L 20 RJ 519/00

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 RJ 511/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 20 RJ 519/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.08.2000 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 17.02.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09.06.1998 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die am 1948 geborene Klägerin ist italienische Staatsangehörige. Sie hat keinen Beruf erlernt und war zuletzt als Küchenhilfe beim C. in W. versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 27.05.1997 bestand Arbeitsunfähigkeit mit anschließender Arbeitslosigkeit. Im Mai 1997 erlitt die Klägerin einen Bandscheibenvorfall im Bereich der Halswirbelsäule und unterzog sich vom 29.10. bis 03.12.1997 einer stationären Reha-Maßnahme in O ... Am 30.12.1997 beantragte die Klägerin die Gewährung von Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte ließ sie durch die Orthopädin Dr.B. untersuchen, die das Gutachten vom 06.02.1998 erstattete. Sie erachtete die Klägerin für fähig, leichte Arbeiten, möglichst im Wechselrhythmus, in Vollschicht zu leisten, mittelschwere Arbeiten nur im Umfang bis unter halbschichtig. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 17.02.1998 ab, da die Klägerin nicht berufs- oder erwerbsunfähig sei. Die Klägerin erhob Widerspruch und bezog sich auf ein Attest des Allgemeinarztes Dr.S. vom 24.03.1998, der die Auffassung vertrat, dass eine befristete Erwerbsunfähigkeitsbewertung nicht zu umgehen sein werde. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 09.06.1998 zurück. Die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Klägerin sei nach wie vor in der Lage, in Vollschicht einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Dagegen hat die Klägerin am 01.07.1998 Klage beim Sozialgericht Würzburg erhoben. Sie leide nicht nur an Schmerzzuständen im Bereich der HWS, sondern auch an der LWS; darüberhinaus bestünden lang anhaltende Kopfschmerzen mit Neigung zu Vergesslichkeit, auf dem rechten Ohr sei sie schwerhörig. Schließlich bestünden auch Beschwerden am rechten Knie. Die Klägerin legte Berichte des Radiologen Dr.K. aus der Zeit von Juli 1997 bis März 1998 vor, darüberhinaus Berichte des Orthopäden Dr.R. und des HNO-Arztes Dr.B ... Das SG hat Befundberichte über die Klägerin beigezogen von dem Neurochirurgen Dr.P. und dem Allgemeinarzt Dr.S ... Auf Veranlassung des SG hat der Orthopäde Dr.W. das Gutachten vom 06.12.1999 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstattet. Er stellte die Diagnose: Cervikal betontes Wirbelsäulensyndrom, ohne neurologische Ausfälle. Die Klägerin wurde für fähig erachtet, leichte körperliche Arbeiten in Vollschicht und mittelschwere Tätigkeiten bis halbschichtig (bis vier Stunden täglich) zu verrichten. Ein weiteres Gutachten von Amts wegen hat der Arbeitsmediziner Dr.S. am 14.02.2000 erstattet. Er führte im Wesentlichen aus, auch unter Berücksichtigung einer rezidivierenden Gastritis sowie einer Schilddrüsenüberfunktion sei die Einschätzung eines vollschichtigen Leistungsvermögens für leichte Arbeiten nicht zu beanstanden. Eine Einschränkung der zeitlichen und beruflichen Belastbarkeit sei nicht zu begründen, was auch bei Einbeziehung einer Neigung zu Schwindelzuständen gelte. Auf Antrag der Klägerin hat der Chirurg Dr.I. das Gutachten vom 19.04.2000 erstattet. Er nannte als Diagnosen: HWS-Syndrom mit Wurzelreizsyndrom links, LWS-Syndrom mit Lumboischialgien links, HWS-bedingter Vertiko, HWS-bedingte Cephalgien, Hochtonschallempfindungsschwerhörigkeit, chronische Gastritis, Hyperthyreose, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, psychovegetative Erschöpfungszustände. Unter üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sei der Klägerin eine halb- bis untervollschichtige Tätigkeit zumutbar; die Klägerin verfüge nicht annähernd über eine volle körperliche Leistungsfähigkeit. Insgesamt handele es sich bei der Klägerin um ein schweres Erschöpfungssyndrom. Mit Urteil vom 08.08.2000 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, den Leistungsfall der Erwerbsunfähigkeit auf Zeit mit dem 11.04.2000 anzuerkennen und ab 01.11.2000 die entsprechenden gesetzlichen Leistungen bis einschließlich Dezember 2002 zu gewähren. Das SG schloss sich im Wesentlichen den Ausführungen des Dr.I. an, wonach die Klägerin nicht über eine volle körperliche Leistungsfähigkeit verfüge. Sie könne nur noch im Umfang bis unter vollschichtig arbeiten, wobei nur leichte Arbeiten in wechselnder Stellung und in geschlossenen Räumen infrage kämen. Das eingeschränkte Leistungsvermögen liege gesichert erst seit der Untersuchung durch Dr.I. vor; dementsprechend sei eine Zeitrente zu gewähren.

