L 14 RA 141/95

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 An 86/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 14 RA 141/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 7. November 1995 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen. -

Tatbestand:

Streitig ist unter den Beteiligten eine Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Die 1959 geborene Klägerin, von Beruf Diplom-Sozialpädagogin, leidet an den Spätfolgen einer im Alter von eineinhalb Jahren durchlittenen Kinderlähmung. Es ist insoweit ein Impfschaden im Sinne des Bundesseuchengesetzes anerkannt (Schädigungsfolgen: "schlaffe Lähmung des rechten Arms mit Versteifung im Schulter-/Handgelenk", MdE 70 %). Nach dem Schwerbehindertengesetz ist ein GdB von 90 sowie das Merkzeichen G zuerkannt. Nach ihrer Ausbildung war die Klägerin seit 01.10.1983 als Drogenberaterin bei einer Psychosozialen Beratungsstelle tätig, wo sie einen behindertengerechten Arbeitsplatz (Spezialschreibmaschine, Spezialdiktiergerät) innehatte. Ab 01.07.1990 reduzierte sie ihre Arbeitszeit aus gesundheitlichen Gründen auf die Hälfte (19,25 Wochenstunden) und gab dafür zunehmende Beschwerden und Schwächegefühl im linken gesunden Arm an. In der Zeit vom 22.06.1993 bis 13.05.1997 befand sie sich in Erziehungsurlaub (Geburt ihrer beiden Kinder F. und A. am 1993 und 1994). In dieser Zeit stand ihr bis zum vollendeten dritten Lebensjahr der Tochter A. eine von der Krankenkasse finanzierte Haushaltshilfe zur Verfügung. Zum 13.05.1997 kündigte sie ihren Arbeitsplatz mit der Begründung, sie sei mit zwei kleinen Kindern ohne Haushaltshilfe nicht in der Lage, die Beschäftigung auszuüben. Ab 23.10.1997 meldete sie sich arbeitslos. Seit 01.09.1998 ist sie selbständig als Sozialpädagogin tätig, wobei sie vor allem Gespräche zur Vorbereitung auf medizinisch-psychologische Eignungsuntersuchungen für Kraftfahrer nach Führerschein-Entzug durchführt. Den Umfang dieser Tätigkeit gibt sie mit ca. fünf Stunden wöchentlich an.

