertigung des Schreibens vom 29.02.1996 begonnen, bereits damals sei die fehlerhafte Sachbearbeitung für die Beklagte erkennbar gewesen und es haben zu diesem Zeitpunkt alle Erkenntnisse vorgelegen, die zur Rücknahme der rechtswidrigen Bewilligung erforderlich gewesen seien. Einer Anhörung habe es wegen nicht erforderlicher Ermessenserwägungen nicht bedurft.
Dagegen richtet sich die zum Bayer. Landessozialgericht erhobene Berufung der Beklagten. Die Jahresfrist gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X beginne regelmäßig frühestens nach erfolgter Anhörung zu laufen und sei somit bei Erlass des angefochtenen Bescheides noch nicht abgelaufen. Die Klägerin habe einfachste Überlegungen hinsichtlich der Höhe der Leistungen nicht angestellt und damit grob fahrlässig gehandelt.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des SG Würzburg vom 23.05.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus, es liege allenfalls leichte Fahrlässigkeit vor, dem Bewilligungsbescheid seien keine Anhaltspunkte zu entnehmen, aus denen mehr oder minder augenfällig auf eine Fehlerhaftigkeit des Bescheides zu schließen wäre. Da die Richtigkeit amtlicher Mitteilungen aber für die Klägerin seit jeher grundsätzlich außer Zweifel stehe, habe sie keine Veranlassung zu einer vergleichenden Prüfung von Bewilligung und aufklärendem Schreiben vom 27.02.1996 gesehen.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Sie ist auch begründet. Das SG hat zu Unrecht den Bescheid vom 05.08.1997 idG des Widerspruchsbescheides vom 05.01.1998 aufgehoben. Die Klägerin war bösgläubig iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X und die Rücknahme der Bewilligung erfolgte innerhalb der Einjahresfrist gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X.
Rechtsgrundlage für die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit stellt § 45 Abs 1, 4 SGB X dar.
Die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides vom 29.02.1996 lag vor, denn die Beklagte hatte der Klägerin unstreitig zu hohe Alhi gewährt. Sie ist von einem wöchentlichen Arbeitsentgelt von 1.590,00 DM statt von 370,00 DM (so Schreiben vom 27.02.1996) ausgegangen.
Allerdings eröffnet § 45 Abs 4 SGB X die Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten für die Vergangenheit nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X. Von dessen Tatbeständen kommt vorliegend nur die Nr 3 in Betracht. Hiernach kann ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 Halbs 2 SGB X).
Der Klägerin ist die positive Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides hier nicht nachzuweisen, so dass allein zu prüfen ist, ob ihre Unkenntnis auf grober Fahrlässigkeit beruht. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Das Maß der Fahrlässigkeit ist nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff; vgl zum Ganzen: BayLSG vom 10.12.2001 - L 10 AL 93/99 - veröffentl. in Juris mwN). Nach der Rechtsprechung des BSG können Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung Anhaltspunkt für den Berechtigten sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen (vgl zum Ganzen: BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 45). Dafür ist aber Voraussetzung, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder aus anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Das setzt zunächst voraus, dass der Leistungsempfänger den Bewilligungsbescheid zur Kenntnis genommen hat. Eine Obliegenheit, Bescheide zu lesen, besteht, auch wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist.
Die Klägerin, die zutreffende Angaben gemacht hat, war zwar nicht gehalten, den Bewilligungsbescheid des Näheren auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen (BSG aaO). Der Antragsteller darf nämlich davon ausgehen, dass die Behörde seine wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umsetzt (BSG aaO; BVerwGE 92, 81, 84). Dies gilt nach der Rechtsprechung des BSG auch, soweit Antragsteller über ihre Rechte und Pflichten durch Merkblätter aufgeklärt werden, weil sonst Begünstigten durch Merkblätter das Risiko für die sachgerechte Berücksichtigung von eindeutigen Tatsachen aufgebürdet würde (BSG aaO).
