B 4 RA 49/01 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 11 RA 41/97
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 RA 121/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 49/01 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. November 2000 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Streitig ist das Recht der Klägerin auf eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit.

Die 1971 geborene Klägerin war - abgesehen von kürzeren Unterbrechungen - von August 1987 bis März 1992 erwerbstätig. Zunächst begann sie für die Dauer von neun Monaten eine Ausbildung als Friseuse. Von 1989 bis 1991 durchlief sie, wie sie angegeben hat, eine Ausbildung als Krankenschwester. Anschließend war sie bis zu ihrer Arbeitsunfähigkeit als Nachtwache tätig.

Mit Bescheid vom 2. November 1995 und bestätigendem Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 1997 lehnte die Beklagte ein Recht auf Erwerbsunfähigkeits- bzw Berufsunfähigkeitsrente ab, weil die Klägerin trotz ihrer Gesundheitsstörungen noch in der Lage sei, als Mitarbeiterin in öffentlichen Blutzentralen, Gesundheitsämtern, vertrauensärztlichen Dienststellen, technischen Untersuchungsstellen und im Labor vollschichtig tätig zu sein.

Das SG hat mit Urteil vom 13. April 1999 die Klage abgewiesen. Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 9. November 2000). Im Tatbestand des angefochtenen Urteils ist ua zur Prozeßgeschichte ausgeführt: Der Senat habe einen Befundbericht sowie 50 Röntgenaufnahmen von verschiedenen Ärzten bzw Kliniken beigezogen, Kopien von den Unfallakten erstellt und sodann ein Gutachten eingeholt. Dieses Gutachten sei mit Schreiben vom 25. April 2000 dem Anwalt der Klägerin zur Stellungnahme binnen eines Monats zugesandt worden. Mit Telefax vom 4. Oktober 2000 habe dieser angezeigt, daß er die Klägerin nicht mehr vertrete. Nachdem Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 9. November 2000 bestimmt worden sei, habe sich der jetzige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin unter Vorlage einer Vollmachtsurkunde vom 19. September 2000 (am 18. Oktober 2000) gemeldet. Gleichzeitig habe er um Terminsverlegung nachgesucht, da er mangels Unterlagen keine Stellungnahme abgeben und an dem Termin nicht teilnehmen könne, weil er an diesem Tag einen lang vorher vereinbarten Termin vor dem Landgericht Amberg habe. Die Terminsverlegung sei mit Schreiben vom 26. Oktober 2000 abgelehnt und zugleich darauf hingewiesen worden, daß der Klägerin Berufsschutz nicht zugute komme. Mit Telefax vom 2. November 2000 habe der Prozeßbevollmächtigte "Verständnislosigkeit" und "die Unverständlichkeit" der Mitteilung gerügt, habe zu dem vom LSG eingeholten Gutachten Stellung genommen und darauf hingewiesen, daß die Absetzung des Termins erwartet werde. Ferner habe er um Akteneinsicht sowie um Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG gebeten. Mit Telefax vom gleichen Tag sei dem Prozeßbevollmächtigten mitgeteilt worden, daß eine Verlegung nicht beabsichtigt sei und über die zusätzlichen Anträge in der mündlichen Verhandlung entschieden werde.

In den Entscheidungsgründen des Urteils ist ua ausgeführt: Der Rechtsstreit sei nicht aus Gründen des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 GG) zu vertagen gewesen. Der Prozeßbevollmächtigte habe seit Vollmachtserteilung hinreichend Zeit gehabt, um sich zum Prozeßstoff zu äußern, so daß ein erheblicher Grund zur Vertagung iS von § 227 Abs 1 ZPO nicht vorgelegen habe. Anlaß für eine Terminsänderung habe auch nicht etwa deshalb bestanden, weil der Prozeßbevollmächtigte den Termin nicht habe wahrnehmen können; denn er hätte seinen Vertreter entsenden oder einer dritten Person Untervollmacht erteilen können; auch habe die Klägerin selbst einen anderen Prozeßbevollmächtigten beauftragen können.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde hat die Klägerin ua geltend gemacht, das LSG habe ihr Recht auf rechtliches Gehör in zweifacher Weise verletzt: Ihr Prozeßbevollmächtigter sei verhindert gewesen, den Termin wahrzunehmen und habe dies auch glaubhaft unter Vorlage der Terminsladung für eine Berufungsverhandlung vor der Strafkammer des Landgerichts Amberg nachgewiesen. Infolgedessen habe ein erheblicher Grund zur Terminsverlegung bestanden. Ferner habe ihr Prozeßbevollmächtigter mit Schriftsatz vom 30. Oktober 2000 um Akteneinsicht gebeten. Diesem Gesuch sei nicht stattgegeben worden.

Die Klägerin hat die vom BSG durch Beschluss vom 24. Juli 2001 wegen eines Verfahrensfehlers zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt ua Verfahrensfehler, nimmt insoweit Bezug auf ihre Beschwerdebegründung und ist der Ansicht, die Entscheidung des LSG beruhe auf den Verfahrensmängeln.

Sie beantragt sinngemäß,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. November 2000 und des Sozialgerichts Regensburg vom 13. April 1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 1997 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte stellt keinen Antrag und hat sich zur Sache auch nicht geäußert.

II

Die Revision der Klägerin ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Das angefochtene Urteil kann auf dem von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensmangel, der Verletzung rechtlichen Gehörs, beruhen. Das LSG hat das Grundrecht der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, §§ 62, 124 Abs 1 SGG) dadurch verletzt, daß es ein Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung verkündet hat, obwohl der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin einen begründeten Antrag auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung (§ 202 SGG, § 227 ZPO) gestellt hatte.

