B 5 RJ 10/01 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 7 RJ 954/96 A
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 RJ 373/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 RJ 10/01 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Januar 2000 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozial- gericht zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren ist.

Der 1947 geborene Kläger war von Juni 1966 bis Dezember 1977 in Deutschland als Maler versicherungspflichtig beschäftigt und hat in seiner Heimat Jugoslawien Versicherungszeiten von Mai 1963 bis März 1965 sowie von Dezember 1989 bis Februar 1995 zurückgelegt. Die Beklagte lehnte den im Juli 1994 gestellten Rentenantrag durch Bescheid vom 9. Januar 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 1996 mit der Begründung ab, es lägen weder Berufs- noch Erwerbsunfähigkeit vor. Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 28. Mai 1999 abgewiesen. Der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehene Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 19. Juni 1999 an seinem Wohnsitz in Jugoslawien zugestellt worden.

Am 23. Juli 1999 ist beim SG ein als "Berufung" gekennzeichnetes Schreiben des als Bevollmächtigter des Klägers auftretenden Rechtsanwalts (R) nebst Anlagen eingegangen, das keine Unterschrift enthielt, am Ende als Anschrift des Rechtsanwalts die Stadt Barajevo ohne Postleitzahl angab und mit "Belgrad, den 08.07.1999" datiert war. Diese Berufungsschrift ist mit Schreiben des SG vom 29. Juli 1999 an das LSG weitergeleitet worden und dort am 4. August 1999 eingegangen. Die an diesen Rechtsanwalt nach "11126 Belgrad" unter der angegebenen Straße gerichtete Aufforderung des LSG vom 9. August 1999, die Unterschrift auf der beigefügten Berufungsschrift nachzuholen, ist am 30. August 1999 als unzustellbar zurückgekommen, weil die bezeichnete Straße in Belgrad nicht existiere. Das LSG hat daraufhin unter dem 1. September 1999 die Berufungsschrift unmittelbar dem Kläger übersandt und ihn aufgefordert, die Unterschrift durch Rechtsanwalt R selbst herbeizuführen; die Berufungsschrift müsse bis spätestens "19.09.1999" beim LSG eingegangen sein. Das Original der Berufungsschrift, versehen mit der Unterschrift von Rechtsanwalt R und dessen um die Postleitzahl (11460) für Barajevo ergänzter Anschrift ist am 30. September 1999 beim LSG eingegangen.

Mit Urteil vom 19. Januar 2000 hat das LSG die Berufung als unzulässig verworfen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die dreimonatige Berufungsfrist habe am 20. September 1999 geendet; denn der Gerichtsbescheid des SG sei dem bis dahin im Prozess nicht vertretenen Kläger am 19. Juni 1999 im Ausland zugestellt worden und der 19. September 1999 sei ein Sonntag gewesen. Ein Berufungsschriftsatz, der erstmals allen Voraussetzungen, insbesondere im Hinblick auf die bis dahin fehlende Unterschrift, dem Erfordernis der Schriftlichkeit gemäß § 151 Abs 1 SGG genügt habe, sei jedoch erstmals am 30. September 1999 eingegangen und damit verspätet. Eine Wiedereinsetzung sei nicht angezeigt; Gründe, denen ein Nichtverschulden des Klägers bzw seines Bevollmächtigten zu entnehmen wäre, seien nicht ersichtlich. Zum einen habe der Bevollmächtigte des Klägers es pflichtwidrig schlicht vergessen, die innerhalb der Berufungsfrist eingegangene Berufungsschrift zu unterschreiben. Zum anderen seien zwei Versuche des Senats, die fragliche Unterschrift noch innerhalb der Berufungsfrist herbeizuführen, erfolglos geblieben, und zwar offensichtlich deshalb, weil der Bevollmächtigte bei seiner Anschrift keine Postleitzahl angegeben und der schließlich vom Senat angeschriebene Kläger die Unterschrift auch selbst nicht zu bewirken verstanden habe.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 158 Satz 1, § 151 Abs 1, § 153 Abs 1 iVm §§ 103, 106 sowie des § 67 Abs 1 und 4 SGG und ferner der Grundsätze eines fairen Verfahrens gemäß Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG. Er trägt vor, das LSG habe die Berufung nicht gemäß § 158 Satz 1 SGG verwerfen dürfen. Die beim SG eingegangene Berufungsschrift habe entgegen der Auffassung des LSG bereits ohne die Unterschrift des seinerzeitigen Bevollmächtigten den Formerfordernissen genügt. Nach der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (SozR 3-1750 § 130 Nr 1 = NJW 2000, 2340 f mwN) und dem Urteil des BSG vom 6. Mai 1998 (B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3) solle die Schriftlichkeit gewährleisten, dass aus dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden solle, und die Person, von der sie ausgehe, hinreichend und zuverlässig entnommen werden könne und dass feststehe, dass es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handele, sondern dass es mit Wissen und Willen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden sei. Dies sei vorliegend der Fall gewesen. Die Berufungsschrift und die beigefügten ärztlichen Befundberichte hätten detaillierte Angaben zum Gegenstand des Rechtsstreits enthalten, welche Kenntnisse voraussetzten, die praktisch nur er, der Kläger, selbst hätte haben können.

