L 2 U 6/02

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 67 U 408/99
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 6/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 7. Dezember 2001 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Lendenwirbelsäulen- (LWS-) Erkrankung des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) anzuerkennen ist.

Der 1949 geborene Kläger war seit 1967 immer als Eisenflechter tätig, seit März 1979 durchgehend bei der Firma H und W Bau AG. Hierbei musste er nach seinen Angaben Verlegearbeiten von Stahlarmierungen für Brücken, Decken, Häuserwände, Fundamente u.a. verrichten. Dieses Arbeitsverhältnis endete zum 30. August 1997. Seit dem 30. Januar 1997 bestand wegen Wirbelsäulenbeschwerden Arbeitsunfähigkeit, die die Gutachterin Dr. N in dem Gutachten für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) - Berlin am 3. Juni 1997 als chronisch rezidivierendes LWS-Syndrom bei schwerer Osteochondrose L4/5, Osteoporose und Spaltbildung von L5 rechts und Muskelverspannungen, Ischialgie rechts bezeichnete. In Anbetracht der vom Kläger verrichteten körperlich schweren Arbeiten äußerte sie den Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit.

Bereits am 23. April 1997 hatte die AOK Berlin eine entsprechende Verdachtsanzeige erstattet, die zu arbeitstechnischen und medizinischen Ermittlungen der Beklagten führte. Der von ihr mit der Abgabe eines Gutachtens beauftragte Dr. R vertrat am 25. September 1997 die Auffassung, die den unteren LWS-Abschnitt betreffende Erkrankung führe zu erheblichen Funktionseinschränkungen beim Kläger. Andere nicht berufsbedingte Ursachen für deren Zustandekommen seien nicht bekannt. Allerdings bedürfe es vor einer endgültigen Aussage noch weiterer medizinischer Feststellungen durch die Beiziehung eines CT-LWS-Befundes von dem ihn behandelnden Orthopäden Dr. Z. Der angeforderte Kernspintomographie-Befund der LWS vom 22. September 1997 wurde dem mit einer Kausalitätsbeurteilung beauftragten Orthopäden Prof. Dr. Sch zugeleitet. Dieser stellte in Zusammenarbeit mit Dr. W in seinem Gutachten vom 17. Februar 1998 eine geminderte Trag- und Bewegungsfunktion der Lendenwirbelsäule fest. Diese resultiere aus Ver-schleißerscheinungen in mehreren Segmenten - hier: L4/5 und L5/S1 - mit Bandscheibenvorfällen in diesen Segmenten. Die angegebenen Verschleißerscheinungen seien deutlich über das Altersmaß hinausgehend ausgeprägt. Es bestehe eine Kongruenz zwischen Schadensort, Schmerzort und Ort der Funktionsminderung sowie den Röntgenbefunden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit -MdE- betrage 20 v.H.

Nach Beiziehung eines weiteren MDK-Gutachtens der Dr. H vom 5. Mai 1998 erbat die Beklagte eine gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage von der sie beratenden Ärztin Dr. He (Chirurgie/Unfallchirurgie). Diese gelangte am 2. November 1998 zu der zusammenfassenden Beurteilung, dass zwar die beruflichen Voraussetzungen zur Anerkennung einer BK-Nr. 2108 vorlägen. Medizinisch gesehen sei aber das Schadensbild nicht belastungskonform. Beim Eisenflechter sei insbesondere der thorakolumbale Übergang erheblich belastet. Bei dem Versicherten weise dieser kaum degenerative Aufbrauchszeichen auf. Darüber hinaus seien lediglich die beiden unteren Segmente betroffen. Hiermit unterscheide sich der Versicherte nicht wesentlich von der Normalbevölkerung.

Nachdem der Gewerbearzt Dr. S am 14. Dezember 1998 das Vorliegen einer BK-Nr. 2108 verneint hatte, lehnte das auch die Beklagte durch den Bescheid vom 15. Januar 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 1999 ab. Hierbei verwies sie insbesondere auf die Schlussfolgerungen der Dr. He, die diese aus den ärztlichen Feststellungen, insbesondere denen des Prof. Dr. Sch, gezogen hatte. Es fehle an einem belastungskonformen Schadensbild. Es seien lediglich die typischen Segmente von Verschleißerscheinungen betroffen, die auch in der Allgemeinbevölkerung, völlig unabhängig von der beruflichen Belastung, die meisten Veränderungen erfahren würden. Frau Dr. He habe festgestellt, dass eine dem Lebensalter vorauseilende Schädigung auch in den Segmenten L4/5 und L5/S1 nicht vorliege.

