S 36 U 500/00

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
36
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 36 U 500/00
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Es wird festgestellt, dass die Beklagte der für die Entschädigung des Unfalls des Beigeladenen vom 29. Mai 1998 zuständige Versicherungsträger ist. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte der für die Entschädigung des Unfalls des Beigeladenen vom 29. Mai 1998 zuständige Versicherungsträger ist.

Der Beigeladene erlitt an diesem Tag kurz vor der deutsch-polnischen Grenze einen Verkehrsunfall, als er mit einem Kleintransporter Gerätschaften zu einer Gehörlosenschule in K./Russland bringen wollte, und zog sich hierbei schwere Verletzungen zu, insbesondere multiple Frakturen und eine Oberschenkelamputation. Zu diesem Zeitpunkt war der einen selbstständigen Schrotthandel betreibende Beigeladene seit Jahren nicht mehr krankenversichert.

Das Unfallfahrzeug gehörte dem Beigeladenen selbst. Die Fahrt wurde durchgeführt im Rahmen einer Privatinitiative, die seit 1995 ein bis dreimal pro Jahr Hilfstransporte von Sachspenden nach K. durchführte. Der Mitgliederkreis war wechselnd. Die Sachspenden wurden bei den Spendern bis zum Abtransport gelagert und von Teilnehmern an der Initiative zum Transport nach K. abgeholt und von diesen unentgeltlich mit deren Privatfahrzeugen, für deren Kosten die Teilnehmer auch selbst aufzukommen hatten, an die Gehörlosenschule geliefert, die wiederum für eine Weiterverteilung in K. sorgte. Sämtliche Kosten wurden stets nach der jeweiligen Rückkehr unter den Teilnehmern geteilt. Es gab keine schriftlichen Festlegungen über Rechte und Pflichten der Mitglieder. Motiv war, armen und bedürftigen Menschen in K. zu helfen. Eine Eintragung der Initiative erfolgte nicht. Ansprechpartner, über dessen Adresse die Initiative auch anzuschreiben war, war Herr H. K. Geldspenden wurden nicht gesammelt. Ein Konto der Initiative gab es nicht. Die Spenden kamen von Privatpersonen und Unternehmen.

Die Klägerin erbrachte zunächst als erstangegangener Versicherungsträger vorläufig Leistungen, versuchte dann im August 1998 den Vorgang an die Beklagte abzugeben und meldete dort dem Grunde nach einen Erstattungsanspruch an.

Die Beklagte reichte den Vorgang zurück an die Klägerin mit der Bitte um Weiterbearbeitung gemäß § 139 Abs. 2 Satz 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) im Wege der vorläufigen Fürsorge.

Nachdem die Beklagte in der Folge ihre Zuständigkeit gegenüber der Klägerin verneint hatte, lehnte die Klägerin zunächst mit Bescheid vom 17. Mai 1999 die Entschädigung des Ereignisses als Arbeitsunfall gegenüber dem Beigeladenen ab und forderte von diesem mit Bescheid vom 13. Juli 1999 130.240,58 DM zurück.

Nach ausbleibender Zahlung und einem fruchtlosen Zwangsvollstreckungsversuch schrieb die Klägerin unter dem 10. November 1999 an den Beigeladenen, dass sie die Rechtmäßigkeit der Bescheide überprüfen wolle.

Nach interner Überzeugungsbildung der Klägerin, dass der Beigeladene zum Unfallzeitpunkt Versicherungsschutz im Zuständigkeitsbereich der Beklagten genoss, nahm die Klägerin mit Bescheid vom 15. März 2000 ihre Bescheide vom 17. Mai 1999 und 13. Juli 1999 nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) zurück und stellte fest, dass der Kläger eine versicherte Person im Zuständigkeitsbereich der Beklagten gewesen sei, kündigte die Gewährung vorläufiger Leistungen und die Erhebung einer Feststellungsklage gegen die Beklagte an.