Ihren ersten Rentenantrag stellte die Klägerin im Jahre 1990 mit der Begründung, sie könne aus gesundheitlichen Gründen nurmehr halbtags arbeiten. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom 20.06.1990 ab, weil die Klägerin noch in der Lage sei, in ihrem bisherigen Beruf vollschichtig tätig zu sein. Grundlage hierfür waren Begutachtungen durch den Ner- venarzt Dr.K. am 28.03.1990 und durch den Orthopäden Dr.S. am 18.04.1990, die neben der vorhandenen schlaffen Lähmung des gesamten rechten Armes mit Folge der Gebrauchsunfähigkeit lediglich von einer behandelbaren Überbelastung des gesunden linken Arms ohne Anhaltspunkte für eine sog. chronische Poliomyelitis bzw. eine progrediente Muskelathropie ausgegangen waren und die Klägerin als Sozialpädagogin trotz der bestehenden praktischen Einhändigkeit für weiterhin vollschichtig einsatzfähig gehalten hatten. Der Widerspruch, mit dem die Klägerin auf zunehmende Schwäche durch ständige Überlastung des linken Arms, rasche Ermüdungserscheinungen, Rücken- und Kopfschmerzen und die Gefahr erneuter Lähmung an allen Gliedmaßen im Falle weiterer Überlastung verwiesen hatte, blieb erfolglos. Die Beklagte ging nunmehr von einer halb- bis untervollschichtigen Leistungsfähigkeit der Klägerin in ihrem Beruf aus und wies im Hinblick auf den vorhandenen entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 07.11.1990 zurück.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) - S 13 An 274/90 - kam es zunächst zu Begutachtungen durch den Nervenarzt Dr.H. (Gutachten vom 10.04.1991) und den Orthopäden Dr.D. (Gutachten vom 19.09.1991), die keine Funktionsausfälle des linken Armes und keine Hinweise für einen entsprechenden schleichenden Prozess fanden und die Klägerin in ihrer Tätigkeit als Diplom-Sozialpädagogin für vollschichtig einsatzfähig hielten. Die anschließend gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beauftragten Gutachter Prof.Dr.P./Dr.L./Dr.R. (Gutachten vom 02.07.1992) kamen zu der Auffassung, dass sich mit Wahrscheinlichkeit die neurogene Variante des sog. Post-Poliomyelitis-Syndroms herausgebildet habe, das über einen Defektzustand nach Poliomyelitis hinausgehe und eine schleichende Verschlimmerung der Erkrankung einschließe. Wegen der fast völligen Gebrauchsunfähigkeit des rechten Armes sowie einer glaubhaften Ermüdbarkeit und Schwäche des linken Armes könnten Arbeiten mit dem linken Arm nur mit beschränkter Kraft (Tragen und Heben bis etwa fünf Kilogramm) und dann nur für kurze Dauer (maximal etwa eine Minute) ausgeführt werden. Die Tätigkeit als Diplom-Sozialpädagogin sei noch halb- bis untervollschichtig zumutbar; zwar spielten die beschriebenen Einschränkungen in diesem Beruf praktisch keine Rolle, doch sei die Leistungsfähigkeit der Klägerin im Beruf auch durch die erforderlichen Verrichtungen des täglichen Lebens (Körperpflege, Versorgung des Haushalts) eingeschränkt, weil diese sie deutlich mehr als einen gesunden Menschen strapazierten. Die Klägerin nahm daraufhin die Klage zurück.

Am 01.03.1994 stellte die Klägerin erneut den streitgegenständlichen Rentenantrag unter Hinweis auf die Verschlimmerung ihrer Beschwerden. Sie hatte inzwischen ihre Kinder F. und A. geboren und befand sich in Erziehungsurlaub. Die Beklagte ließ die Klägerin durch Dr.W. am 02.09.1994 untersuchen und begutachten. Dieser diagnostizierte neben dem bekannten Befund am rechten Arm-/Hand-/und Schulterbereich einen depressiven Erschöpfungszustand reaktiver Genese sowie einen Verdacht auf Post-Poliomyelitis-Syndrom. Nach seinen Ausführungen hatte die Belastungsfähigkeit der Klägerin seit der letzten Begutachtung durch Prof.P. abgenommen, insbesondere in seelischer Hinsicht sei sie auch aufgrund der beiden inzwischen kurz hintereinander erfolgten Geburten deutlich geringer belastbar. Insgesamt sei von einer gerade noch halbschichtigen Leistungsfähigkeit im bisherigen Beruf und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (ohne Arbeiten mit der rechten Hand, ohne schweres Heben oder Tragen, ohne längeres Gehen oder Stehen) auszugehen.

Unter Hinweis auf den vorhandenen, dem Leistungsvermögen entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 13.10.1994 ab.

Mit ihrem Widerspruch gegen diesen Bescheid berief sich die Klägerin auf zunehmende Schmerzen in den Knien, nachlassende Merk- und Konzentrationsfähigkeit sowie auf "Behördenstress" in ihrem Bemühen um Parkerleichterungen, Haushaltshilfe etc ... In dem daraufhin vom behandelnden Arzt Prof.Dr.K. vom F.-Institut eingeholten Befundbericht vom 13.12.1994 wurde erneut die Diagnose eines Post-Polio-Syndroms gestellt und von vermehrter Ermüdbarkeit auch im linken Arm und Abnahme der Kraft in den Beinen seit 1990 berichtet. Nach einer Stellungnahme des beratenden Arztes Dr.M. wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 28.03.1995 zurück, da sich aus den ärztlichen Unterlagen keine neuen Befunde ergäben, das Leistungsvermögen nach den medizinischen Feststellungen noch nicht auf weniger als die Hälfte desjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten herabgesunken sei und im Übrigen ein dem Leistungsvermögen entsprechender Arbeitsplatz zur Verfügung stehe.