Das vom Kläger angerufene Sozialgericht hat einen Befundbericht der ihn behandelnden Orthopäden Dres. T, Z vom 14. September 1999 eingeholt und in Fotokopie u.a. das für die Landesversicherungsanstalt Berlin erstellte Gutachten des Neurochirurgen Dr. Ze vom 18. Juni 1998 sowie das Gerichtsgutachten (S ) des Neurochirurgen Prof. Dr. K vom 20. Juli 1999 zur Gerichtsakte genommen und dann den Orthopäden Dr. Ha zum medizinischen Sachverständigen bestellt. Dieser hat bei dem Kläger zahlreiche Erkrankungen des Bewegungsapparates gefunden, wobei die Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule den größten Leidensdruck bewirkten. Er hat die Veränderungen als

1. Abnutzung der Bandscheiben der HWS

2. Bandscheibenvorfall L4/5

3. Abnutzungen der kleinen Wirbelgelenke der HWS

4. Abnutzungen der Bandscheiben der LWS, besonders hier L4/5

5. Verdacht auf Osteoporose

6. Arthrose des li. Ileosacralgelenkes

7. Arthrose der Unkovertebralgelenke der HWS

bezeichnet (Gutachten vom 17. März 2000). In der Beurteilung heißt es, da sich erstmalig in den radiologisch mituntersuchten anderen Wirbelsäulenabschnitten degenerative Veränderungen gezeigt hätten, könne nicht allein die Arbeitsbelastung Ursache des Bandscheibenschadens der LWS sein. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass die Bandscheibenerkrankung konstitutionsbedingt angelegt gewesen sei. Es sei von einer wesentlichen Verschlimmerung des berufsunabhängigen Leidens "Bandscheibendegeneration der LWS" auszugehen. Diese Gesundheitsstörungen erfüllten die medizinischen Voraussetzungen zum Vorliegen einer BK-Nr. 2108. Die berufsbedingte MdE betrage 20 v.H ... Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Gesamt-MdE mit 30 v.H. zu bemessen sei, da deutliche funktionelle Defizite beständen sowie eine Chronifizierung der Schmerzen. Die hauptsächlichen Krankheitssymptome und Funktionsstörungen bezögen sich auf die LWS, verstärkt durch den Bandscheibenschaden.

Die Beklagte hat demgegenüber unter Hinweis auf das erstmalige Auftreten von Lumbalgien im Juni 1992 eine klare Differenzierung zwischen dem beruflich bedingten und dem davon unabhängigen anlagebedingten Teil des LWS-Leidens vermisst. Unter Bezugnahme auf ein orthopädisches Zusammenhangsgutachten nach Aktenlage der Dres. Tä und Schr vom 24. November 2000 hat sie außerdem geltend gemacht, dass belastungsadaptive Reaktionen als röntgenologische Hinweise im Sinne eines Anpassungsphänomens hinsichtlich außergewöhnlicher und regelmäßiger/langjähriger Belastungseinwirkung nicht vorlägen.

Der um eine zusätzliche Stellungnahme ersuchte Gerichtsgutachter Dr. Ha hat am 31. Mai 2001 daran festgehalten, dass in Anbetracht fehlender anlagebedingter Faktoren als Ursache für die radiologisch sichtbaren Veränderungen die berufliche Exposition wahrscheinlich sei. Anhand der Röntgenaufnahmen von 1977 habe zweifelsfrei eine anlagebedingte statische Skelettveränderung ausgeschlossen werden können. Es habe auch ein belastungskonformes Schadensbild mit Vorverlagerung der Anpassungszeichen nachgewiesen werden können.