Doch auch ausgehend von dem Rechtsstandpunkt des LSG, wonach das Schriftlichkeitserfordernis nicht gewahrt sei, hätte es jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen, weil ihm (dem Kläger) entsprechend seinem aus Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG folgenden Anspruch auf ein faires Verfahren ein Säumnisverschulden seines Bevollmächtigten, sollte es denn vorgelegen haben, nicht zugerechnet werden könne und die versäumte Handlung mit Eingang der von seinem damaligen Bevollmächtigten eigenhändig unterschriebenen Originalberufung beim LSG am 30. September 1999 innerhalb der Frist des § 67 Abs 2 Satz 1 und 2 SGG nachgeholt worden sei. Da das LSG selbst davon ausgegangen sei, dass er das Rechtsmittel durch seinen damaligen Bevollmächtigten tatsächlich habe einlegen lassen wollen und dieser lediglich die Unterschrift "schlicht vergessen" habe, die Rechtsmittelfrist bei Eingang der Berufungsschrift aber noch nahezu zwei Monate gelaufen sei, habe es die gerichtliche Fürsorgepflicht im Rahmen des § 106 Abs 1 SGG geboten, auf die Behebung des erkannten Mangels hinzuwirken. Die beiden richterlichen Schreiben vom 9. August 1999 und 1. September 1999 seien aber nicht oder nur eingeschränkt geeignet gewesen, auf die vom LSG für erforderlich erachtete Nachholung der Unterschrift hinzuwirken: Das Schreiben vom 9. August 1999 habe den Prozessbevollmächtigten nicht erreichen können, weil das LSG die Ortsangabe Barajevo durch die Ortsangabe Belgrad mit unzutreffender Postleitzahl ersetzt habe, ohne dass versucht worden wäre, bei der Post zunächst die Postleitzahl von Barajevo zu erfragen. Das LSG habe daher von vornherein nicht damit rechnen können, dass der Brief vom 9. August 1999 seinen Adressaten erreichen werde. Das Schreiben vom 1. September 1999 habe außer Acht gelassen, dass auch er, der Kläger, oder aber seine Ehefrau die Berufungsschrift hätten unterschreiben können. Außerdem hätte die Frist ohne weiteres eingehalten werden können, wenn die Berufung an das SG gegangen wäre. Schließlich stimme das im Schreiben vom 1. September 1999 angegebene Ende der Rechtsmittelfrist nicht. Hätte das LSG ihn darauf hingewiesen, dass er selbst oder seine Ehefrau die Unterschrift hätten leisten können, dann hätte sich die Weitergabe an den damaligen Bevollmächtigten erübrigt und die Berufung wäre spätestens bis einschließlich 20. September 1999 beim LSG oder beim SG eingegangen. Der nach Auffassung der Vorinstanz verfahrensrechtlich gebotene, durch das richterliche Schreiben vom 9. August 1999 aber fehlgeschlagene und durch das Schreiben vom 1. September 1999 gescheiterte Hinweis auf eine Korrektur der Berufungsschrift sei eine im Verantwortungsbereich des LSG liegende überholende Ursache und habe zur Folge, dass ein Säumnisverschulden des Bevollmächtigten, sollte es zu bejahen sein, ihm, dem Kläger, jedenfalls nicht zugerechnet werden könne. Bei der gebotenen Berücksichtigung der mit der Berufungsschrift vorgelegten Befundberichte vom 29. Juni 1999 und einer daraufhin zu veranlassenden weiteren medizinischen Sachaufklärung von Amts wegen hätte sich sein Rentenanspruch als begründet herausgestellt, weil er weder in seinem bisherigen Beruf noch in einer sozial zumutbaren Verweisungstätigkeit, noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in gewisser Regelmäßigkeit arbeiten könne.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 19. Januar 2000 und den Gerichtsbescheid des SG Landshut vom 28. Mai 1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen Erwerbs- hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren,
hilfsweise, die oben bezeichneten Urteile aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,
1. die Revision insoweit zurückzuweisen, als beantragt wird, die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen Erwerbs-, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren,
2. das Urteil des Bayerischen LSG vom 19. Januar 2000 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Sie stimmt der Revisionsbegründung insoweit zu, als gerügt wird, das LSG habe dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen. Im Übrigen ist sie der Auffassung, dass ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem derzeitigen Sach- und Rechtsstand ohne weitere Sachaufklärung nicht feststellbar sei.

