S 2 RA 132/00

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 2 RA 132/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 8 RA 31/03
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Leistung von Waisenrente für ihre minderjährige Tochter aus der Versicherung des verstorbenen Lebensgefährten O N.

Der am 00.00.0000 geborene Versicherte O N verstarb am 00.00.1997. Dieser lebte seit 1989 bis zu seinem Tode mit der Klägerin in häuslicher Gemeinschaft.

Am 27.10.1998 beantragte die Klägerin für ihre Tochter N1 F (geboren am 00.00.0000) formlos die Leistung von Waisenrente aus der Versicherung des verstorbenen Lebensgefährten. Die Beklagte forderte die Geburtsurkunde der Tochter N1 an. Die Klägerin übersandte hiervon eine Ablichtung. In der Geburtsurkunde ist die Mutter N2 F1 F genannt. Wer der Vater ist, geht aus der Abstammungsurkunde nicht hervor. Mit Bescheid vom 01.07.1999 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Die Voraussetzungen des § 48 SGB VI seien in keiner Tatbestandsvariante erfüllt, weil die Vaterschaft nicht nachgewiesen sei. Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch. Zwar sei die Vaterschaft des Versicherten nicht festgestellt, N1 F habe aber im gemeinsamen Haushalt mit dem verstorbenen Versicherten gelebt und sei von ihm im Wesentlichen unterhalten worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.10.2000 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Voraussetzungen des § 48 SGB VI seien unter keinem Aspekt erfüllt. N1 F sei auch nicht als Pflegekind des Versicherten im Sinne des § 48 SGB VI einzuordnen, nur weil sie im gemeinsamen Haushalt mit dem Lebensgefährten der Mutter gelebt habe.

Mit der dagegen erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter und wiederholt ihre Argumentation aus dem Verwaltungsverfahren. Gegebenenfalls müsse die Vaterschaft im Wege der Exhumierung des verstorbenen Versicherten über eine DNA-Analyse erfolgen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 01.07.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.10.2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die am 00.00.0000 geborene Tochter N1 Halbwaisenrente aus der Versicherung des am 00.00.1997 verstorbenen O N zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung vertieft sie ihre Argumentation aus dem Verwaltungsverfahren insbesondere unter Anführung von Fundstellen zur Auslegung des Begriffs des Pflegekindes.

Im gerichtlichen Verfahren hat das Gericht die Klägerin im Erörterungstermin vom 23.05.2002 persönlich angehört. Ferner hat das Gericht Auskünfte des Einwohnermeldesamtes und des Standesamtes in Q eingeholt.

Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten auf die Gerichtsakte und die Akte des Verwaltungsverfahrens Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.

Die Klägerin ist nicht im Sinne von § 54 Absatz 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beschwert. Denn der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 01.07.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.10.2000 ist rechtmäßig und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt. Der Klägerin steht die begehrte Halbwaisenrente für die Tochter N1 aus der Versicherung des O N nicht zu. Kinder haben gemäß § 48 des Sechsten Sozialgesetzbuches (SGB VI) nach dem Tod eines Elternteils Anspruch auf Halbwaisenrente, wenn 1. sie noch einen Elternteil haben, der unbeschadet der wirtschaftlichen Verhältnisse unterhaltspflichtig ist, und 2. der verstorbene Elternteil die allgemeine Wartezeit erfüllt hat. Gemäß § 48 Abs.3 SGB VI werden (unter anderem) auch berücksichtigt: 1. Stiefkinder und Pflegekinder (§ 56 Abs.2 Nr.1 und 2 SGB I), die in den Haushalt des Verstorbenen aufgenommen waren. Zur Überzeugung des Gerichts ist mangels Eintragung in die Abstammungsurkunde von N1 F die Vaterschaft des Verstorbenen nicht nachgewiesen, noch ist N1 F unter Abwägung aller Argumente dafür und dagegen als Pflegekind des Versicherten oder entsprechend einem Pflegekind einzuordnen.