Das Sozialgericht hat die Beklagte am 7. Dezember 2001 dazu verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Es hat mit den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen, dass der Kläger in seiner Berufstätigkeit als Eisenbieger über einen Zeitraum von 30 Jahren hinweg belastend im Sinne der BK-Nr. 2108 gearbeitet habe. Aufgrund der Gutachten des Prof. Dr. Sch und des Dr. Ha sei außerdem bewiesen, dass die erheblichen degenerativen Erkrankungen im Bereich der unteren LWS kausal auf die beruflichen Belastungen des Klägers zurückzuführen seien. Das festgestellte Schadensbild sei auch belastungskonform. Das hätten Prof. Dr. Sch und Dr. Ha auf der Grundlage der allgemein anerkannten und auch von Dr. Tä/Dr. Schr dargestellten arbeitsmedizinischen Erkenntnisse schlüssig und nachvollziehbar begründet. Danach sei eine belastungsbedingte Schädigung am ehesten dort zu erwarten, wo die Belastungen kumulieren würden und sich am stärksten auswirkten. Das sei bei dem Kläger der Fall. Die Beklagte sei deshalb verpflichtet, eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO anzuerkennen und dem Kläger Entschädigungsleistungen zu erbringen. Die MdE von 20 v.H. sei aufgrund des Ausmaßes der mit der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS verbundenen funktionellen Einschränkungen gerechtfertigt.

Gegen das ihr am 17. Januar 2002 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten vom 7. Februar 2002. Das Sozialgericht habe in seinem Urteil zu Unrecht ein belastungskonformes Schadensbild einer BK-Nr. 2108 bejaht. Die vom Sozialgericht zur Grundlage seiner Entscheidung gemachten Gutachten setzten sich mit der Problematik der Belastungskonformität des Schadensbildes nicht auseinander. Als belastungskonform könne man ein Schadensbild dann bezeichnen, wenn sich an allen Lendenwirbeln dem Alter deutlich vorauseilende osteochondrotische und spondylotische Reaktionen fänden, wobei eine Betonung der Osteochondrose nach unten und der Spondylose mehr zum oberen Bereich der LWS für die Verursachung durch körperliche Belastungen sprächen. Ein solches Befundbild fehle bei dem Kläger. Nicht einmal an den vom Bandscheibenschaden betroffenen Segmenten seien derartige dem Alter vorauseilende Reaktionen zu finden. Außerdem werde die Bedeutung konkurrierender Ursachenfaktoren weder diskutiert noch beachtet (Stellungnahme der Dres. Tä, Schr vom 22. März 2002).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 7. Dezember 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Verwiesen wird außerdem auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte mit den fotokopierten Unterlagen des zum Aktenzeichen S geführten Rechtsstreits und auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die vorlagen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht entschieden, dass das Schadensbild des Klägers an der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit nach Nr. 2108 der BKVO anzuerkennen ist und dass er Anspruch auf eine Verletztenteilrente nach einer MdE von 20 v.H. hat.

Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Siebentes Buch -SGB VII- die Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet hat und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII bezeichneten Tätigkeiten erleidet. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten Berufskrankheiten gehören nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO "bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Für deren Vorliegen ist ein doppelter ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei reicht sowohl für die Bejahung der haftungsbegründenden als auch der haftungsausfüllenden Kausalität die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG-, u.a. BSGE 58/76, 79 m.w.N.). Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 45/285, 286).

Nach den schon im Verwaltungsverfahren von den Gutachtern Prof. Dr. Sch/ Dr. W getroffenen und im Gerichtsverfahren von dem Sachverständigen Dr. Ha bestätigten Feststellungen liegen bei dem Kläger erhebliche, über das altersgemäße Ausmaß deutlich hinausgehende Bandscheibenschädigungen und degenerative Veränderungen im Bereich der LWS-Segmente L4/L5 und L5/S1 vor. Außerdem bestehen erhebliche degenerative Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule. Beide Ärzte haben zudem die an sie gestellte Frage bejaht, ob zwischen der langjährigen Tätigkeit des Klägers als Eisenflechter, die auch von der Beklagten als wirbelsäulengefährdend und generell geeignet im Sinne der BK-Nr. 2108 eingestuft wird, und der bandscheibenbedingten Erkrankung ein Kausalzusammenhang bestehe. Ihrer Auffassung hat sich das Sozialgericht in seinem umfassend begründeten und sich mit der Kritik der Beklagten an den fachärztlichen Schlussfolgerungen schlüssig auseinandersetzenden Urteil angeschlossen. Seine Ausführungen überzeugen den Senat. Er nimmt hierauf, um Wiederholungen zu vermeiden, Bezug (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die Beklagte wendet sich mit der Berufung gegen das vom Sozialgericht vertretene und vom Senat als nachvollziehbar angesehene Ergebnis insbesondere mit ihrer durch gutachterliche Stellungnahmen nach Aktenlage der Dres. Tä und Schr vom Institut für medizinische Begutachtung Kassel vom 24. November 2000 und 22. Mai 2002 untermauerten Auffassung, es fehle am Nachweis eines belastungskonformen Schadensbildes (a) und der Beachtung und Diskussion konkurrierender Ursachenfaktoren (b). Auch diese Ärzte gehen im Einverständnis mit den Feststellungen des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten davon aus, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen einer langjährigen schweren Hebe- und Tragebelastung des Klägers sowie Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung in seinem Beruf als Eisenflechter auf der Grundlage der Definition der BK-Nr. 2108 erfüllt sind. Insoweit besteht auch nach Auffassung des Senats, der sich diesen Erkenntnissen anschließt, kein weiterer Aufklärungsbedarf.