II

Die Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne der Zurückverweisung auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der gerügten Verletzung der §§ 67, 151, 158 SGG. Das LSG hätte dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren und anstatt durch Prozessurteil in der Sache selbst entscheiden müssen.

1. Der Senat lässt dahinstehen, ob die Berufung innerhalb der hier (wegen der Zustellung der erstinstanzlichen Entscheidung im Ausland) maßgeblichen Dreimonatsfrist (§ 151 Abs 1 iVm § 87 Abs 1 Satz 2 SGG), die am 20. September 1999 endete, fristwahrend durch das beim SG ( § 151 Abs 2 Satz 1 SGG) am 23. Juli 1999 eingegangene, nicht unterschriebene "Berufungsschreiben" eingelegt worden ist, insbesondere ob dieses Schreiben dem Erfordernis der Schriftlichkeit gemäß § 151 Abs 1 SGG entsprochen hat.

Was unter "schriftlich" iS des § 151 Abs 1 SGG zu verstehen ist, ist im SGG (ebenso wie in der VwGO und der FGO) nicht geregelt. In der Rechtsprechung des BSG wird grundsätzlich die eigenhändige Unterschrift verlangt (BSG Urteile vom 14. Januar 1958 - 11/8 RV 97/57 - BSGE 6, 256, 259 = SozR Nr 7 zu § 151 SGG und vom 28. Mai 1974 - 2 RU 259/73 - BSGE 37, 279, 280 = SozR 1960 § 5 Nr 1, jeweils mwN), wobei wesentlich auf den Gedanken der Rechtssicherheit abgestellt wird. § 126 Abs 1 BGB, wonach die gesetzliche Schriftform verlangt, dass die Urkunde von dem Aussteller eigenhändig durch Namensunterschrift oder mittels notariell beglaubigten Handzeichens unterzeichnet sein muss, ist jedoch - wie auch vom Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes - GmSOGB - in seiner Entscheidung vom 30. April 1979 (1/78 - BGHZ 75, 340, 352 = SozR 1500 § 164 Nr 14) klargestellt - wegen der Eigenständigkeit des Prozessrechts weder unmittelbar noch entsprechend auf Prozesshandlungen anzuwenden. Dementsprechend sind Ausnahmen von der eigenhändigen Unterschrift zugelassen worden, wenn auf andere Weise gewährleistet ist, dass dem Schriftstück der Inhalt der Erklärung, die abgegeben werden soll, und die Person, von der sie ausgeht, hinreichend zuverlässig entnommen werden kann und feststeht, dass es sich bei dem Schriftstück nicht nur um einen Entwurf handelt, sondern dass es mit Wissen und Willen des Berechtigten dem Gericht zugeleitet worden ist (vgl BSG Urteile vom 20. Dezember 1979 - 4 RJ 120/77 - SozR 1500 § 151 Nr 8, vom 26. November 1987 - 2 RU 42/87 - SozR 1500 § 151 Nr 11, vom 6. Mai 1998 - B 13 RJ 85/97 