Die Verfahrensrüge hat die Klägerin in formeller Hinsicht ordnungsgemäß erhoben. Die Klägerin hat - insoweit zulässig - ua unter Bezugnahme auf ihre Beschwerdebegründung substantiiert und schlüssig die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs dargetan. Wegen dieses Verfahrensmangels ist die Revision zugelassen worden; hierauf hat sich die Klägerin bezogen und damit zum Ausdruck gebracht, daß sie dieses Vorbringen zur Begründung der Revision aufrechterhält. Eine derartige Bezugnahme ist bei Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensmangels wirksam. Würde man die Bezugnahme nicht gestatten, so würde dies letztlich zu einer formelhaften Wiederholung früheren Vorbringens zwingen (vgl hierzu BSG SozR 1500 § 164 Nr 18). Ist eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran hindert, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, dargetan, so ist davon auszugehen, daß diese für eine Entscheidung ursächlich geworden ist. Insoweit erübrigen sich zur Kennzeichnung des Verfahrensmangels Ausführungen darüber, daß das Urteil auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen kann (vgl hierzu BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2 mwN). Gründe, die die Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensmangels für das angefochtene Urteil ausschließen könnten, sind hier nicht ersichtlich (vgl zum Vorstehenden: Beschluss des Senats vom 16. November 2000 - B 4 RA 122/99 B).

Der Verfahrensmangel der Verletzung rechtlichen Gehörs liegt auch vor. Mit Schriftsatz vom 17. Oktober 2000 (sowie vom 2. November 2000) hatte der Prozeßbevollmächtigte um Verlegung des Termins vom 9. November 2000 unter Vorlage auf die ihm bereits zugegangene Terminsladung zu einem Strafverfahren nachgesucht. Mit diesem Antrag hat die Klägerin einen erheblichen Grund iS des § 227 Abs 1 ZPO geltend und glaubhaft gemacht (vgl BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2). Das LSG war verpflichtet, auf den Verlegungsantrag den Termin aufzuheben.

Wird - wie grundsätzlich geboten - aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muß den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung und Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung zu äußern. Ein erheblicher Grund für die Terminsverlegung eröffnet nicht nur die Möglichkeit, sondern begründet die Pflicht des Gerichts zur Terminsverlegung (vgl hierzu BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2 mwN; Beschluss des Senats, aaO). Insoweit sind die vom BVerfG entwickelten Grundsätze bei der Behandlung von Anträgen auf Terminsverlegung heranzuziehen, wonach das Grundrecht auf wirkungsvollen Rechtsschutz sowie auf ein faires Verfahren (Art 19 Abs 4 und Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG) zu beachten sind (BVerfG, Beschluss vom 2. März 1993 - 1 BvR 249/92 - BVerfGE 88, 118, 125). Ihnen ist im Hinblick auf die Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch auf rechtliches Gehör Rechnung zu tragen. Ist daher die Verlegung/Vertagung zur Gewährung rechtlichen Gehörs notwendig, hat also ein Verfahrensbeteiligter seinerseits alles in seinen Kräften stehende und nach Lage der Dinge Erforderliche getan, um sich durch Wahrnehmung des Verhandlungstermins rechtliches Gehör zu verschaffen, ist er hieran jedoch ohne Verschulden gehindert, verbleibt dem Gericht bei seiner Entscheidung über den Antrag kein Ermessensspielraum (vgl Beschluss des Senats, aaO; Urteil des 5. Senats vom 22. September 1999 - B 5 RJ 22/98 R - mwN). Nach alledem ist das Recht auf Aufhebung und Verlegung bzw Vertagung - und dadurch mittelbar der Anspruch auf rechtliches Gehör in der mündlichen Verhandlung - auch dann verletzt, wenn - wie hier - das Vorliegen eines "erheblichen Grundes" iS von § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO zu Unrecht verneint wird (vgl Beschluss des Senats, aaO mwN).

Der Senat hält die Rechtsauffassung im Urteil vom 27. Oktober 1955 (BSGE 1, 280) nicht mehr aufrecht, wonach eine Entscheidung über eine Terminsaufhebung eine freie Ermessensentscheidung sein sollte, die die Möglichkeit einschließt, daß trotz Vorliegens erheblicher Gründe das Gericht aus anderen, ihm bedeutsam erscheinenden Erwägungen von einer Terminsänderung absehen könne. Die in der Entscheidung des 11. Senats des BSG vom 6. Dezember 1983 - 11 RA 30/83 - (SozR 1750 § 227 Nr 2) enthaltenen allgemeinen Erwägungen zur Verletzung rechtlichen Gehörs bei Ablehnung von Anträgen auf Terminsverlegung sind durch die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung dieses Senats vom 10. August 1995 - 11 RAr 51/95 - (SozR 3-1750 § 227 Nr 1) überholt.

Die in Abwesenheit des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 9. November 2000 ausgesprochene Berufungszurückweisung beruht auf diesem Verfahrensfehler. Es besteht die Möglichkeit, daß das LSG zu einer für die Klägerin günstigeren Beurteilung des Sachverhalts gekommen wäre, wenn der Prozeßbevollmächtigte Gelegenheit gehabt hätte, die Rechte und Interessen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung wahrzunehmen (§ 162 SGG). Die Revision muß daher zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Verfahrens an das LSG führen.
Rechtskraft
Aus
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