In der Folge blieb die Beklagte bei ihrer Ansicht, dass der Beigeladene zum Unfallzeitpunkt keine versicherte Person in ihrem Zuständigkeitsbereich gewesen sei, verzichtete hierbei auf die Einrede der Verjährung, soweit Ansprüche nicht gemäß § 111 SGB X ausgeschlossen seien.

Auf der Grundlage eines ersten Rentengutachtens bewilligte die Klägerin dem Beigeladenen mit Bescheid vom 25. Juli 2000 vorläufige Leistungen nach § 139 SGB VII in Verbindung mit § 43 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) in Gestalt einer Verletztenrente als vorläufige Entschädigung ab 30. Mai 1998 in Höhe von 80 v.H. der Vollrente, für die Dauer der stationären Behandlungen in Höhe von jeweils 100 v.H. der Vollrente auf der Grundlage eines Mindestjahresarbeitsverdienstes, meldete konkret einen entsprechenden Erstattungsanspruch bei der Beklagten an, bewilligte mit Bescheid vom 18. August 2000 dem Beigeladenen eine Entschädigung für Kleider- und Wäscheverschleiß sowie mit Bescheiden vom 23. August 2000 und 25. August 2000 jeweils Zinsen.

Unter dem 27. Oktober 2000 hat die Klägerin unter Hinweis auf ihre Ansicht, dass der Beigeladene zum Unfallzeitpunkt nach § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII als selbstständig Tätiger zum Kreis der pflichtversicherten Personen gehört habe, für die die Beklagte nach § 122 SGB VII sachlich zuständiger Unfallversicherungsträger sei, Klage erhoben.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass die Fahrt nach K. im Rahmen der organisierten Wohlfahrtspflege als planmäßige Hilfeleistung im Sinne der Rechtsprechung durchgeführt worden sei und beantragt,

festzustellen, dass die Beklagte der für die Entschädigung des Unfalls des Beigeladenen vom 29. Mai 1998 zuständige Versicherungsträger ist.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verneint einen Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII in ihrem Zuständigkeitsbereich und meint, dass es sich bei der Fahrt um private unversicherte Wohltätigkeit im Gegensatz zur planmäßigen Wohlfahrtspflege gehandelt habe. Der Beigeladene sei auch nicht als Unternehmer tätig geworden. Nicht jede Tätigkeit, die mildtätig oder wohltätig ausgeübt werde, stehe deshalb unter Unfallversicherungsschutz. Die entsprechenden Tatbestände der sogenannten unechten Unfallversicherung seien eng auszulegen schon vor dem Hintergrund, dass Leistungsverpflichtungen der insoweit betroffenen Unfallversicherungsträger keine Beitragsansprüche gegenüber stünden. Im Bereich der gewerblichen Berufsgenossenschaften stünde im Gegensatz zur sogenannten unechten Unfallversicherung im Bereich der Ausführungsbehörden des Bundes und der Länder auch keine Finanzierung aus Steuermitteln gegenüber. Bezogen auf Hilfsgütertransporte und vergleichbare Tätigkeiten sei es deshalb unerlässlich, eine relativ feste Struktur in Organisationsform zu fordern, um Unfallversicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII und damit auch die Zuständigkeit der Beklagten zu bejahen, wie es in dem auch von der Klägerin zitierten Urteils des Sozialgerichts Hamburg vom 23. September 1997, Az.: 24 U 15/96, gefordert werde.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 09. Dezember 2002 sowie den weiteren Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakte der Klägerin, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens des Beigeladenen im Termin mündlich verhandeln und entscheiden, weil der ordnungsgemäß geladene Beigeladene auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.

Die Klage ist statthaft (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG -). Auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor.