a) Bei der Prüfung des Vorliegens der arbeitsmedizinischen Voraussetzungen lässt sich die Beklagte von zusätzlichen Maßstäben leiten, wenn sie unter Berufung auf die gutachterlichen Stellungnahmen der Dres. Tä und Schrdie Auffassung vertritt, der Anspruch des Klägers sei ausgeschlossen, weil wegen fehlender belastungsadaptiver Reaktionen kein belastungskonformes Schadensbild vorliege. Diese Kriterien sind bisher in der medizinischen Fachliteratur nicht einhellig anerkannt. Nach den Erfahrungen des Senats handelt es sich vielmehr um einen nicht ausreichend herausgearbeiteten Standard, der auch nicht von allen Berufsgenossenschaften mit der gleichen Konsequenz angewendet wird wie von der Beklagten. Unter Zugrundelegung der unfallversicherungsrechtlichen Fachliteratur (insbesondere Schönberger/Mehrtens/Valentin, "Arbeitsunfall und Berufskrankheit", 6. Auflage - 1998, S. 535 ff. und Mehrtens/Perlebach, BKVO-Kommentierung, M 2108, Ziffer 7.1, Stand November 2001) bestimmt sich die Beurteilung der bandscheibenbedingten Erkrankung, sofern sich andere Ursachenfaktoren wie insbesondere anlagebedingte Prädispositionen ausschließen lassen, nach folgenden Maßstäben:

1. liegen bildtechnisch und klinisch nachweisbare segmentale Bandscheibenveränderungen vor, deren Folgen das altersdurchschnittlich zu erwartende Ausmaß überschreiten?

2. stimmt die Lokalisation der bildtechnisch nachweisbaren Veränderungen mit den festgestellten Funktionseinschränkungen und der beruflichen Exposition überein?

Ob das im hauptsächlich betroffenen Wirbelsäulenabschnitt festzustellende Schadensbild nach Art und Lokalisation belastungskonform ist, muss differenziert nach Art und Intensität der belastenden Einwirkungen sowie unter Berücksichtigung konstitutioneller Faktoren beurteilt werden.

Die Sachverständigen Prof. Dr. Sch und Dr. Ha sind nach diesen Maßstäben verfahren. Sie haben festgestellt, dass die röntgenologisch und klinisch nachweisbaren Veränderungen der unteren LWS auch mit den von ihnen bei der Untersuchung festgestellten Funktionseinschränkungen und dem Schmerzensbild des Klägers übereinstimmen. Außerdem überschreiten die Veränderungen an der unteren LWS vom klinischen Krankheitsbild her (vgl. Dr. Ha S. 96 GA) das altersübliche Ausmaß. Der Senat hat deshalb keine Bedenken, den als erfahrene Sachverständige bekannten und mit der Kausalitätsbeurteilung vertrauten Ärzten in ihrer Beurteilung zu folgen.

