S 20 RJ 423/00

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
20
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 20 RJ 423/00
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 10.12.1998 und der Bescheid vom 17.12.1999, beide in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2000 werden geändert. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente für die Zeit vom XX.XX.1991 bis zum 31. 12. 1992 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Beginn der Zahlung einer Regelaltersrente.

Die Klägerin ist 1924 in Berlin geboren. Seit 1957 lebt sie in Kanada. Sie ist kanadische Staatsangehörige.

Am 20.5.1997 erhielt die Beklagte einen Antrag auf Rente von der Klägerin, gestellt auf dem Formular zum Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada über Soziale Sicherheit (DKSVA) D/C 1. Mit Bescheid vom 10.12.1998 gewährte die Beklagte der Klägerin eine Regelaltersrente ab dem 1.5.1997. Zugleich wies sie darauf hin, dass Ermittlungen hinsichtlich eines früheren Antragsdatums noch nicht abgeschlossen seien.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 4.1.1999 Widerspruch ein und machte u.a. einen früheren Rentenbeginn geltend. Nach dem DKSVA sei das Antragsdatum in Kanada zu berücksichtigen. Dieses teilte der kanadische Rentenversicherungsträger in einem Telefax vom 23.11.1999 mit dem 8.11.1990 mit, nachdem die Beklage den kanadischen Rentenversicherungsträger bereits im Dezember 1998 um die Mitteilung des Antragsdatums gebeten und ihn zwischenzeitlich zwei Mal erinnert hatte. In dem zur Mitteilung des Antragsdatums benutzten Formular hatte die kanadische Rentenversicherung den Punkt "Ist der Aufforderung, Leistungen nach deutschen Rechtsvorschriften zu beantragen, nicht nachgekommen" nicht angekreuzt.

Mit Bescheid vom 17.12.1999, den sie zum Gegenstand des Widerspruchsverfahrens machte, setzte die Beklagte den Rentenbeginn auf den XX.XX ...1991, d.h. auf den Ersten des der Vollendung des 65. Lebensjahres folgenden Monat, fest. Die Rentenzahlung beginne aber erst am 1.1.1993. Ansprüche aus der deutschen Rentenversicherung seien erstmalig am 20.5.1997 geltend gemacht worden, so dass grundsätzlich erst ab diesem Datum eine Rente zu zahlen sei. Gemäß Artikel 19 DKSVA habe die Beklagte aber den Antrag in Kanada berücksichtigen können und dürfe daher auch für die 4 Jahre vor dem Jahr der ersten Geltendmachung von deutschen Ansprüchen eine Rentenleistung erbringen.

Mit Schreiben vom 12.1.2000 setzte die Klägerin den Widerspruch fort und führte aus, die Leistung für nur 4 Jahre vor dem Jahr der Antragstellung in Deutschland, die zumeist mit §§ 44 ff. Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) bzw. mit dem Grundsatz von Treu und Glauben begründet werde, sei nicht gerechtfertigt durch die Normen des DKSVA.

Mit Widerspruchsbescheid vom 6.4.2000 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der in Kanada gestellte Antrag gelte auch als Antrag auf Leistungen aus der deutschen Rentenversicherung. Das DKSVA sehe aber vor, dass der kanadische Rentenversicherungsträger das Verfahren beim deutschen Rentenversicherungsträger einzuleiten habe, wenn der Antragsteller deutsche Zeiten geltend mache. Dies sei 1990 offensichtlich nicht geschehen, weil der kanadische Rentenversicherungsträger kein Verfahren in Deutschland eingeleitet habe, und erst 1997 nachgeholt worden. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben könne sich die Klägerin daher auf den Antrag von 1990 nicht mehr berufen. Sie habe das Verfahren betreiben und selbst tätig werden müssen. Die Beklagte könne ihr nur so weit entgegenkommen, dass sie die Klägerin so stelle, als habe sie 1997 eine versäumte Mitwirkung nachgeholt (§ 67 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB I) oder einen Überprüfungsantrag für eine vorher bewilligte Rente gestellt (§ 44 SGB X), was mit der Nachzahlung für 4 Jahre geschehen sei. Diese Rechtsauffassung sei vom Sozialgericht Hamburg mit Urteil vom 3.5.1999, Aktenzeichen S 20 RJ 139/98 bestätigt worden.

Mit der am 17.4.2000 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt vor, ein treuwidriges Verhalten von ihrer Seite liege nicht vor. Eine analoge Anwendung von § 44 SGB X scheide aus, weil dort der Erlass eines früheren Bescheides vorausgesetzt sei, die Situation also tatsächlich völlig anders sei als in dem vorliegenden Fall. Auch könne die Beklagte sich nicht auf eine vierjährige Verjährungsfrist (§ 45 SGB I) berufen. Die Verjährungsfrist werde durch die Antragstellung unterbrochen. Dies sei aufgrund des DKSVA mit dem Antrag in Kanada geschehen.