Die Klage ist auch begründet. Die Beklagte ist der für die Entschädigung des Unfalls des Beigeladenen vom 29. Mai 1998 zuständige Versicherungsträger. Der Beigeladene erlitt an diesem Tag einen Arbeitsunfall im Zuständigkeitsbereich der Beklagten, nämlich bei einer Tätigkeit im Rahmen der Wohlfahrtspflege.

Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit), wobei Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse sind, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (vgl. 8 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB VII).

Den schweren Unfall vom 29. Mai 1998 erlitt der Beigeladene infolge einer nach § 2 Abs. 1 Nr. 9 SGB VII versicherten Tätigkeit.

Nach dieser Vorschrift sind kraft Gesetzes versichert Personen, die selbständig oder unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich im Gesundheitswesen oder in der Wohlfahrtspflege tätig sind.

Der Beigeladene ist nach Überzeugung des Gerichts mit der Teilnahme an der Hilfsfahrt nach K. mit seinem privaten Fahrzeug unentgeltlich für ein Unternehmen in der Wohlfahrtspflege tätig geworden.

Wohlfahrtspflege ist eine planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübte unmittelbare vorbeugende oder abhelfende Hilfeleistung für gesundheitlich, sittlich oder wirtschaftlich gefährdete oder notleidende Menschen (vgl. Bereiter-Hahn/Mertens, Gesetzliche Unfallversicherung, Loseblattkommentar, § 2 SGB VII, Randziffer 20.17 mit weiteren Nachweisen).

In den Hilfstransporten - und hier speziell in dem Hilfstransport, in dessen Verlauf es zu dem streitgegenständlichen Unfall kam - war bzw. ist eine unmittelbare abhelfende Hilfeleistung für wirtschaftlich gefährdete und notleidende Menschen in Russland zu sehen.

Inwieweit dies planmäßig zu geschehen hat, ist vom Bundessozialgericht (BSG) in der Entscheidung vom 26. Januar 1988, Az.: 2 RU 23/87, ausdrücklich offen gelassen worden. Das Sozialgericht Hamburg hat in seinem Urteil vom 20. September 1997, Az.: 24 U 15/96, den Begriff insoweit negativ definiert, als spontane oder kurzzeitige Hilfeleistungen nicht als Tätigkeit im Rahmen der Wohlfahrtspflege, sondern als privatwirtschaftliche Wohltätigkeit anzusehen seien.

Dem schließt sich die erkennende Kammer mit der Maßgabe an, dass planmäßiges Handeln in Abgrenzung zur bloßen Mildtätigkeit bereits dann vorliegt, wenn eine Organisation dahinter steht und eine gewisse Regelmäßigkeit vorliegt bzw. beabsichtigt ist. Regelmäßigkeit ist dabei schon dann anzunehmen, wenn erkennbar ein dauerhaftes Tätigwerden in Abgrenzung zur einmaligen spontanen Hilfeleistung beabsichtigt ist. Dies entspricht der Zielsetzung des Gesetzgebers, der soziales Engagement durch Schaffung dieses Tatbestandes im Rahmen der sog. unechten Unfallversicherung fördern wollte, ohne jedoch den Versicherungsschutz konturenlos ausufern zu lassen.

Entgegen der Auffassung der Beklagten kann der Begriff nicht enger vor dem Hindergrund ausgelegt werden, dass im Rahmen dieser sogenannten unechten Unfallversicherung, soweit gewerbliche Berufsgenossenschaften dafür zuständig sind, Leistungsverpflichtungen keine Beitragsansprüche gegenüberstehen. Die Korrektur dieser Folge der Begründung des Versicherungsschutzes im Zuständigkeitsbereich gewerblicher Berufsgenossenschaften obliegt dem Gesetzgeber selbst, z.B. durch Begründung der Zuständigkeit von Eigenunfallversicherungsträgern des Bundes, der Länder oder der Gemeinden.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ist vorliegend von einer Planmäßigkeit im vorgenannten Sinne auszugehen.