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 3, vom 16. November 2000 - B 13 RJ 3/99 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 4 und vom 21. Juni 2001 - B 13 RJ 5/01 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; Beschluss vom 15. Oktober 1996 - 14 BEg 9/96 - SozR 3 -1500 § 151 Nr 2; vgl auch BVerwG Urteil vom 6. Dezember 1988 - 9 C 40/87 - BVerwGE 81, 32, 35 und BFH Beschluss vom 29. November 1995 - X B 56/95 - BFHE 179, 233 = NJW 1996, 1432 jeweils mwN sowie GmSOGB Beschluss vom 5. April 2000 - 1/98 - BGHZ 144, 160 = SozR 3-1750 § 130 Nr 1).

Es erscheint jedoch zumindest zweifelhaft, ob ohne Unterschrift hier eindeutig feststellbar war, dass das Schreiben auch von dem (damaligen) Bevollmächtigten, Rechtsanwalt R, stammte und es sich nicht nur um einen Entwurf handelte (GmSOGB aaO BGHZ 144, 160 = SozR 3-1750 § 130 Nr 1). Zwar enthielt es detaillierte Angaben zum Rechtsstreit, und es waren ihm ärztliche Unterlagen im Original und in beglaubigter Übersetzung beigefügt, die sich eindeutig auf den Kläger bezogen. Jedoch waren weder die serbokroatische Urfassung, aus der nach Angaben des Klägers das Berufungsschreiben als Übersetzung gefertigt sein soll, beigefügt, noch ein Übersetzungsvermerk oder handschriftliche Anmerkungen des Bevollmächtigten oder des Klägers (vgl BSG Urteil vom 16. November 2000 - B 13 RJ 3/99 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 4) angebracht noch eine Prozessvollmacht des Klägers (vgl BVerwG Urteil vom 6. Dezember 1988 - 9 C 40/87 - BVerwGE 81, 32, 35) beigefügt. Dass der Umschlag, mit dem das Schreiben übersandt worden war, die Handschrift des Bevollmächtigten aufwies, wird vom Kläger nicht behauptet. Insoweit kann deshalb dahinstehen, welche Folge der Umstand hat, dass dieser Umschlag vom Gericht nicht aufbewahrt wurde (vgl BSG Urteil vom 16. November 2000 - B 13 RJ 3/99 R - SozR 3-1500 § 151 Nr 4, S 12 mwN).

2. Selbst wenn von einer Versäumung der Berufungsfrist ausgegangen wird, hätte das LSG - wie der Kläger zu Recht rügt - die Berufung nicht als verspätet verwerfen dürfen, sondern gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen. Voraussetzung dafür ist, dass ein Beteiligter "ohne Verschulden verhindert" war, die Verfahrensfrist einzuhalten (§ 67 Abs 1 SGG), und die versäumte Rechtshandlung innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt wird (§ 67 Abs 2 Satz 3 iVm Satz 1 SGG). Entgegen der Auffassung des LSG waren diese Voraussetzungen hier erfüllt.

