L 10 AL 392/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 15 AL 759/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 392/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.09.1999 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) sowie die Erstattung zu Unrecht bezogener Leistungen und Beiträgen zur Krankenversicherung in Höhe von zusammen 19.340,- DM.

Der am 1932 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er war vom 04.07.1979 bis 31.12.1993 als Maschinenarbeiter bei der Firma F. (A.) beschäftigt. Am 08.12.1993 meldete er sich mW zum 01.01.1994 arbeitslos. Dabei gab er als Wohnadresse "V.berg, B." an. Er erklärte, Alg unter der erleichterten Voraussetzung des § 105 c Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in Anspruch nehmen und am Erwerbsleben nicht mehr voll teilnehmen zu wollen. Mit Bescheid vom 20.01.1994 bewilligte die Beklagte Alg ab 01.01.1994. Leistungen bezog der Kläger bis 31.12.1994. Ab 01.01.1995 erhielt er Altersrente von der LVA Schwaben.

Am 03.02.1998 teilte die LVA Oberfranken/Mittelfranken (LVA) der Beklagten mit, der Kläger habe seinen Wohnsitz bereits seit 01.02.1994 in die Türkei verlegt. Dies ergebe sich aus einem Schreiben des Klägers vom 30.07.1997 an die LVA Schwaben sowie aus einer Auskunft des Einwohnermeldeamtes der Stadt B. vom 30.07.1997. Mit Bescheid vom 10.02.1998 hob die Beklagte die Alg-Bewilligung für die Zeit vom 01.02.1994 bis 31.12.1994 auf und forderte eine Überzahlung von 14.178,80 DM sowie die für diesen Zeitraum entrichteten Krankenversicherungsbeiträge in Höhe von 5.161,20 DM vom Kläger zurück.

Im nachfolgenden Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, er habe sich nur vom 22.03.1994 bis 17.07.1994 berechtigt in der Türkei aufgehalten, sei jedoch anschließend wieder nach Deutschland zurückgekehrt und habe seinen Wohnsitz in die B. Straße in B. zu seiner Verwandten E. K. verlegt. Dies habe er dem Arbeitsamt mitgeteilt. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 06.07.1998 mit der Begründung zurück, der Kläger habe infolge der Rückkehr in die Türkei dem deutschen Arbeitsmarkt ab 01.02.1994 nicht mehr zur Verfügung gestanden, so dass der Anspruch auf Alg ganz weggefallen sei. Diese wesentliche Änderung habe der Kläger dem Arbeitsamt nicht mitgeteilt.

Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 10.02.1998 idF des Widerspruchsbescheides vom 06.07.1998 aufzuheben. Zur Begründung hat er vorgetragen, er sei nicht bereits am 01.02.1994 in die Türkei zurückgekehrt, sondern erst im Juli/August 1997. Bis dahin sei er unter der Anschrift B. Straße, B. bei E. K. erreichbar gewesen. Die neue Anschrift habe er zwischen dem 5. und 8. Januar 1994 beim Postamt angegeben. Auch die Beklagte habe für ihn bestimmte Mitteilungen an diese Anschrift gesandt. Der Kläger legte entsprechend adressierte Bescheide der Beklagten vom 07.12.1994/11.01.1995 vor. Oft habe er seinen Freund M. S. in I. besucht, sei dort zwei oder drei Tage geblieben - im Februar sei er eine Woche, im März 1994 habe er sich 14 Tage bei seinem Freund aufgehalten - und dann nach B. zurückgekehrt. Im November 1994 habe er sich beim Arbeitsamt erneut persönlich gemeldet. Anschließend habe er auf Anraten des Arbeitsamtes einen Rentenantrag gestellt.

Mit Urteil vom 28.09.1999 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Verlegung des Wohnsitzes in die Türkei bereits zum 01.02.1994 ergebe sich aus dem Schreiben des Klägers vom 30.07.1997 an die LVA und aus der Auskunft des Einwohnermeldeamtes der Stadt B ... Unabhängig davon habe der Kläger bereits schon ab 08.01.1994 der Beklagten für Vermittlungsbemühungen nicht mehr zur Verfügung gestanden, weil er seinen Wohnsitz nach B. , B. Straße verlegt habe, ohne den Umzug der Beklagten mitzuteilen. Die Erteilung eines Nachsendeantrages bei der Post sei nicht schlüssig vorgetragen. Die Genehmigung der Ortsabwesenheit vom 22.03.1994 bis 17.07.1994 führe zu keinem anderen Ergebnis, da zu dieser Zeit Verfügbarkeit bereits nicht mehr vorgelegen habe.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und ausgeführt: Das Schreiben vom 30.07.1997 an die LVA habe er nicht selbst verfasst. Es sei von einer Mitarbeiterin des Versichertenältesten in B. geschrieben worden. Das darin erwähnte Rückkehrdatum 01.02.1994 sei ihm unerklärlich. Tatsächlich habe er sich jederzeit überprüfbar bis 1997 in Deutschland bei seiner Nichte aufgehalten. Der Kläger legte eine Bestätigung des Vorstehers der Gemeinde B. vom 01.12.1999 über seine endgültige Rückkehr in die Türkei im August 1997 vor.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 28.09.1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10.02.1998 idF des Widerspruchsbescheides vom 06.07.1998 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialge richts Nürnberg vom 28.09.1999 zurückzuweisen.