Zum einen spricht die Abstammungsurkunde deutlich dafür, dass die Vaterschaft des Versicherten nicht nachgewiesen ist. Auch verfügt das Standesamt in Q über keine Kenntnisse der Vaterschaft über die in der Abstammungsurkunde hinaus getroffenen Feststellungen. Die wirklich sichere positive Klärung der Vaterschaft des Versicherten wäre nur noch über eine DNA-Analyse möglich. Dazu ist Gewebematerial des Versicherten erforderlich. Hierzu bedürfte es einer Exhumierung des Versicherten, was auch von der Klägerseite angeregt worden ist. Zwar gilt im sozialgerichtlichen Verfahren der Amtsermittlungsgrundsatz. Bei der Frage, ob die Exhumierung des Versicherten hier anzuordnen war, waren jedoch die postmortalen Persönlichkeitsrechte des Versicherten und das Interesse der Klägerin an der hiesigen Prozessführung gegeneinander abzuwägen. Diese Abwägung ergibt im Verfahren auf Gewährung von Waisenrente ein Ergebnis zu Lasten der Klägerin.

Die Frage nach der eigenen Herkunft ist für einen Menschen eine zentrale Frage der Identitätsbildung. Deshalb haben die Oberlandesgerichte München (Az. 26 UF 1453/99 vom 19.01.2000) und Köln (Az. 14 UF 130/00 vom 01.12.2000) auch ganz zutreffend und mit weiteren Nachweisen dargelegt, dass im Rahmen eines Vaterschaftsfeststellungsverfahrens die DNA-Analyse unter Exhumierung des potentiellen, verstorbenen Vaters ein geeignetes Beweismittel ist und dort das Interesse des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung, wie bereits vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG NJW 89,891 und 97,1769) dargelegt, Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs.1 i.V.m. Art 1 Abs.1 des Grundgesetzes ist.

Dieser Gedankengang lässt sich so auf das Klageverfahren um eine Waisenrente nicht unreflektiert identisch übertragen. Gerade die Abwägung des Interesses der Klägerin am Verfahrensgegenstand einerseits mit der Totenruhe des Verstorbenen andererseits muss im hiesigen Verfahren, in dem die Vaterschaft nur eine Inzidentfrage und nicht der juristische Verfahrensgegenstand ist, zum gegenteiligen Abwägungsergebnis führen. Die Feststellung der Vaterschaft ist hier eine inzidente Frage über ein einzelnes Tatbestandsmerkmal des § 48 SGB VI. Sie ist nicht der Streitgegenstand im rechtlichen Sinne. Die Entscheidung des Gerichts erwächst nur hinsichtlich des Tenors in Rechtskraft und nicht auch bezüglich eines einzelnen Tatbestandsmerkmals, dessen Vorliegen oder Nichtvorliegen lediglich ohne Rechtskraft in den Urteilsgründen dargelegt wird. Jedes andere Gericht, bei dem wiederum die Inzidentfrage der Vaterschaft auftaucht, müsste in eine erneute Beweisaufnahme eintreten. Die Exhumierung ist ein gravierender Eingriff in die Totenruhe, was letztlich keiner näheren Erörterung bedarf. Sie kann vernünftigerweise höchstens einmal vorgenommen werden, da alles andere eine Verletzung der Totenruhe wäre. Sie muss daher dem familienrechtlichen Vaterschaftsfeststellungsverfahren vorbehalten bleiben. Denn das Gesetz bringt die besondere Bedeutung, die es der Feststellung der Abstammung beimisst darin zum Ausdruck, dass es in § 1600e des Bürgerlichen Gesetzbuches ein eigenständiges Verfahren auf Feststellung der Vaterschaft konstituiert. Dabei sieht Abs.2 der Norm für den Fall, dass der mögliche Vater verstorben ist, auch ein förmliches, postmortales Vaterschaftsfeststellungsverfahren vor. In diesem förmlichen Vaterschaftsfeststellungsverfahren ist die Frage der Vaterschaft der rechtliche Klagegegenstand. Die inhaltliche Frage der Vaterschaft wird dort somit im Tenor der Entscheidung beantwortet. Sie erwächst also in Rechtskraft. Die Exhumierung zur Feststellung der Vaterschaft muss daher dem förmlichen Verfahren auf Feststellung der Vaterschaft gemäß § 1600e BGB vorbehalten bleiben. Ein solches Verfahren hat die Klägerin nicht angestrengt und seine Anstrengung auch nie erwogen.