Im Klageverfahren machte die Klägerin die Verschlimmerung ihrer Gesundheitsstörungen durch die Tätigkeiten im Haushalt und bei der Versorgung ihrer Kinder geltend. In ihrem Beruf könne sie nurmehr zehn bis 15 Stunden wöchentlich tätig sein. Das SG zog die Akten der Parallelverfahren S 11 (13) Vi 1/94 und S 11 (13) Vi 2/94 mit den darin vorhandenen ärztlichen Unterlagen (u.a. ärztliches Gutachten Dr.K. vom 17.08.1994 zum Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz, neurologisches Gutachten Prof.Dr.K. vom 28.09.1994 für die DAK in M. betreffend die Erforderlichkeit einer ganztägigen Haushaltshilfe) bei, ferner holte es einen Befundbericht des behandelnden Nervenarztes Dr.S. vom 01.08.1995 ein ("mit Sicherheit sekundäre Verschlechterung der Folgen der Poliomyelitis durch funktionelle Fehlbelastungen"). Im Hinblick auf die Anregung der Klägerin im Verfahren Vi 1/94, von einer weiteren, für sie sehr schmerzhaften und wegen ihrer familiären Verhältnisse mit zwei kleinen Kindern umständlichen nervenärztlichen Untersuchung bei Dr.H. abzusehen und statt dessen die bereits vorhandenen zahlreichen medizinischen Untersuchungsergebnisse einer Entscheidung zugrunde zu legen, beauftragte das SG den Gutachter Dr.H. mit der Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage. In dem neurologisch-sozialmedizinischen Gutachten vom 21.08.1995 legte dieser dar, dass sich in den letzten Jahren keine entscheidenden Änderungen im Gesundheitszustand der Klägerin ergeben hätten; er verwies dazu auf das Gutachten des Prof.Dr.P. vom 02.07.1992, in dem bereits damals von einem Dauerzustand ausgegangen und aufgezeigt worden sei, dass wegen der langsamen Progredienz der Symptome in den nächsten drei Jahren eine Verschlimmerung nicht in merklichem Umfang zu erwarten sei. Die vorliegenden Gesundheitsstörungen bezeichnete er mit "schlaffe Lähmung des rechten Arms mit Restfunktion, ausgeprägte Atrophie des rechten Armes und Versteifung im rechten Schultergelenk und im rechten Handgelenk bei Zustand nach Poliomyelitis im Kindesalter; Verdacht auf Post-Poliomyelitis-Syndrom". Nach Auffassung des Dr.H. konnte die Klägerin die körperlich leichten Tätigkeiten einer Diplom-Sozialpädagogin weiterhin vollschichtig verrichten, die Tatsache zweier Schwangerschaften und Geburten in den letzten zwei Jahren führten nicht zu einer zusätzlichen zeitlichen Leistungsminderung im Erwerbsleben, zumal alle fachneurologischen Untersuchungen keine objektivierbare Funktionseinschränkung bzw. Kraftminderung des linken Armes und der Beine ergeben habe; die subjektiven Beschwerden wie vorzeitige Ermüdbarkeit ließen zwar an ein Post-Poliomyelitis-Syndrom denken, die fast ausschießlich sitzende Beratungstätigkeit sei dennoch vollschichtig zumutbar. Unzumutbar seien körperliche Schwerarbeiten und ständig mittelschwere Arbeiten, Zwangshaltungen, häufiges Heben und Tragen von Lasten, ständiges Bücken, Treppen- und Leiternsteigen, Arbeiten, die die volle Gebrauchsfähigkeit beider Hände voraussetzen, Überkopfarbeiten, auch Arbeiten überwiegend im Freien und unter Einwirkung von Kälte, starken Temperaturschwankungen, Zugluft und Nässe.