Ein an den Kläger gerichtetes Schreiben des Arbeitsamtes Augsburg vom 10.11.1994 habe nicht zugestellt werden können und sei mit dem Vermerk "B. Straße in B." zurückgesandt worden. Das Arbeitsamt habe die Änderung der Anschrift aufgenommen und einen erneuten Zustellungsversuch unternommen. Hierauf habe der Kläger am 29.11.1994 dem Arbeitsamt geantwortet. Erst am 06.02.1998 sei der Beklagten bekannt geworden, dass der Kläger seinen Wohnsitz bereits am 01.02.1994 in die Türkei verlegt habe. Die Beklagte legte eine Auskunft der Stadt B. aus dem Melderegister vom 18.08.2000 vor. Danach wurde der Kläger am 12.01.1995 von Amts wegen zum 01.02.1994 in die Türkei abgemeldet.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Leistungsakten der Beklagten, die Rentenakten der LVA Oberfranken/Mittelfranken sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, denn die Beklagte durfte die Alg-Bewilligung aufheben und zu Unrecht bezogene Leistungen sowie zur Krankenversicherung entrichtete Beiträge vom Kläger zurückfordern.

Zwar ist die Beklagte vor Erlass des Bescheides vom 10.02.1998 ihrer Verpflichtung auf Anhörung des Klägers (§ 24 Abs 1 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren - SGB X -) nicht nachgekommen. Dieser Verfahrensmangel ist jedoch durch Nachholung der Anhörung im Widerspruchsverfahren geheilt worden, ohne dass es einer eigenständigen Nachholungshandlung bedurft hätte (§ 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X).

Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 20.01.1994 ist § 48 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mW für die Zukunft aufzuheben (Satz 1). Der Verwaltungsakt soll mW vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse ua aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteilige Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Satz 2 Nr 2). Bei dem genannten Bewilligungsbescheid handelte es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (BSG SozR 3 - 4100 § 38 Nr 1). Die erforderliche wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, ist darin zu sehen, dass der Kläger infolge des Umzugs vom Januar 1994 in die B. Straße, B. , der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung stand. Anspruch auf Alg hat nämlich nur der Arbeitslose, der der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht (§ 100 Abs 1 AFG idF vom 25.06.1969). Nach § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG (idF dG vom 23.07.1979 BGBl I S 1189) ist Voraussetzung für die Verfügbarkeit ua, dass der Arbeitslose das Arbeitsamt täglich aufsuchen kann und für das Arbeitsamt erreichbar ist. Hierzu bestimmt § 1 Satz 1 der insoweit auf § 103 Abs 5 Satz 1 AFG gestützten Aufenthaltsanordnung vom 03.10.1979 (ANBA S 1388) idF der zweiten Änderungsanordnung vom 09.03.1990 (ANBA S 600), dass das Arbeitsamt den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des Arbeitsamtes maßgeblichen Anschrift erreichen können muss.

Für die Zeit vom 01.02.1994 bis Ende 1994 mangelte es an der vom Kläger benannten, für die Zuständigkeit des Arbeitsamtes maßgeblichen Anschrift. Zwar hat das Arbeitsamt die durch den Postrücklauf am 14.11.1994 bekannt gewordene Anschrift des Klägers aufgenommen. Solange aber der Arbeitslose dem Arbeitsamt seine aktuelle Anschrift nicht selbst mitteilt, steht er der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung (BSG SozR 4100 § 103 Nr 47). Bis Ende 1994 erfolgte durch den Kläger keine entsprechende Mitteilung an das Arbeitsamt. Zwar hat der Kläger geltend gemacht, er habe dem Postamt die neue Anschrift bekannt gegeben. Es kam in diesem Zusammenhang aber nicht darauf an, dass der Kläger irgendwie erreichbar war oder er dafür Sorge getragen hat - zB durch einen Postnachsendeantrag (BSG Urteil vom 29.04.1992 - 7 RAr 4/91 -), dass ihm die an die frühere Anschrift gerichtete Post erreicht, denn es muss der Arbeitslose unter der von ihm dem Arbeitsamt mitgeteilten Wohnanschrift auch tatsächlich angetroffen werden können (BSG SozR 4100 § 103 Nr 47; BSG Urteil vom 25.04.1990 - 7 RAr 20/89 - und 29.04.1992 - 7 RAr 4/91 -). Das war bei dem Kläger nicht der Fall. Der Kläger hielt sich nämlich ab Januar 1994 nicht mehr unter der dem Arbeitsamt im Antrag vom 13.12.1993 benannten Anschrift "V.berg, B." auf. Das hat zu einer wesentlichen Änderung iS § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X geführt.