a) Nach der Rechtsprechung des BSG liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt (BSG Urteile vom 23. September 1955 - 3 RJ 26/55 - BSGE 1, 227, 232 und vom 18. März 1987 - 9b RU 8/86 - BSGE 61, 213 = SozR 1500 § 67 Nr 18; stRspr) außer Acht gelassen ist, wobei sich der Beteiligte das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen muss (BSG Beschluss vom 15. Dezember 1959 - 10 RV 750/56 - BSGE 11, 158, 160; stRspr). Wer vergisst, das Berufungsschreiben zu unterschreiben, erfüllt zwar die erforderliche Sorgfalt nicht. Ohne Verschulden "verhindert", eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ein Beteiligter nach der Rechtsprechung des BSG jedoch nicht nur, wenn auf seiner Seite ein Verschulden gar nicht vorlag, sondern auch dann, wenn ein solches Verschulden zwar vorgelegen hat, dieses aber für die Fristversäumnis nicht ursächlich gewesen ist bzw ihm nicht zugerechnet werden kann, weil die Frist im Fall pflichtgemäßen Verhaltens einer anderen Stelle gewahrt worden wäre (BSG Beschluss des Großen Senats des BSG vom 10. Dezember 1974 - GS 2/73 - BSGE 38, 248, 258 = SozR 1500 § 67 Nr 1). Nach dieser Rechtsprechung, an der das BSG trotz daran geäußerter Bedenken (vgl BVerwG vom 25. November 1977 - V C 12.77 - BVerwGE 55, 62, 68 ff) festhält (vgl BSG Urteile vom 25. April 1978 - 9 RV 71/77 - SozR 1500 § 67 Nr 12 und vom 22. Oktober 1986 - 9a RV 43/85 - SozR 1500 § 61 Nr 1), ist berücksichtigen, dass es für die Vorwerfbarkeit der Fristversäumnis auch auf die persönlichen Verhältnisse, insbesondere Bildungsgrad und Rechtserfahrung, ankommt und insoweit die besondere Situation der Beteiligten im sozialgerichtlichen Verfahren in Betracht zu ziehen ist (vgl BSG aaO BSGE 38, 248, 259 = SozR 1500 § 67 Nr 1).

Dass die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht überspannt werden dürfen und insoweit einem Beteiligten nicht jedes Verschulden zurechenbar ist, folgt aber nach Überzeugung des Senats auch aus der Rechtsprechung des BVerfG zum Anspruch auf ein faires Verfahren. Nach diesem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden "allgemeinen Prozessgrundrecht" (vgl BVerfG Beschluss vom 26. Mai 1981 - 2 BvR 215/81 - BVerfGE 57, 250, 275) darf sich das Gericht nicht widersprüchlich verhalten (BVerfG Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 370/84 - BVerfGE 69, 381, 387), darf aus eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (BVerfG Beschlüsse vom 22. Mai 1979 - 1 BvR 1077/77 - BVerfGE 51, 188, 192, vom 9. Februar 1982 - 1 BvR 1379/80 - BVerfGE 60, 1, 6 und vom 14. April 1987 - 1 BvR 162/84 - BVerfGE 75, 183, 190) und ist allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfG Beschlüsse vom 10. Juni 1975 - 2 BvR 1074/74 - BVerfGE 40, 95, 98 f, vom 26. April 1988 - 1 BvR 669, 686 und 687/87 - BVerfGE 78, 123, 126 f, vom 28. Februar 1989 - 1 BvR 649/88 - BVerfGE 79, 372, 376 f, vom 20. Juni 1995 - 1 BvR 166/93 - BVerfGE 93, 99, 114 f; vgl auch Kammerbeschluss vom 19. Februar 1997 - 1 BvR 1353/95 - NJW 1997, 1772). Diese Grundsätze gelten auch und erst recht bei Wahrnehmung der dem LSG gemäß § 106 Abs 1 SGG iVm § 153 Abs 1 SGG obliegenden Fürsorge, wonach das Gericht ua darauf hinzuwirken hat, dass Formfehler beseitigt werden. Die daraus resultierende Hinweispflicht soll vermeiden, dass Beteiligte an unbeabsichtigten Formfehlern scheitern. Dementsprechend ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn die Fristversäumnis auch auf Fehlern beruht, die im Verantwortungsbereich des Gerichts bei Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht liegen (vgl BVerfG Beschluss vom 20. Juni 1995 - 1 BvR 166/93 - BVerfGE 93, 99, 115 - zur Wiedereinsetzung bei nicht rechtzeitiger Weiterleitung eines Rechtsmittels durch das angegangene (unzuständige) Gericht; vgl auch BVerwG Beschluss vom 2. Februar 2000 - 7 B 154/99 - VwRR BY 2000, 235 sowie die zusammenfassende Darstellung von Wüllenkemper in DStZ 2000, 366, 369; Müller, NJW 2000, 322, 326 f). Davon aber ist im vorliegenden Fall auszugehen. Das LSG hat seine Fürsorgepflicht zwar erkannt, es ist ihr aber nur unzureichend nachgekommen und hat damit wesentlich dazu beigetragen, dass der von ihm erkannte Fehler des Berufungsschreibens nicht rechtzeitig behoben wurde.