Das SG wies die auf Rente wegen Berufsunfähigkeit gerichtete Klage mit Urteil vom 07.11.1995 ab. Unter Bezugnahme auf das Gutachten des Dr.H. führte es aus, dass das bei der Klägerin bei Eintritt in die Versicherung bestehende Leistungsvermögen noch nicht im Sinne des § 43 Abs.2 Sozialgesetzbuch Teil VI (SGB VI) auf weniger als die Hälfte derjenigen einer vergleichbaren Versicherten herabgesunken sei. Die bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen würden durch funktionelle Leistungseinschränkungen ausreichend berücksichtigt, eine Einschränkung des zeitlichen Leistungsvermögens sei nicht zu begründen. Aber selbst wenn man von einem nur noch untervollschichtigen Leistungsvermögen ausgehe, stehe der Klägerin ein durch das Erziehungsgeldgesetz geschützter Teilzeitarbeitsplatz zur Verfügung.

Mit der Berufung wandte die Klägerin gegen die bisherige Beweisaufnahme ein, es sei keine neue Untersuchung erfolgt; ihre Ablehnung einer nervenärztlichen Untersuchung habe nur das Verfahren gegen das Versorgungsamt betroffen; auch seien Untersuchungen der Wirbelsäule etc. mit Röntgenbildern unterblieben, ihr verschlechterter psychischer Zustand nicht berücksichtigt worden. Sie verwies auf ein bereits früher festgestelltes depressives Syndrom sowie darauf, dass sie schon vor der Geburt ihrer Kinder vermehrt Konzentrationsschwierigkeiten und Überlastungsgefühle gehabt habe. Zu den Grundbedingungen ihres Berufes gehörten psychische Stabilität, Frustrationstoleranz und Belastbarkeit, worüber sie nur noch sehr begrenzt verfüge. Im Übrigen handle es sich nicht um eine rein sitzende Tätigkeit; neben therapeutischen Beratungsgesprächen von zwei bis vier Stunden täglich in der Beratungsstelle und Beratungsgesprächen außerhalb in der Justizvollzugsanstalt von ca. vier bis acht Stunden wöchentlich sowie Teamgesprächen und Supervision (ca. vier Stunden wöchentlich) seien Behördengänge zur Schuldenregulierung bei Banken und Gläubigern sowie betreffend die Suchtberatung bei Sozialämtern, Krankenkassen und Ärzten erforderlich; auch müssten Klienten häufig in Therapieeinrichtungen gefahren werden. Durch ihre Behinderung und die Folgeschäden wie Wirbelsäulenverkrümmung, Knie-, Fußgelenks- und Fußschwächen sowie das Post-Polio-Syndrom fühle sie sich in der Arbeitsfähigkeit physisch und psychisch eingeschränkt. Die Belastungen durch die Kinder sowie die angstvolle Aussicht auf Verschlimmerung verstärkten diese Situation. Die Klägerin verwies ferner auf fehlende Kenntnisse vieler Gutachter über das Post-Poliomyelitis-Syndrom und fügte ihrer Berufung Informationsmaterial des Bundesverbandes Poliomyelitis e.V. bei, ferner einen Untersuchungsbericht des Dr.H. vom 09.04.1996 betreffend eine chronische Instabilität beider Sprunggelenke.

Der Senat zog die Akten des Verfahrens L 15 Vi 4/96 betreffend die Anerkennung eines Post-Poliomyelitis-Syndroms bzw. einer MdE von mehr als 70 % nach dem Bundesseuchengesetz mit den Klageakten S 13 Vi 1/94 und 2/94 sowie den abgeschlossenen Klageakten S 11 Vi 1/90, S 15 Al 311/89 des SG Augsburg bei.