Allerdings ist dem Leistungsempfänger grobe Fahrlässigkeit dann vorzuwerfen, wenn der Fehler ihm bei seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten aus anderen Gründen geradezu "ins Auge springt" (vgl BSG aaO). So ist es hier. Aufgrund der Angaben im Bescheid vom 29.02.1996 springt es geradezu ins Auge, dass das darin angegebene wöchentliche Bruttoarbeitsentgelt zu hoch war. Der dort angegebene wöchentliche Betrag (zunächst 1590,00 DM), der nahezu dem letzten monatlichen Bruttoarbeitsentgelt entsprach, war beinahe viermal höher als das bisher der Bewilligung von Alg zugrunde gelegte Arbeitsentgelt. Auch der Leistungssatz der Alhi war mehr als doppelt so hoch wie der bisherige Leistungssatz des Alg. Dieses grobe Missverhältnis war offensichtlich. Rechtskenntnisse oder anderweitige besondere Kenntnisse (z.B der Berechnungsvorschriften) der Klägerin waren nicht erforderlich, um diesen Fehler zu erkennen, nachdem der Betrag von 1.590,00 DM als wöchentliches Bruttoarbeitsentgelt bezeichnet wurde. Nicht herangezogen werden kann zur Begründung der groben Fahrlässigkeit hingegen das Schreiben vom 27.02.1996, denn dieses ist der Klägerin erst nach dem Bescheid vom 29.02.1996 bekanntgegeben worden, so dass dann grobe Fahrlässigkeit nicht von Anfang an vorgelegen hätte.
Dafür, dass die persönliche Einsichtsfähigkeit der Klägerin in dieses Missverhältnis eingeschränkt sein könnte, finden sich keine Anhaltspunkte, zumal die Fehlerhaftigkeit beim bloßen Lesen offensichtlich wird; irgendwelche gedankliche oder rechnerische Erwägungen besonderer Art waren zum Erkennen des Missverhältnisses nicht erforderlich. Die Klägerin hat somit grob fahrlässig die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes nicht erkannt.
Gemäß § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X muss die Beklagte die Bewilligung innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen aufheben, welche die Aufhebung des wegen wesentlicher Änderung rechtswidrig gewordenen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Für den Beginn der Jahresfrist maßgebliche Kenntnis der Behörde setzt voraus, dass der zuständige Leistungsträger sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig kennt. Das verlangt jedenfalls Kenntnis des rechtserheblichen äußeren Sacherhalts sowie darüber hinaus auch Kenntnis sog. innerer Tatsachen, sofern diese ebenfalls zu den normierten Tatbestandsvoraussetzungen gehören (vgl BSG vom 25.04.2002 - B 11 AL 69/01 R - veröffentl. in Juris). Sowohl der äußere Sachverhalt als auch die inneren Tatsachen waren der Beklagten erst nach Durchführung der Anhörung vom 20.02.1997 bekannt gewesen.
Nach der Rechtsprechung (BSG vom 06.03.1997 - 7 RAr 40/96 - veröffentl. in Juris, im Anschluss an BSGE 77, 295) beginnt die Jahresfrist regelmäßig erst nach erfolgter Anhörung zu laufen. So ist es hier, denn zur Prüfung des Vorliegens grober Fahrlässigkeit ist auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit des Betroffenen, also auf Umstände abzustellen, die sich nur in seltenen Fällen anhand objektiver Umstände beurteilen lassen. Zu diesen entscheidungserheblichen Tatsachen muss dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden (vgl BSG aaO). Die Jahresfrist hat damit frühestens mit der Antwort auf die Anhörung (05.03.1997) zu laufen begonnen und ist bei Erlass des Bescheides vom 05.08.1997 noch nicht abgelaufen. Ob die Anhörung selbst neue Erkenntnisse erbracht hat, erlangt keine entscheidende Bedeutung.
Bei der Rücknahmeentscheidung hat die Beklagte kein Ermessen auszuüben, § 152 Abs 2 AFG.
Gemäß § 50 Abs 1 SGB X ist die Klägerin zur Erstattung der überzahlten Leistung verpflichtet.
Nachdem alle weiteren Voraussetzungen zur Rücknahme der Bewilligung für die Vergangenheit vorliegen (ua Anhörung gemäß § 24 SGB X), ist der streitgegenständliche Bescheid vom 05.08.1997 idG des Widerspruchsbescheides vom 05.01.1998 rechtmäßig und das Urteil des SG daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Login
FSB
Saved