aa) Wie sich aus der Adressierung des an das LSG zurückgelangten Schreibens an Rechtsanwalt R. vom 9. August 1999 und weiter aus dem Vermerk des Vorsitzenden vom 1. September 1999 ergibt, hat das LSG dieses Schreiben nicht an die am Ende der Berufungsschrift angegebene Anschrift des Bevollmächtigten in "Barajevo", sondern nach "YU-11126 Belgrad" gesandt; Belgrad war jedoch nur im Datum der Berufungsschrift angegeben und ist im Übrigen der Wohnort des Klägers. Es handelte sich somit entweder um ein Versehen oder um einen Irrtum über die Zuordnung des Orts Barajevo (ca 28 km von Belgrad entfernt). Weder ein Versehen noch ein solcher Irrtum des LSG können dem Kläger angelastet werden. Beides wäre für die Beurteilung, ob Wiedereinsetzung zu gewähren ist, allenfalls dann unbeachtlich, wenn auch ein Schreiben an den Bevollmächtigten ohne Postleitzahl diesen nicht hätte rechtzeitig erreichen können oder wenn das LSG durch sein Schreiben vom 1. September 1999 dem Kläger eine realistische Möglichkeit gegeben hätte, den Fehler fristgemäß zu beheben. Für ersteres besteht - wie auch die vom Senat eingeholte Auskunft der Deutschen Post AG vom 7. November 2000 bestätigt hat - kein Anhalt; immerhin lief die Berufungsfrist am 9. August 1999 noch weitere 6 Wochen. Letzteres lässt sich ebenfalls nicht feststellen (dazu nachfolgend unter bb).

bb) Hinweise, die ein Gericht den Beteiligten in Wahrnehmung seiner Fürsorgepflicht gibt, müssen der konkreten Situation angemessen sein. Bei - wie hier - drohendem Fristablauf müssen sie (auch) dasjenige Verhalten bezeichnen, mit dem das Erforderliche ggf am schnellsten bewirkt werden kann. Das LSG hätte daher in seinem Schreiben vom 1. September 1999 an den Kläger diesen nicht lediglich auffordern dürfen, die Unterschrift seines Bevollmächtigten herbeizuführen. Es hätte ihn vielmehr darauf hinweisen müssen, dass er die Berufungsschrift auch selbst unterschreiben oder von seiner Ehefrau (§ 151 Abs 1 iVm § 73 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 2 SGG) unterschreiben lassen könne und im übrigen die Berufung - zur Vermeidung von Verzögerungen auf dem Postweg - dem SG oder LSG auch per Fax übermittelt werden könne oder eine Berufungseinlegung durch Telegramm möglich sei. Der Hinweis auf die Vertretungsmöglichkeit durch die Ehefrau war auch deshalb geboten und naheliegend, weil das LSG den ihm zusammen mit der Berufungsschrift vom SG zugeleiteten Prozessakten entnehmen konnte, dass seit Februar 1998 der Schriftwechsel für den Kläger von dessen Ehefrau geführt worden war. Nach den im Gerichtsbescheid des SG wiedergegebenen ärztlichen Sachverständigenäußerungen wie auch den dem Berufungsschreiben beigefügten ärztlichen Bescheinigungen bestand zudem die Möglichkeit, dass der Kläger wegen psychischer Beeinträchtigungen an der Wahrnehmung seiner Interessen gehindert war. Deshalb kann dem Kläger auch eine durch Einschaltung des Bevollmächtigten bedingte weitere Verzögerung nicht zum Nachteil gereichen.