Der Senat holte weiterhin Befundberichte und ärztliche Unterlagen der behandelnden Ärzte Dr.L. (Bericht vom 18.11.1996) und Dr.U. (Bericht vom 28.02.1997) ein und beauftragte den zuvor im Verfahren L 15 Vi 4/96 mit einem Gutachten nach § 109 SGG beauftragten Prof.Dr.K. mit der Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage unter Berücksichtigung der Untersuchungsergebnisse des Parallelverfahrens zur Frage des Gesundheitszustandes und der Erwerbsfähigkeit der Klägerin in ihrem erlernten Beruf bzw. einem zumutbaren Vergleichsberuf.

In seinem Gutachten vom 01.10.1998 kam Prof.Dr.K. erneut zu der Diagnose eines Post-Poliomyelitis-Syndroms, das die Erwerbsfähigkeit der Klägerin beeinträchtige, wobei sich seit Antragstellung bzw. seit der Begutachtung im ersten Rentenverfahren eine allenfalls minimale Verschlechterung ergeben habe. Es handle sich um einen chronisch-schleichenden, regelmäßig gutartigen Verlauf des Krankheitsbildes, der genaue Zeitpunkt für eine Verschlechterung könne daher nicht angegeben werden. Zumutbar seien der Klägerin seit Antragstellung leichte Arbeiten, vorzugsweise im Sitzen, aber auch im Gehen und Stehen, für vier bis sechs Stunden täglich. Arbeiten, die den Einsatz der rechten Hand oder den intensiven körperlichen Einsatz des linken Armes und/oder der Beinmuskulatur erforderten, seien dagegen nicht möglich. Die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Drogenberaterin müsse als maßgeschneiderte Tätigkeit in Bezug auf die Behinderungen angesehen werden. Wegen der geklagten Wirbelsäulen- und Gelenksbeschwerden empfahl der Gutachter eine orthopädische Begutachtung.

Nach Einholung eines Befundberichtes des behandelnden Orthopäden Dr.E. vom 22.10.1998 erstellte der Orthopäde Dr.D. das Gutachten vom 26.07.1999 und erhob die Diagnosen: 1. Post-Poliomyelitis-Syndrom. 2. Schlaffe Lähmung des rechten Armes mit Restfunktion der rechten Hand. 3. Ausgeprägte Atrophie des rechten Armes. 4. Versteifung rechtes Schultergelenk und rechtes Handgelenk. 5. Pseudoradikuläres Cervikal-, Thorakal- und Lumbalsyndrom bei linkskonvexer Thorakolumbalskoliose. 6. Beginnende degenerative Veränderungen der Wirbelsäule. 7. Periarthropathia humeroscapularis linke Schulter. 8. Beginnende Aufbrauchveränderungen beider Kniegelenke. 9. Instabilität beider Sprunggelenke. 10. Hohl-/Spreizfuß beidseits.

Die Klägerin kann nach Auffassung des Gutachters aufgrund dieser Gesundheitsstörungen seit Antragstellung noch leichte Arbeiten teils sitzend, teils stehend und gehend vier bis sechs Stunden täglich verrichten, wobei Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, an gefährdenden Maschinen, unter Einfluss von Kälte, Nässe, Zugluft häufige Überkopfarbeiten, Akkord- oder Schichtarbeiten ausscheiden müssen. Zumutbar seien nur Arbeiten einer Einhänderin. Ihrer letzten Erwerbstätigkeit kann die Klägerin damit nach Auffassung des Gutachters noch nachgehen. Eine Einschränkung bei der Zurücklegung von Wegen besteht nicht.