Die Klägerin beantragt nach dem Inhalt der Akten,

den Bescheid vom 10.12.1998 und den Bescheid vom 17.12.1999, beide in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6.4.2000 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Regelaltersrente für die Zeit vom 1.5.1991 bis zum 31.12.1992 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf den Akteninhalt und die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte der Kammer und die in der Sitzungsniederschrift vom 2.7.2002 genannten Unterlagen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte über die Klage aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 2.7.2002 entscheiden. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs ist nicht verletzt. Die Klägerin und ihr Bevollmächtigter sind ordnungsgemäß geladen worden. Sie sind in der Ladung darauf hingewiesen worden, dass im Falle ihres Ausbleibens nach Lage der Akten entschieden werden kann (§ 110 Sozialgerichtsgesetz).

Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung der Regelaltersrente auch für die Zeit vom XX.XX.1991 bis zum 31.12.1992.

Dem Anspruch der Klägerin ist im Hinblick auf den Beginn der Leistung als Antragsdatum nicht das Eingangsdatum des Antragsformulares D/C 1 bei der Beklagten (20.5.1997) zu Grunde zu legen. Als Datum des Antrages der Klägerin auch beim deutschen Rentenversicherungsträger hat der 8.1.1990 zu gelten. Denn gemäß Artikel 19 Absatz 1 Satz 1 DKSVA gilt der Antrag auf eine Leistung nach den Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates als gestellt, wenn er bei einer Stelle im anderen Vertragsstaat, die für die Annahme eines Antrages auf eine entsprechende Leistung nach den für sie geltenden Rechtsvorschriften zugelassen ist, gestellt wird. Gemäß Artikel 19 Absatz 3 Satz 1 gilt ein Antrag auf eine Leistung nach den Rechtsvorschriften des einen Vertragsstaates auch als Antrag auf eine entsprechende Leistung nach den Vorschriften des anderen Vertragsstaates. Damit kommen auch dem in Kanada gestellten Antrag auf eine Altersrente alle verfahrens- und materiellrechtlichen Wirkungen eines nach deutschem Recht gestellten Antrags zu. Dies gilt selbst dann, wenn der Antragsteller in seinem Antrag deutsche Versicherungszeiten nicht geltend gemacht hat. Eine Regelung, dass im Antrag in Kanada deutsche Versicherungszeiten angegeben werden müssen (vgl. etwa Artikel 7 Absatz 1 der Vereinbarung zur Durchführung des Abkommens vom 7. Januar 1976 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über Soziale Sicherheit) enthält das DKSVA nicht. Vielmehr sieht Absatz 3 Satz 2 von Artikel 19 DKSVA vor, dass der Antragsteller ausdrücklich beantragen muss, wenn die Feststellung der nach den Rechtsvorschriften des anderen Staates bestehenden Ansprüche aufgeschoben werden soll.

Die Beklagte kann auch aus dem Umstand, dass der kanadische Rentenversicherungsträger ein Verfahren beim deutschen Rentenversicherungsträger nicht eingeleitet hat, keinerlei für die Klägerin nachteiligen Folgen ableiten. Obwohl sich aus Artikel 19 Absatz 2 DKSVA eine Verpflichtung zur unverzüglichen Weiterleitung von Anträgen an den Versicherungsträger des anderen Vertragsstaates ergibt, kann daraus, dass zwischen der Antragstellung in Kanada und der Geltendmachung von Ansprüchen in Deutschland wie hier mehrere Jahre liegen, nicht geschlossen werden, die Klägerin habe ein Verschieben der Feststellung der Leistung in Deutschland im Sinne des Artikel 19 Absatz 3 Satz 2 DKSVA beantragt. Zum einen hat sich im Verwaltungsverfahren gezeigt, dass beim Rentenversicherungsträger in Kanada zum Teil erhebliche Bearbeitungszeiten entstehen. Zum anderen hat der kanadische Rentenversicherungsträger auf dem Formular gerade nicht mitgeteilt, dass die Klägerin Aufforderungen zur Mitteilung von deutschen Zeiten nicht nachgekommen wäre, obwohl diese Möglichkeit im Formular vorgesehen ist. Schließlich läuft die von der Beklagten gezogene Schlussfolgerung der Grundwertung des DKSVA zuwider. Denn dieses sieht in Artikel 19 Absatz 3 wie oben ausgeführt die Gleichstellung des Antrages in Kanada mit dem Antrag in Deutschland gerade als Regel und nur als Ausnahme auf ausdrückliches Verlangen das Verschieben der Feststellung von Leistungen vor. Es kann daher nicht ohne weiteres unterstellt werden.