Auf die Erreichbarkeit iS § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG kann auch nicht deshalb verzichtet werden, weil der Kläger Alg unter der erleichterten Voraussetzung des § 105 c AFG bezog.

Gemäß § 105 c Abs 1 Satz 1 AFG hat Anspruch auf Alg auch, wer das 58.Lebensjahr vollendet hat und die in den §§ 101 bis 103 AFG genannten Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg allein deshalb nicht erfüllt, weil er nicht bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder an zumutbaren beruflichen Bildungsmaßnahmen teilzunehmen (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 2 AFG). Mit dieser Regelung wird lediglich die sogenannte subjektive Verfügbarkeit in Form der Vermittlungsbereitschaft als (teilweise) entbehrlich angesehen. An den Merkmalen der objektiven Verfügbarkeit - also auch an der postalischen Erreichbarkeit für das Arbeitsamt - wird jedoch festgehalten (BSG Urteil vom 14.09.1995 - 7 RAr 14/95; BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 16). Dieses Erfordernis der Erreichbarkeit verstößt nicht gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes. Durch dieses Erfordernis soll die Vermittlung in Arbeit (§ 5 AFG) sichergestellt werden. Es dient ferner der Überprüfung des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen (Arbeitslosigkeit, objektive Verfügbarkeit, Anrechnung von Arbeitsentgelt).

Der Kläger war gemäß § 60 Abs 1 Satz 1 Nr 2 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB I) zur Mitteilung seiner neuen Anschrift verpflichtet. Er hat die neue Anschrift jedenfalls bis zum Ende des Leistungsbezugs am 31.12.1994 dem Arbeitsamt nicht selbst mitgeteilt. Dieses Unterlassen war grobfahrlässig iS der Legaldefinition des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 Halbsatz 2 SGB X, denn der Kläger hat das Merkblatt für Arbeitslose, das die Beklagte auch in türkischer Sprache ausgibt und in dem auch auf die Pflicht zur Mitteilung der Anschriftenänderung - auch innerhalb desselben Wohnortes - hingewiesen wird, ausweislich seiner unterschriftlichen Bestätigung vom 13.12.1993 erhalten. Darüber hinaus hat er die formularmäßige Erklärung nach § 105 c AFG unterschrieben, in der darauf hingewiesen wird, dass er einen Leistungsanspruch ua nur hat, wenn er für das Arbeitsamt erreichbar ist und es täglich aufsuchen kann (Aufenthaltspflicht) und wenn er Veränderungen (zB Krankheit, Ortsabwesenheit) dem Arbeitsamt unverzüglich anzeigt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger diese Hinweise wegen in seiner Person liegenden Umständen nicht verstanden hat.

Gemäß § 330 Abs 3 SGB III iVm § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X hatte die Aufhebung des Verwaltungsakts als gebundene Entscheidung, also ohne Ermessensausübung, zu erfolgen (Niesel, SGB III, 2.Aufl, § 330 RdNr 49 f). Die Jahresfrist des § 48 Abs 4 S 1 SGB X iVm § 45 Abs 4 S 2 SGB X wurde dabei eingehalten. Zwar ist der Beklagten die neue Anschrift des Klägers bereits im November 1994 durch Postrücklauf und Vermerk des Zustellers bekannt geworden. Auf das Umzugsdatum 01.02.1994 konnte die Beklagte aber erst nach Eingang des Schreibens der LVA vom 03.02.1998 schließen. Erst damit war der Beklagten diese Tatsache so hinreichend bekannt, dass ohne Weiteres der Schluss auf einen Sachverhalt gezogen werden konnte, der die Rücknahme rechtfertigte (BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 32; Wiesner in v.Wulffen, SGB X, 4.Aufl, § 45 RdNr 33). Auch ohne ein entsprechendes Vorbringen der Beklagten hatte der Senat den Verwaltungsakt von Amts wegen - also auch bezüglich der rechtlichen Folgen des Ortswechsels- umfassend zu prüfen und alle Tatsachen und rechtlichen Gesichtspunkte unabhängig von der im Verwaltungsakt gegebenen Begründung zu berücksichtigen (Meyer-Ladewig, SGG, 7.Aufl, § 54 RdNr 35).

Die zu Unrecht erbrachten Leistungen sind gemäß § 50 SGB X, die zu Unrecht entrichteten Beiträge gemäß § 335 Abs 1 S 1 SGB III zu erstatten. Die Beklagte hat die Erstattungsforderung zutreffend errechnet. Insoweit hat der Kläger Einwände auch nicht erhoben.

Aus diesen Gründen ist die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 24.11.1999 zurückzuweisen, ohne dass es noch entscheidungserheblich darauf ankäme, ob der Kläger die Bundesrepublik Deutschland tatsächlich bereits zum 01.02.1994 verlassen hat. Insoweit waren daher weitere Ermittlungen entbehrlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

Gründe, die Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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