Die Klägerin teilte nunmehr mit, sie habe ihr Arbeitsverhältnis bei der A. zum 13.05.1997 (Ablauf des Erziehungsurlaubs) gekündigt, da sie das Arbeitsverhältnis wegen fehlender Unterbringungsmöglichkeiten für ihre Tochter A. nicht habe antreten können. Eine Haushaltshilfe habe nur bis zum 14.05.1997 zur Verfügung gestanden, ein Kindergartenplatz erst ab September 1997. Sie habe sich arbeitslos gemeldet, zu einem Arbeitsverhältnis sei es jedoch innerhalb eines Jahres nicht gekommen, so dass sie sich schließlich im September 1998 selbständig gemacht habe. Seitdem sei sie in einem Umfang von ca. fünf Stunden wöchentlich und einem Umsatz von DM 1.500,00 monatlich (abzüglich ca. DM 500,00 Werbungskosten) selbständig tätig; sie führe Vorbereitungsgespräche auf medizinisch-psychologische Eignungsuntersuchungen für Kraftfahrer durch, für die sie je Doppelstunde DM 120,00 incl. Mehrwertsteuer verlange. Die Klägerin vertritt die Auffassung, die Voraussetzungen für eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit seien wegen Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes gegeben. Innerhalb eines Jahres sei kein adäquater Arbeitsplatz angeboten worden. Es habe auch ein wichtiger Grund für die Kündigung des vorhandenen Teilzeitarbeitsplatzes bei der A. bestanden; dazu komme es nicht allein auf gesundheitsbedingte Gründe an. Die gesamten Lebensumstände müssten berücksichtigt werden, hier die Tatsache, dass die dreijährige Tochter im Zeitraum von Mai bis September 1997 nicht anderweitig hätte betreut werden können.

Der Senat holte die Unterlagen der Klägerin beim Arbeitsamt Memmingen ein (Meldung als arbeitslos am 23.10.1997, zwei Vermittlungsversuche, Selbständigkeit ab 01.09.1998), ferner eine Auskunft der A. , Bezirksverband Schwaben e.V., vom 21.09.1999 (Bestätigung der Kündigung zum 13.05.1997; Begründung: "Leider kann ich die Stelle nicht mehr antreten, da ich zwei kleine Kinder habe und ohne Haushaltshilfe nicht in der Lage bin, diese Beschäftigung auszuüben").

Die Beklagte vertritt dazu im Wesentlichen die Auffassung, die Klägerin habe eine leidensgerechte Beschäftigungschance ausgeschlagen und dadurch den Leistungsfall der verminderten Erwerbsfähigkeit selbst herbeigeführt; die Kindererziehung könne im Rahmen der §§ 43, 44 SGB VI hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs aber keine Berücksichtigung finden. Im Übrigen stehe die selbständige Tätigkeit nicht nur einer Erwerbs-, sondern auch einer Berufsunfähigkeitsrente entgegen, da sie eine geeignete und ausreichende Lebensgrundlage darstelle. Schwankungen im erzielten Arbeitseinkommen nach unten sowie nach oben seien Ausdruck des mit der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit verbundenen unternehmerischen Risikos, auf das Erreichen der sog. "gesetzlichen Lohnhälfte" könne nicht abgestellt werden.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 07.11.1995 und den Bescheid vom 13.10.1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.03.1995 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, Rente wegen Berufsunfähigkeit ab Ablauf des Erziehungsurlaubs zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie auf die beigezogenen Rentenakten der Beklagten sowie auf die zeitweise beigezogenen Akten des Verfahrens L 15 Vi 4/96 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143 ff. SGG) ist zulässig, sie erweist sich aber nicht als begründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit seit Ablauf des Erziehungsurlaubs, da die Voraussetzungen des § 43 Abs.2 Satz 1 SGB VI jedenfalls für den vorliegenden Rentenantrag nicht gegeben sind. Nach dieser Bestimmung sind Versicherte berufsunfähig, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Dabei umfasst der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Dies trifft auf die Klägerin nicht zu. Feststeht nach den medizinischen Ermittlungen des Berufungsverfahrens, dass sie wegen des auf neurologischem Gebiet vorliegenden Folgezustands nach Kinderlähmung mit schlaffer Lähmung des rechten Arms und Versteifung im Schulter- und Handgelenk und Verdachts auf ein insgesamt als gutartig zu wertendes Post-Poliomyelitis-Syndrom sowie wegen der dargestellten, von Dr.D. erhobenen orthopädischen Befunde nurmehr leichte körperliche Arbeiten, die einem Einhänder zumutbar sind, zeitbegrenzt, nämlich vier bis sechs Stunden täglich, ausüben kann. Bezüglich dieser über die Beurteilung durch Dr.H. im erstinstanzlichen Verfahren hinausgehenden zeitlichen Einschränkung sind sich die vom Senat gehörten Gutachter Prof.Dr.K. und Dr.D. einig. Der Senat hatte keine Bedenken, ihnen zu folgen.