Gegen dieses Urteil richtet sich die am 12.09.2000 beim Bayer. Landessozialgericht eingegangene Berufung der Beklagten. Diese bringt im Wesentlichen vor, aus dem Gesamtverlauf der Begutachtung seit Rentenantragstellung lasse sich ein untervollschichtiges Leistungsvermögen der Klägerin nicht begründen. Das Gutachten von Dr.I. weiche - als Einzelmeinung - von allen vorher erhobenen Befunden und Leistungseinschätzungen ab.

Die Klägerin verwies auf die erhebliche Schmerzsymptomatik (Kopfschmerzen, Cephalgien), die bereits in einem Arztbrief des Dr.P. vom 10.01.1998 bestätigt worden sei. Der Senat zog Befundberichte über die Klägerin bei von dem Orthopäden Dr.J. , dem Augenarzt Dr.L. und dem Internisten Dr.L. (mit weiteren Unterlagen des Nuklearmediziners Dr.J.) und holte eine Auskunft vom letzten Arbeitgeber der Klägerin ein (C. W.). Auf Veranlassung des Gerichts erstattete der Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Sozialmedizin, Dr.H. das Gutachten vom 22.05.2001 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin. Diese leide an einer Somatisierungsstörung leichten Grades wie auch an einem Cervikalsyndrom und einem Lumbalsyndrom, jeweils leichten Grades und einer ebenfalls leichten Schwerhörigkeit (ohne Alltagsrelevanz). Der Klägerin seien leichte bis mittelschwere Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zumutbar, und zwar in Vollschicht. Die Halswirbelsäule habe sich weitgehend frei beweglich gezeigt, ebenso die Lendenwirbelsäule. Das Gehör sei subjektiv beidseits ausreichend gut; die Konzentrations- und Merkfähigkeit sei nicht beeinträchtigt, es seien keine Antriebsstörungen erkennbar geworden. Auch habe sich keine Störung der Koordination und der Gleichgewichtsfunktion gefunden.

Die Klägerin hat einen Bericht des Internisten Dr.D. vom 16.10.2001 vorgelegt, in dem ihr eine Fibromyalgie bescheinigt wird. Dr.H. hat die ergänzende Stellungnahme vom 21.01.2002 zu seinem Gutachten abgegeben. Auf Kosten der Beklagten hat sich die Klägerin einem weiteren Heilverfahren vom 29.01. bis 19.02.2002 im Klinikum B. unterzogen. Die Entlassung aus der Maßnahme erfolgte als arbeitsfähig. Der Klägerin seien aus orthopädischer Sicht mittelschwere Arbeiten im Wechselrhythmus und in allen Schichtdienstformen vollschichtig zumutbar. Die Klägerin hatte zunächst einen Antrag gem § 109 SGG gestellt (Schriftsatz vom 02.08.2001), sie hat jedoch am 28.08.2002 mitgeteilt, dass sie sich nicht in der Lage sehe, auch nur ratenweise Vorschüsse für ein solches Gutachten zu erbringen. Es werde eine weitere Untersuchung von Amts wegen im kardiologischen Bereich sowie die Erholung eines neuropsychologischen Gutachtens für erforderlich gehalten.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.08.2000 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 17.02.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.06.1998 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen; hilfsweise beantragt sie, weitere Gutachten auf kardiologischem und neuro-psychologischem Fachgebiet einzuholen.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten und die Prozessakte des SG Würzburg sowie die Leistungsakte des Arbeitsamtes Würzburg vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig.

Das Rechtsmittel erweist sich im Ergebnis auch als begründet. Die Klägerin ist weder berufsunfähig im Sinne des § 43 Abs 2 SGB VI noch erwerbsunfähig im Sinne des § 44 Abs 2 SGB VI, jeweils in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung. Berufsunfähig sind danach Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die aus den genannten Gründen auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit zu erzielen.