Unabhängig von der genannten Regelung ist der Beklagten eine Berufung auf § 44 Absatz 4 SGB X verwehrt, weil diese Norm nicht einschlägig ist. § 44 SGB X regelt die Rücknahme eines rechtswidrigen, belastenden Verwaltungsaktes. Absatz 4 begrenzt die rückwirkenden Leistungen für diesen Fall. Er enthält keinen allgemeinen Grundsatz, dass Leistungen nur 4 Jahre rückwirkend erbracht werden und ist auf Erstfeststellungen wie hier nicht anzuwenden (vgl. Bundessozialgericht – BSG – , Urteil vom 22.10.1996, 13 RJ 17/96 und Urteil vom 2.8.2000, B 4 RA 54/99 R).

Ferner ist es nicht möglich, zur Rechtfertigung eines späteren Zahlungsbeginns auf den hinter § 67 SGB I stehenden Gedanken zurückzugreifen. Denn § 67 SGB I regelt ebenfalls eine andere Konstellation. Nach § 67 SGB I ist es in das Ermessen des Rentenversicherungsträgers gestellt, Leistungen ganz oder teilweise rückwirkend zu erbringen, wenn er zunächst eine Leistung wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt hatte. Von Bedeutung ist im Unterschied zu Fällen wie dem vorliegenden vor allem, dass der Versicherte unter Fristsetzung zur Mitwirkung aufgefordert worden und dann ein Bescheid ergangen ist. Dagegen ist den Versicherten in Fällen wie dem vorliegenden die Notwendigkeit ihres Aktivwerdens u. U. gar nicht bekannt. Das von der Beklagten zitierte Urteil des Sozialgerichtes Hamburg bezieht sich denn auch auf die Frage der korrekten Ermessensausübung im Rahmen des § 67 SGB I und ist daher nicht übertragbar.

Die Beklagte kann auch eine Verjährung des Anspruchs nicht geltend machen. Zum einen ist allein durch die Erwähnung von Verjährungsvorschriften die Verjährungseinrede noch nicht wirksam erhoben. Sie setzt vielmehr die Ausübung von Ermessen und die Darlegung dieser Gründe in einem Bescheid voraus (vgl. BSG, Urteil vom 22.10.1996, 13 RJ 17/96). Zum anderen wird die Verjährung durch die Antragstellung unterbrochen (§ 45 Absatz 3 SGB I). Die Antragstellung am 8.11.1990 lag hier aber sogar vor dem Zeitpunkt des Entstehens des Anspruches am XX.XX.1991 (vgl. § 1290 Absatz 1 der damals geltenden Reichsversicherungsordnung), so dass die Verjährungsfrist gar nicht in Lauf gesetzt wurde.

Schließlich kann sich die Beklagte auch nicht auf eine Verwirkung des Rentenanspruchs für die Zeit vor dem 1.1.1993 berufen. Auch im Sozialversicherungsrecht gilt das Rechtsinstitut der Verwirkung. Als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben setzt es nicht nur voraus, dass der Berechtigte über einen längeren Zeitraum die Geltendmachung eines Anspruches unterlassen hat. Es müssen besondere Umstände hinzutreten, die sein Verhalten als treuwidrig erscheinen lassen. Solche besonderen Umstände liegen vor, wenn der Berechtigte einen Vertrauenstatbestand schafft, aus dem der Versicherungsträger schließen darf, dass der Versicherte von seinem Recht keinen Gebrauch mehr machen wird und entsprechende Dispositionen trifft. Im Sozialversicherungsrecht als Teil des öffentlichen Rechtes ist dabei auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, d.h. die durch die verspätete Geltendmachung des Rechtes entstehende Belastung der Verwaltung zu messen am Verhalten des Berechtigten (vgl. BSG, Urteil vom 4.5.1965, 11 RA 356/64 und Urteil vom 30.11.1978, 12 RK 6/76). An den genannten Voraussetzungen fehlt es hier. Ein Verhalten der Klägerin, aus dem die Beklagte hätte schließen können, die Klägerin werde ihren Anspruch nicht geltend machen, liegt nicht vor. Die Klägerin hat vielmehr dem DKSVA entsprechend den Antrag in ihrem Wohnland gestellt. Darüber hinaus wird die Beklagte durch eine Leistung der Rente vom 1.5.1991 an nicht übermäßig belastet. Das Versicherungskonto der Klägerin ist geklärt. Der aktuelle Zahlbetrag der klägerischen Rente liegt bei ca. 150 Euro.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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