Die derzeit von der Klägerin ausgeübte beratende Tätigkeit als selbständige Sozialpädagogin stellt zwar eine diesem Leistungsvermögen entsprechende Tätigkeit dar. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann sie auf diese Tätigkeit im Rahmen der hier zu prüfenden Frage der Berufsunfähigkeit jedoch nicht verwiesen werden. Zwar ist grundsätzlich eine solche Verweisung auf eine tatsächlich ausgeübte selbständige Tätigkeit zulässig, jedoch nur mit der Einschränkung, dass der Versicherte in dieser bereits eine sichere Erwerbsgrundlage gefunden hat und die in der Regel schon seit längerer Zeit und im nennenswerten Umfang und mit wirtschaftlichem Erfolg betriebene Tätigkeit im eigenen Unternehmen nur fortzusetzen braucht (vgl. BSG, Urteil vom 23.06.1981 in SozR 2200 § 1246 Nr.80 m.w.N.). Dies ist bei der Klägerin nicht der Fall. Nach den eigenen Angaben und den dazu vorgelegten Unterlagen (Erlös-Auswertung für 1999, Umsatzsteuervoranmeldung für 1999 und 2000) wird die derzeitige selbständige beratende Tätigkeit nur in geringfügigem Umfang mit einem entsprechenden Einkommen ausgeübt und stellt keine ausreichende Erwerbsgrundlage dar (wobei die Klägerin glaubhaft angibt, dass die zunächst gut angelaufene selbständige Tätigkeit deshalb nicht so gut laufe, weil der in Betracht kommende Personenkreis die aus eigener Tasche zu bezahlenden hohen Kosten von DM 120,00 pro Beratungsstunde scheue).

Da die Klägerin gesundheitsbedingt nur noch Teilzeitarbeit verrichten und auf ihre selbständige Erwerbstätigkeit nicht verwiesen werden kann, ist nach den Beschlüssen des Großen Senats des BSG vom 10.12.1976 (SozR 2200 § 1246 Nr.13) für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit erheblich, ob für die in Betracht kommenden Erwerbstätigkeiten Arbeitsplätze vorhanden sind, die sie mit ihren Kräften und Fähigkeiten noch ausfüllen kann. Der Arbeitsmarkt darf ihr für diese Tätigkeiten nicht praktisch verschlossen sein. Nach der Rechtsprechung des Großen Senats ist der Arbeitsmarkt dem Versicherten dann praktisch verschlossen, wenn ihm weder der Rentenversicherungsträger noch das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres einen für ihn in Betacht kommenden Teilzeitarbeitsmarkt anbieten kann.

Die Klägerin verweist darauf, dass dies bei ihr der Fall sei. Während der Meldung beim Arbeitsamt in der Zeit vom 27.10.1997 bis 01.09.1998 ist ihr kein geeigneter Arbeitsplatz angeboten bzw. vermittelt worden (zwei Vermittlungsversuche führten nicht zum Erfolg).