Zum anderen verhält sich der Sachverhalt auch nicht so, dass es dahingestellt bleiben könnte, ob N1 F nun Pflegekind oder leibliches Kind des Versicherten wäre und daher mindestens als Pflegekind zu behandeln sei, auch wenn zunächst einiges für eine solche Möglichkeit der Wahlfeststellung spricht und das Gericht selbst auch diesen Gedanken anfänglich verfolgt hat. Zwar spricht zunächst einmal die Überlegung des sogenannten "Erst-Recht-Schlusses" für eine Subsumtion eines im Haushalt lebenden Kindes, dessen väterliche Abstammung in der Geburtsurkunde nicht angegeben ist, unter die Definition des Pflegekindes. Denn wenn schon ein eindeutig nicht leibliches Kind als Pflegekind Waisenrente bzw. Halbwaisenrente bekommen kann, so muss dies für ein Kind, das Pflegekind oder leibliches Kind sein könnte, erst recht gelten, weil sowohl das leibliche Kind als auch das Pflegekind jeweils die Waisenrente erhalten soll, zwischen beiden Tatbestandsvarianten aber sicherlich keine Regelungslücke entstehen soll. Diese Argumentation setzt bei genauer Betrachtung aber voraus, dass das Kind, die nicht leibliche Abstammung als nachgewiesen unterstellt, dann im Übrigen die Definition des Pflegekindes erfüllen muss, da diese Wahlfeststellung sonst nicht möglich ist. Die Beklagte hat aber bereits zutreffend schriftsätzlich unter Anführung von Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass N1 F auch unabhängig vom Merkmal der Abstammung die Voraussetzungen des Begriffs des Pflegekindes in Bezug auf den Versicherten nicht erfüllt. Der Begriff des Pflegekindes ist in § 56 Abs.2 Nr. 2 SGB I legaldefiniert. Pflegekinder sind danach Personen, die mit dem Berechtigten durch ein auf längere Dauer angelegtes Pflegeverhältnis mit häuslicher Gemeinschaft wie Kinder mit Eltern verbunden sind. Gerade das Merkmal "wie Kinder mit Eltern" formuliert ein Ausschließlichkeitsverhältnis, wie auch die hierzu ergangene bisherige Rechtsprechung bestätigt. Es darf also kein Kontakt zu einer anderen Bezugsperson parallel bestehen oder denkbar sein. Das Kind muss aus der Obhut und Erziehungsgewalt der leiblichen Eltern ausgeschieden sein. Daran fehlt es hier. Die Mutter war während des gemeinsamen Zusammenlebens mit dem Versicherten nach wie vor die Erziehende. Zum Lebensgefährten der erziehenden Mutter entsteht nicht allein durch das Zusammenwohnen in einer Wohnung ein Pflegekindschaftsverhältnis (dazu Entscheidung des BSG vom 21.10.1998 zu Aktenzeichen B 9 VG 1/97R). Da somit die Frage, ob die Tochter der Klägerin, die Vaterschaft des Versicherten als eindeutig widerlegt unterstellt, dann jedenfalls Pflegekind des Versicherten gewesen wäre, ist zu verneinen. Dadurch verfällt dann aber auch das Argument, dass zwischen den beiden Tatbestandsvarianten Halbwaisenrente für leibliches Kind und Halbwaisenrente für Pflegekind keine Regelungslücke entstehen dürfe und daher eine Wahlfeststellung möglich sei. Auch eine systematische Auslegung im Kontext des § 48 SGB VI spricht hier gegen eine analoge Anwendung des § 48 SGB VI oder auch nur eine weitergehende Auslegung des Tatbestandsmerkmals "Pflegekind" bei einem Kind, das theoretisch vom Versicherten abstammen könnte, weil ein anderer jedenfalls als Vater auch nicht ausdrücklich festgestellt ist. Gegen die Eröffnung des Anwendungsbereichs des § 48 SGB VI spricht nämlich, dass die Waisen- und Witwenrente schon eine Ausnahme dazu ist, dass aus der Versicherung nur der Versicherte selbst Leistungen erhalten soll (Gläubigerinteresse). Der Personenkreis derjenigen, die über den Versicherten hinaus Zugriff auf die Versicherungsleistungen haben soll, muss im Interesse des Versicherers aus der Natur des Leistungsverhältnisses zwischen Versicherer und Versichertem klar und deutlich definiert sein. Dem würde eine erweiterte oder analoge Anwendung entgegen laufen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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