Diese Voraussetzungen für eine Rentengewährung liegen bei der Klägerin nicht vor. Die Klägerin ist schon nicht berufsunfähig im Sinne des § 43 Abs 2 SGB VI aF. Seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit im Jahre 1997 haben zahlreiche Untersuchungen und Begutachtungen der Klägerin stattgefunden. Diese nahm auch an zwei stationären Heilmaßnahmen in O. und in B. teil. Während des sozialgerichtlichen Verfahrens ist die Klägerin orthopädisch und arbeitsmedizinisch sowie - auf ihren Antrag hin - chirurgisch begutachtet worden. Im Berufungsverfahren hat der ärztliche Sachverständige Dr.H. , Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Sozialmedizin, in seinem Gutachten vom 22.05.2001 mit ergänzender Stellungnahme vom 21.01.2002 sämtliche von der Klägerin vorgebrachten oder sonst aktenkundigen Leidenszustände untersucht, beschrieben und in ihren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit gewürdigt. Bei der Klägerin steht eine Somatisierungsstörung im Vordergrund der Beschwerden, für die multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome charakteristisch sind. Daneben bestehen ein Cervikalsyndrom und ein Lumbalsyndrom von jeweils leichter bis mittelgradiger Ausprägung. Aus sozialmedizinischer Sicht begründen diese Gesundheitsstörungen keine zeitliche Leistungsminderung im Erwerbsleben. Die Klägerin, die nach ihrer Ausbildung und ihrem Berufsweg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar ist, ist weiterhin in der Lage, leichte bis mittelschwere Arbeiten in Vollschicht zu leisten. Soweit Dr.H. empfiehlt, Arbeiten in überwiegend gebückter Haltung und in Zwangshaltungen sowie Arbeiten unter Kälte, Temperaturschwankungen, Zugluft und Nässe zu vermeiden, ist dies mit einer Vielzahl von Arbeiten aller Art zu vereinbaren. Aus sozialmedizinischer Sicht werden zusätzliche (betriebsunübliche) Pausen nicht benötigt; das Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte unterliegt keinen streckenmäßigen oder zeitlichen Beschränkungen. Das gleiche Ergebnis hinsichtlich der Erwerbsfähigkeit der Klägerin folgt aus dem Entlassungsbericht nach dem Heilverfahren in B ... Der Bericht spricht der Klägerin ein Leistungsvermögen in Vollschicht für mittelschwere Tätigkeiten zu und hält auch die zuletzt ausgeübte Arbeit als Küchenhilfe weiterhin für zumutbar, auch unter Einbeziehung der Diagnose Fibromyalgie. Für den Senat sind diese unter sozialmedizinischen Grundsätzen erstellten Aussagen zur beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin des ärztlichen Sachverständigen Dr.H. und des Entlassungsberichtes nach dem letzten Heilverfahren überzeugend und für die Entscheidungsfindung heranzuziehen. Dem in der Leistungseinschätzung der Klägerin abweichenden Gutachten von Dr.I. (Leistungsvermögen halb bis untervollschichtig) kann dagegen im Ergebnis nicht gefolgt werden. Dr.H. hat in der Bewertung der einzelnen Befunde und in der Gesamtbetrachtung herausgestellt, dass eine graduelle zeitliche Abstufung des Leistungsvermögens (auf untervollschichtig) nicht durch entsprechende Befunde belegbar und auch nicht zu begründen ist. Für die Diagnose "HWS-bedingter Vertiko" konnte kein klinisches Korrelat gefunden werden. Die von Dr.I. übernommenen Diagnosen Hochtonschallempfindungsschwerhörigkeit, chronische Gastritis und Hyperthyreose sind für das Leistungsvermögen nicht relevant. Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen betreffen nicht das chirurgische Fachgebiet, ebenso wenig wie psychovegetative Erschöpfungszustände. Gravierende kognitive Leistungseinbußen waren bei der Klägerin nicht zu finden. Dies hat Dr.H. in der ergänzenden Stellungnahme zu seinem Gutachten nochmals herausgestellt, wie er auch der Klägerin eine altersübliche "Umstellungsfähigkeit" für neue Aufgaben bescheinigt hat. Bei weiterhin bestehender vollschichtiger Leistungsfähigkeit für leichte und auch mittelschwere Arbeiten allgemeiner Art ist die Klägerin nicht berufsunfähig im Sinne des § 43

Abs 2 SGB VI aF und schon gar nicht erwerbsunfähig im Sinne des § 44 Abs 2 SGB VI in der bis 31.12.2000 geltenden Fassung. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder auch nur teilweiser Erwerbsminderung nach der seit 01.01.2001 geltenden Neuregelung. Auf die Berufung der Beklagten war deshalb das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 08.08.2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Für die Durchführung weiterer Ermittlungen im Sinne der Einholung zusätzlicher Gutachten hat der Senat keine Veranlassung gesehen. Die Frage nach neurologischen, psychiatrischen oder - wie auch immer gearteten - psychologischen Beeinträchtigungen der Klägerin ist durch das Gutachten von Dr.H. mit ergänzender Stellungnahme mit hinreichender Deutlichkeit beantwortet worden: Diesbezügliche Leidenszustände von rentenrechtlicher Relevanz liegen nicht vor. Für die Annahme einer leistungsmäßig bedeutsamen Einschränkung der Klägerin auf internistischem oder kardiologischem Fachgebiet finden sich keine Hinweise. Dem Befundbericht des Internisten Dr.L. vom 16.02.2001 sind keine Diagnosen über eine Beeinträchtigung des Herz- und Kreislaufsystems zu entnehmen. Bei der Begutachtung der Klägerin durch Dr.H. fand sich internistisch kein pathologischer Befund. Der Entlassungsbericht nach dem Heilverfahren in B. enthält die Feststellung: Herz und Lunge physikalisch ohne Befund. Unter diesen Umständen ist die Einholung weiterer fachärztlicher Gutachten von Amts wegen nicht zu vertreten.

Da auf die Berufung der Beklagten hin die Klage abzuweisen war, haben die Beteiligten einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten. Gründe für die Zulassung der Revision gem § 160 Abs 2 SGG sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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