Die Verschlossenheit des Arbeitsmarkts ist jedoch auch dann zu verneinen, wenn der Versicherte einen insoweit zu berücksichtigenden Arbeitsplatz inne hat oder wenn er eine ihm angebotene Stelle ablehnt. Wird ein geeigneter Arbeitsplatz angeboten, ist der Arbeitsmarkt als offen anzusehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Versicherte das Angebot annimmt, sofern ihm nicht ein wichtiger Grund für die Ablehnung zur Seite steht (vgl. BSG GS a.a.O.). Die Klägerin hatte bis Ablauf des Erziehungsurlaubs einen idealen, geradezu maßgeschneiderten Teilzeitarbeitsplatz bzw. einen Anspruch auf Rückkehr in diesen Arbeitsplatz, den sie aus den dargelegten Gründen jedoch aufgegeben hat. Damit ist sie entsprechend den Grundsätzen, die für die Entscheidung des Großen Senats maßgebend waren, so zu betrachten, als wenn sie ein Beschäftigungsangebot ausgeschlagen hätte. Der Versicherte muss nach den Ausführungen des Großen Senats bei der Suche nach einem geeigneten Teilzeitarbeitsplatz "nach Kräften mitwirken"; dies unterlässt er, wenn er einen zumutbaren Teilzeitarbeitsplatz ohne zwingenden Grund aufgibt (vgl. Kommentar zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, herausgegeben vom Verband deutscher Rentenversicherungsträger, § 43 SGB VI Anm.13.5). Dies schließt allerdings nicht aus, dass der Versicherte für einen späteren Zeitpunkt wieder die Verschlossenheit des Arbeitsmarkts geltend machen kann (vgl. BSG, Großer Senat a.a.O. für den Fall, dass dem Versicherten ein entsprechender Arbeitsplatz nach Ablauf eines Jahres oder nach einer Rentenbewilligung angeboten wird und der Arbeitsmarkt damit wieder als offen anzusehen ist).

Die Klägerin hat ihren leistungsgerechten Teilzeitarbeitsplatz nach Ablauf des Erziehungsurlaubes nicht aus einem zwingenden bzw. aus wichtigem Grund aufgegeben. Für diese Entscheidung waren nachvollziehbare familiäre Gründe maßgebend (kein Kindergartenplatz bzw. keine anderweitige Betreuungsmöglichkeit für die Tochter A. im Zeitraum von Mitte Mai bis Mitte September 1997), die aber in dem hier in Frage stehenden Zusammenhang entgegen der Auffassung der Klägerin keine Berücksichtigung finden können. Zwar trifft es zu, dass der Große Senat des BSG in seinen Beschlüssen vom 10.12.1976 im Rahmen der Erwägungen zur Verschlossenheit des Arbeitsmarkts keine näheren Ausführungen zu den Voraussetzungen eines wichtigen Grundes bei Ablehnung eines Arbeitsplatzangebots gemacht, also diesen Begriff nicht näher erläutert hat. Entsprechend der den gesetzlichen Bestimmungen des SGB VI innewohnenden Systematik und dem Sinn und Zweck der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, duch Krankheit und Gebrechen ausfallendes Erwerbseinkommen zu ersetzen, kann dafür ebenfalls nur auf medizinische, also gesundheitliche Gründe abgestellt werden. Es muss irrelevant bleiben, ob der Versicherte bei einer seinem Leistungsvermögen entsprechenden Teilzeitarbeit auch den Anforderungen des privaten Bereichs gerecht werden kann oder aus sonstigen Gründen glaubt, eine Berufstätigkeit nicht ausüben zu können. In diesen Fällen ist die Erwerbsfähigkeit auch bei Berücksichtigung des Teilzeitarbeitsmarktes nicht im Wesentlichen durch Krankheit und Behinderung beeinträchtigt, sondern durch den persönlichen Entschluss, z.B. familiären Gründen den Vorrang gegenüber einer Erwerbstätigkeit einzuräumen.

Wie lange allerdings der bisherige leistungsgerechte Teilzeitarbeitsplatz einer Rentengewährung aus Arbeitmarktgründen entgegensteht, muss letztlich offen bleiben. Nach den Ausführungen des Großen Senats (a.a.O.) ist die Geltendmachung der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes "für einen späteren Zeitpunkt" nicht ausgeschlossen. Für den streitgegenständlichen Rentenantrag kann sich die Klägerin darauf jedenfalls nicht berufen.

Bei dieser Sachlage konnte die Berufung keinen Erfolg haben. Sie musste mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückgewiesen werden.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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