L 18 B 399/00 SB PKH

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
18
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 4 SB 209/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 B 399/00 SB PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Bayreuth vom 17.11.2000 aufgehoben und dem Kläger für das sozialgerichtliche Verfahren antragsgemäß Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung ab 10.04.2000 bewilligt und Rechtsanwalt Dr.C. R. beigeordnet.

Gründe:

I.

Der Kläger begehrt die Aufhebung des ablehnenden Prozesskostenhilfe-Beschlusses vom 17.11.2000, die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) und die Beiordnung von Rechtsanwalt Dr.C. R ...

In der Hauptsache streiten die Beteiligten darüber, ob die Behinderungen des Klägers mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 statt 80 zu bewerten sind und ob ihm das Merkzeichen G zusteht.

Der Beklagte hatte beim Kläger mit Bescheid vom 01.12.1999 Behinderungen mit einem GdB von 80 festgestellt. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30.07.1999).

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Bayreuth hat der Kläger weiterhin die Feststellung eines GdB von 100 und die Zuerkennung des Merkzeichens G begehrt.

Am 10.04.2000 hat der Kläger beantragt, ihm PKH zu bewilligen und am 17.11.2000 eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt.

Das SG hat die Gewährung von PKH mit Beschluss vom 17.11.2000 abgelehnt. Es hat die Beiordnung eines Bevollmächtigten nicht für erforderlich gehalten, weil für die Feststellung des GdB und des Merkzeichens G medizinische Feststellungen und Beurteilungen notwendig seien, welche durch einen von dem Gericht bestellten ärztlichen Sachverständigen zu treffen seien. Aus den vorliegenden Akten sei zu ersehen, dass der Kläger auch ohne rechtskundige Hilfe zur Verfolgung von Rechtsansprüchen in der Lage sei. Durch die Untersuchungsmaxime und Aufklärungspflicht des Vorsitzenden sei gewährleistet, dass den Interessen des Klägers hinreichend Rechnung getragen werde.

Gegen diesen Beschluss hat der Bevollmächtigte des Klägers Beschwerde eingelegt und vorgetragen, dass "in einer Vielzahl von Fällen der Kammervorsitzende es gerade nicht richtet und die Amtsermittlungsgrundsätze des § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nur unvollständig erfüllt werden."

Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die Beschwerde des Klägers ist gemäß § 172 Abs 1 des SGG statthaft und, da sie form- und fristgerecht eingelegt worden ist (§ 173 SGG), im Übrigen zulässig. Das Rechtsmittel erweist sich auch als begründet.

Nach § 73 a Abs 1 SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder in Raten aufbringen kann (= persönlichen Voraussetzungen) auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (= sachliche Voraussetzung). Ist eine Vertretung durch Anwälte - wie hier - nicht vorgeschrieben, wird der Partei auf ihren Antrag nach § 121 Abs 2 Satz 1 ZPO ein zur Vertretung bereiter Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet, wenn ua die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint.

Diese Voraussetzungen zur Gewährung von PKH sind hier nach ständiger Rechtsprechung des Senats erfüllt (vgl zB Beschluss des Senats vom 18.02.1999 in Breithaupt 1999 Seite 807).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet das Grundgesetz eine w e i t g e h e n d e Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtschutzes (so BVerfGE 81, 347 (356 mwN)). Da der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip keine vollständige Gleichstellung Unbemittelter mit Bemittelten verlangt, sondern nur eine weitgehende Angleichung, ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von PKH davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. PKH darf dann verweigert werden, wenn die Erfolgchance nur eine entfernte ist (BVerfGE aaO Seite 357).

Für die Annahme einer hinreichenden Erfolgsaussicht genügt eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit (Meyer-Ladewig, 6. Auflage, § 73 a RdNr 7 mwN); der Erfolg braucht nicht mit Sicherheit festzustehen. Wenn auch nicht abschließend abzusehen ist, ob dem Kläger ein höherer Gesamt-GdB zusteht, so ist grundsätzlich die Erfolgsaussicht schon dann als hinreichend anzusehen, wenn sich die Notwendigkeit einer Beweisaufnahme ergibt (Peters-Sautter-Wolff 4. Auflage § 73 a, Seite 258/8 - 14/21). Eine hinreichende Erfolgsaussicht kann somit schon dann vorliegen, wenn es erforderlich erscheint, Gutachten einzuholen (Meyer-Ladewig aaO; Beschluss des BayLSG vom 06.07.1987 - L 5 B 55/87.Ar und vom 22.03.1989 - L 5 B 305/88.Ar).

Dies ist hier der Fall. Der Beklagte hat den Kläger bislang nicht untersuchen und begutachten lassen. Für die Beurteilung des Ausmaßes der Behinderungen und der Höhe des GdB sowie für die Frage, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens G vorliegen, sind aktuelle Befunde zu erheben. Das SG wird daher, wie in seinem Beweisbeschluss vom 29.11.2000 vorgesehen, den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht aufzuklären haben.

Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes ist auch erforderlich (§ 121 Abs 2 ZPO). Sie entspricht der Absicht des Gesetzgebers (vgl § 73 a SGG), kann also nicht unter Bezugnahme auf den in der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Amtsermittlungsgrundsatz verneint werden. Nach Art 103 Grundgesetz (GG) hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Danach ist für alle gerichtlichen Verfahren ein Mindestmaß an rechtlichem Gehör zu gewährleisten. Die an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten sollen Gelegenheit haben, sich zu dem für die Beurteilung des Gerichts in Betracht kommenden Sachverhalt vor der Entscheidung zu äußern (BVerfGE 7, 53 (57 mwN)). Dieses Recht ist von der Ausgestaltung des Verfahrens durch die verschiedenen Verfahrensordnungen unabhängig und gilt auch im Verfahren mit Untersuchungsgrundsatz. Dem Beteiligten soll nicht zugemutet werden, sich darauf zu verlassen, dass das Gericht schon aufgrund der Offizialmaxime zu einer richtigen Entscheidung gelangen werde (BVerfG aaO). Weder die Vorschriften der §§ 62, 103 Abs 1 und 106 SGG noch sonstige, den Verfahrensbeteiligten dem Gericht gegenüber obliegende Pflichten schließen aus, dass im sozialgerichtlichen Verfahren schlechthin oder in Verfahren bestimmten Inhalts, etwa nach dem Schwerbehindertengesetz, eine anwaltliche Vertretung erforderlich ist. Auch unter Berücksichtigung des Amtsermittlungsprinzips kann die Erforderlichkeit einer Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht generell in den Fällen verneint werden, in denen (lediglich) medizinische Sachverhalte entscheidungserheblich sind (so auch Jansen Sozialgerichtsbarkeit 5/1982 Seite 187; wohl anderer Ansicht Behn, Die Sozialversicherung 1981, Seite 309 und Beschluss des BayLSG vom 15.04.1994 - L 16 B 43/93.Ar). Insbesondere kann dem SG nicht gefolgt werden, wenn es meint, bei der Frage, welche Gesundheitsstörungen beim Kläger vorliegen und wie diese zu bewerten sind und ab wann die Voraussetzungen für das Merkzeichen G vorliegen, handele es sich um medizinische Feststellungen und Beurteilungen, welche im Rahmen einer Begutachtung durch einen ärztlichen Sachverständigen zu treffen seien. Bereits den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 RdNr 15 kann entnommen werden, dass nicht der Arzt über die Feststellung einer Behinderung entscheidet. Es ist Aufgabe des Gerichts, die von ihm eingeholten Gutachten zu würdigen. Das Gericht darf Gutachten nicht einfach übernehmen, sondern muss sie kritisch nachvollziehen und überprüfen (Meyer-Ladewig aaO § 128 RdNr 7). Die Schätzung des GdB ist nicht Sache des Sachverständigen, sondern die des Gerichts (aaO RdNr 7 a).

Der vorliegende Rechtsstreit ist materiell-rechtlich und prozessual nicht so einfach gelagert, dass eine anwaltliche Unterstützung entbehrlich wäre. Bei der Frage nach der Schwierigkeit einer Streitsache spielen nicht nur rechtliche, sondern auch tatsächliche Fragen (zB medizinischer Art) eine erhebliche Rolle (so auch Jansen aaO, Seite 186). Darüber hinaus hat der Rechtsstreit für den Kläger auch eine nicht unerhebliche Bedeutung, da Gegenstand des Verfahrens die Feststellung eines GdB von 100 und die Zuerkennung des Merkzeichens G ist.

Auch die persönlichen Verhältnisse des Klägers legen eine anwaltliche Vertretung nahe. Der Kläger leidet an einer schweren Alkolholkrankheit mit Leberzirrhose, die vom Beklagten neben anderen Behinderungen mit einem Einzel-GdB von 80 bewertet wird. Der Kläger verfügt zudem über keine abgeschlossene Berufsausbildung und ist seit 1990 arbeitslos. Der Schwerbehindertenakte und der Akte des SG kann auch nicht - entgegen der Auffassung des SG - entnommen werden, dass der Kläger auch ohne rechtskundige Hilfe in der Lage sei, seine Rechtsansprüche zu verfolgen. Der Kläger war nämlich bereits im Widerspruchsverfahren anwaltlich vertreten und hat sich selbst - außer der Antragstellung - im Verfahren nicht geäußert.

Die Sach- und Rechtslage ist für den Kläger schwer zu übersehen. Er bedarf anwaltlicher Hilfe, um sachgerechte prozessuale Anträge zu stellen. Die Beurteilung von Sachverständigengutachten durch den Kläger, seine Entscheidung, ob und gegebenenfalls welche weiteren Fragen an den Sachverständigen zu stellen sind, die Entscheidung, ob und wann es zweckmäßig erscheint, einen Antrag nach § 109 SGG zu stellen, erfordert Erfahrung im Umgang mit dem Schwerbehindertenrecht und den AHP 1996. Diese Erfahrung hat der Kläger nicht. Auch lässt die bei ihm im Verwaltungsverfahren festgestellte Behinderung "Alkoholkrankheit" wahrscheinlich keine überlegte Prozessführung erwarten.

Die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von PKH sind gegeben; sie ergeben sich aus der Anlage, die Bestandteil dieses Beschlusses ist, dem Gegner ohne Zustimmung des Antragstellers aber nicht bekanntgegeben werden darf (§ 117 Abs 2 Satz 2 und § 127 Abs 1 Satz 3 ZPO).

Dieser Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar, § 177 SGG.

Anlage

Der Kläger ist nicht in der Lage, die Kosten des Prozesses aufzubringen (vgl § 114 ZPO). Von seinem Einkommen in Höhe von 1.085,40 DM (Arbeitslosenhilfe in Höhe von 1.031,40 DM und Wohngeld in Höhe von 54,- DM) ist nach § 115 Abs 1 Satz 3 Nr 3 ZPO die Miete in Höhe von 384,-DM abzuziehen. Unter Berücksichtigung des Abzugsbetrages gemäß § 115 Abs 1 Satz 3 Nr 2 Satz 1 1. Halbsatz ZPO steht dem Kläger PKH ohne Ratenzahlungsverpflichtung zu.
Rechtskraft
Aus
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