Soweit die Dres. Tä und Schr und mit ihnen die Beklagte zusätzlich für das Vorliegen eines belastungskonformen Schadensbildes die Verknüpfung sogenannter belastungsadaptiver Reaktionen verlangen (Anpassungsphänomen), die auch gutachterlich untersucht und bewertet werden sollten, gehen sie über die bisher in der gesetzlichen Unfallversicherung zur Beurteilung eines Schadensbildes im Rahmen einer BK-Nr. 2108 üblichen Kriterien (siehe insoweit a.a.O.), die am ehesten den Vorgaben in dem vom BMA herausgegebenen Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO (BArbBl. 1993, Heft 3) gerecht werden, hinaus. Der Senat ist sich zwar darüber klar, dass die Merkblätter nicht den letzten Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben und deshalb eine zwar wichtige aber nicht ausreichende Informationsquelle für die Praxis darstellen (vgl. BSG SozR 3-5670 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2) und dass deshalb auch neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse heranzuziehen sind. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die neuen Erkenntnisse auf einer medizinisch-wissenschaftlichen Grundlage beruhen, und von den beteiligten Fachkreisen überwiegend zumindest akzeptiert werden (BSG SozR 3-2200 § 551 Nr. 16). Dass das Erfordernis des Vorhandenseins adaptiver Reaktionen von den beteiligten Fachkreisen überwiegend zumindest akzeptiert wird, vermag der Senat auch dem seiner Auffassung entgegenstehenden Urteil des LSG Niedersachsen vom 6. April 2000 - L 6 U 163/99 ZVW - (in Breithaupt 2000/818 ff.) mit den dortigen Literaturhinweisen, insbesondere auf das Gutachten des Dr. Schröter, 1999 (wohl wesentlich inhaltsgleich mit seinem Aufsatz "Berufskrankheit Nr. 2108 bis 2110 - Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule" in HVBG-INFO 29/2002, S. 2717 ff. und dessen Ausführungen im hiesigen Verfahren) nicht zu entnehmen.

Vielmehr befasst sich nach Angaben von S. Brandenburg (vgl. HVBG-Info 29/2002, insbesondere S. 2731) eine vom Verwaltungsausschuss "Berufskrankheiten" der Hauptgeschäftsführerkonferenz beim HVGB gebildete Expertengruppe intensiv mit der Formulierung konsensfähiger medizinischer Beurteilungskriterien zu den BK-Nrn. 2108-2110: Zu den zentralen Themen gehört hiernach u.a. die Frage, ob belastungsadaptive Veränderungen für die Bejahung eines Ursachenzusammenhangs "obligat" sind.

Nach Auffassung des Senats kann jedenfalls ein von erfahrenen medizinischen Sachverständigen bestätigter und nachvollziehbar begründeter Ursachenzusammenhang zwischen einem - wie hier - den medizinischen Vorgaben im Merkblatt entsprechenden Bandscheibenschaden in den Segmenten L4/L5 und L5/S1 und einer langjährigen - wie hier 30 Jahre dauernden - Einwirkung und den weiteren Folgen (Funktionsbeeinträchtigung der LWS und Schmerzhaftigkeit) nicht mit dem Hinweis auf den fehlenden Nachweis belastungsadaptiver Reaktionen ausgeschlossen werden.

b) Soweit die Beklagte im Berufungsverfahren mit den gutachterlichen Stellungnahmen der Dres. Tä/Schr eine fehlende Diskussion konkurrierender Ursachenfaktoren (im Rahmen der bandscheibenbedingten Erkrankung als multifaktoriellem Geschehen) in den zur Grundlage der rechtlichen Bewertung gemachten Gutachten des Dr. Ha und des Prof. Dr. Sch rügt, überzeugt das den Senat gleichfalls nicht. Diesen Ärzten sind bei der Untersuchung des Klägers und der Auswertung der über ihn zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel keine sonstigen Deformitäten oder anderen bedeutsamen Erkrankungen aufgefallen, die den Erkrankungsverlauf des Klägers in so entscheidendem Maße mitbestimmen könnten, dass sich hieraus eine messbare MdE nicht mehr ergäbe. Den erstmalig von Dr. Ha in seinem Gutachten beschriebenen röntgenologisch gesicherten ausgeprägten Abnutzungserscheinungen der Halswirbelsäule, die Prof. Dr. Sch, Dr. Ze und Prof. Dr. K in ihren Gutachten entgangen sind, hat er bei der Einschätzung der Gesamt-MdE keine Bedeutung beigemessen. Diese wird vielmehr von den deutlichen funktionellen Defiziten und den chronifizierten Schmerzen der LWS, verstärkt durch den Bandscheibenschaden, bestimmt. Hiervon bemisst er den anlagebedingten Anteil mit 10 v.H. und die hier maßgebliche berufsbedingt verursachte MdE mit 20 v.H.

Im Hinblick darauf, dass die anerkannten LWS-Schäden von Funktionseinschränkungen, einem lumbalen Schmerzsyndrom und Muskelverspannung begleitet werden, ist die hierfür von den Ärzten Dr. Har und Prof. Dr. Sch vorgeschlagene MdE von 20 v.H. nach Auffassung des Senats angemessen.

Das Urteil des Sozialgerichts Berlin war mithin zu bestätigen.

Die dem Ergebnis in der Hauptsache folgende Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Ziffern 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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