Hinter dem Hilfstransport und den in den Jahren davor durchgeführten steht ein Unternehmen in Gestalt eines nicht rechtsfähigen Vereins.

Ein solcher nicht rechtsfähiger Verein im Sinne des § 54 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist ebenso wie der eingetragene Verein eine auf Dauer berechnete Verbindung einer größeren Anzahl von Personen zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks, die nach ihrer Satzung körperschaftlich organisiert ist, einen Gesellschaftsnamen führt und auf einen wechselnden Mitgliederbestand angelegt ist, auf den Vereinsrecht anzuwenden ist und der sich vom rechtsfähigen Verein allein durch das Fehlen einer Eintragung im Register unterscheidet. Die Organisation des nicht rechtsfähigen Vereins wird durch seine Satzung festgelegt, die keiner Form bedarf, wobei eine langjährig angewandte Regel daher u.U. als konkludent beschlossener Satzungsbestandteil aufzufassen sein kann und wobei die Vorschriften über den Vorstand entsprechend anzuwenden sind. Mindestens 2 Personen sind erforderlich (vgl. Heinrichs in: Palandt, BGB, 62. Aufl. 2003, § 54 Randziffern 1, 2 und 6 sowie 14).

Diese Voraussetzungen erfüllt die Initiative, die der über die Jahre ständig als Ansprechpartner ausgewiesene und organisierende H. K. "Technikergruppe" nennt. Wie sich aus dem Tätigwerden über Jahre auf die gleiche Art und Weise von einem wechselnden Personenkreis im Umfang von etwa 20 – 30 Personen zur Erreichung des gemeinsamen Zwecks der Hilfe für notleidende Menschen in Russland ergibt, handelt es sich hier um einen nicht rechtsfähigen Verein. Aus der ständigen Übung folgt die entsprechende Satzung, aus der sich ergibt, dass Herr H. K. als Vorstand anzusehen ist, dass andere Personen Mitglieder werden können und wieder ausscheiden können, dass Sachspenden von Privatpersonen und Unternehmen gesammelt und in Eigeninitiative an die Gehörlosenschule in K. zur weiteren Verteilung in Russland geliefert werden. Kosten hat hierbei jedes Mitglied selbst zu tragen bzw. werden auf alle Mitglieder umgelegt, so dass auch die Unentgeltlichkeit als Tatbestandsvoraussetzung vorliegt.

Dem widersprechen weder die fehlende Eintragung der Initiative, noch das fehlende Nutzen eigener Räumlichkeiten, noch die ausgebliebene Verteilung von Ämtern, noch die relative Unregelmäßigkeit, noch das fehlende Konto, noch die fehlende Lagerstelle für Sachspenden, noch die fehlende Zusammenarbeit mit Behörden, Kirchen, Organisationen und ähnlichem. Das Bundessozialgericht hat bereits mit Urteil vom 12. März 1974, Az.: 2 RU 7/72, entschieden, dass insoweit Versicherungsschutz nicht auf Tätige in der "organisierten" Wohlfahrtspflege im Sinne von Einrichtungen der öffentlichen und privaten Wohlfahrtspflege beschränkt ist.

Eine gewisse Regelmäßigkeit als Voraussetzung zur Bejahung der Planmäßigkeit ist schon dadurch gegeben, dass über mehrere Jahre jeweils ein bis drei Hilfstransporte durchgeführt worden sind. Dies genügt, um eine auf Dauer angelegte Hilfeleistung im Sinne der Wohlfahrtspflege zu bejahen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Absätze 1 und 4 SGG in der bis zum 01. Januar 2002 geltenden Fassung; § 197 a in der Fassung des 6. SGG-Änderungsgesetzes vom 17. August 2001 ist nicht anzuwenden, weil der Rechtsstreit vor dem 02. Januar 2002 rechtshängig geworden ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 30. Januar 2002, Az.: B 6 KA 12/01 R).
Rechtskraft
Aus
Saved