In diesem Zusammenhang kann dahingestellt bleiben, ob und welche (zusätzlichen) rechtlichen Folgen sich aus dem Umstand ergeben, dass - wie die Revision zu Recht beanstandet - das Hinweisschreiben des LSG vom 1. September 1999 auch hinsichtlich des angegebenen Fristendes (19. statt 20. September 1999) und der Berufungseinlegung (§ 151 Abs 1 und 2 SGG) nicht korrekt war.

b) Die versäumte Rechtshandlung ist mit der am 30. September 1999 beim LSG eingegangenen unterzeichneten Berufungsschrift rechtzeitig nachgeholt worden.

Die Monatsfrist des § 67 Abs 2 Satz 1 SGG beginnt mit "Wegfall des Hindernisses", auf dem das Fristversäumnis beruht. Daraus kann im Fall, dass das Hindernis schon vor Ablauf der Rechtsmittelfrist entfällt, allerdings nicht geschlossen werden, dass von diesem Zeitpunkt an die volle (Antrags)Frist von einem Monat für die Einlegung des Rechtsmittels zur Verfügung steht. Es ist vielmehr zu prüfen, ob das Rechtsmittel in der verbliebenen Frist noch hätte eingelegt werden können, und es ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn dies nicht mehr möglich ist (vgl BSG Urteil vom 29. Oktober 1987 - 11b RAr 68/86 - SozR 1500 § 67 Nr 19; allg Meinung vgl Peters/Sautter/Wolff, SGG-Komm, 4. Aufl, 32. Nachtrag, § 67 Anm 4 Buchst d Doppelbuchst aa, S 215; Danckwerts in Hennig, SGG-Komm, § 67 RdNr 16, Stand: April 1996; Meyer-Ladewig, SGG-Komm 6. Aufl 1998, § 67 RdNr 11 b). Da das Hindernis hier in der Unkenntnis lag, dass die Schriftform nicht gewahrt worden war, ist der Wegfall zu dem Zeitpunkt anzunehmen, in dem diese Unkenntnis beseitigt war, dh bei Kenntnisnahme des Schreibens des LSG vom 1. September 1999 durch den Kläger. Dieser Zeitpunkt lag zwar nach dem Vorbringen des Klägers bzw dessen (späterem) Bevollmächtigten, Rechtsanwalt Rad , noch vor Ablauf der Berufungsfrist, nämlich am 15. September 1999. Es bedarf dazu jedoch keiner weiteren Ermittlungen, weil - angesichts der Postlaufzeiten und des fehlenden Hinweises auf die Übermittlung per Fax oder Telegramm - kein Anhalt dafür besteht, dass der Kläger vom Wegfall des Hindernisses an nicht alles ihm Zumutbare unternommen hätte, um den Formfehler zu beheben (vgl BVerfG Beschluss vom 7. April 1976 - 2 BvR 728/75 - BVerfGE 42, 120, 126).

Nach alledem war dem Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist zu gewähren. Über den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Versichertenrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit kann der Senat nicht selbst entscheiden, da es insoweit an hinreichenden berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen fehlt (§ 163 SGG). Das Urteil des LSG war daher gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - zurückzuverweisen.
Rechtskraft
Aus
Saved