L 3 U 41/01

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 22 U 689/99
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 41/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufungen des Klägers werden zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Entscheidung über die Anerkennung der BK Nr. 2108 (bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können) der Anlage zur BKV und der Ablehnung von Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 der BKV.

Der Kläger - geboren 1954 - absolvierte in der Zeit von 1970 bis 1972 eine Lehre zum Baufacharbeiter und war in der Folgezeit - lediglich unterbrochen vom Wehrdienst - bis zu seiner Erkrankung wegen eines Karpaltunnelsyndroms beiderseits am 5. November 1993 als Eisenflechter tätig. Das Arbeitsverhältnis wurde zum 30. Juni 1994 gekündigt. Er bezog bis zum 4. Mai 1995 Krankengeld. Vom 16. Oktober 1995 bis 22. Januar 1996 besuchte er den Lehrgang "geprüfter Polier Teil I" und legte am 2. Februar 1996 erfolgreich die Prüfung zum Polier im Hochbau ab. Von 1998 bis 1999 erfolgte eine Anstellung im Rahmen einer ABM-Maßnahme. Ab April 2000 bis zum Februar 2002 absolvierte er eine Umschulung zum Kaufmann im Bereich der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft.

Auf Anzeige der AOK Berlin waren von der Beklagten Ende 1993 Feststellungsverfahren wegen Verdachts auf Vorliegen mehrerer Berufskrankheiten - hier Nr. 2108 - eingeleitet worden. Im Verlaufe dieses Verfahrens holte die Beklagte eine gutachterliche Stellungnahme zur Frage der BK von Frau Prof. Dr. S vom 2. März 1994 sowie Arbeitgeberauskünfte von der Firma I Berlin GmbH vom 18. Mai 1996 und der Arbeitsgemeinschaft B-V(BSV) - PH AG vom 1. September 1994 zur Klärung der beruflichen Belastung des Klägers bei seiner Tätigkeit als Eisenbieger ein. Außerdem zog sie Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. IRvom 8. September 1994 sowie von Dr. med. GKvom 25. August 1994 bei. Laut Bericht des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) vom 17. Februar 1995 waren die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung einer BK Nr. 2108 erfüllt, nicht jedoch für die BK Nr. 2109.

Die Beklagte veranlasste weiterhin eine Stellungnahme des Gewerbearztes Dr. FLandesinstitut für Arbeitsmedizin, vom 9. Mai 1995 und zog das Vorerkrankungsverzeichnis der AOK Berlin vom 8. Juni 1995 sowie die Unterlagen der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchung der Poliklinik der B und über Behandlungen des Klägers von dem Patientenarchiv des Bezirksamtes Marzahn vom 20. September 1995 bei.

Auf Veranlassung des Landesinstituts für Arbeitsmedizin erstattete Dr. Dr. med. D ein arbeitsmedizinisches Gutachten vom 28. Januar 1996. Er hielt unter Auswertung des vom Kläger vorgelegten CT-Befundes der Lendenwirbelsäule vom 24. August 1995 durch den Radiologen Dr. K einen Zusammenhang zwischen der berufsbedingten Lendenwirbelsäulenbelastung und dem Lendenwirbelsäulensyndrom bei L4/L5/S1 "trotz eindeutiger Anzeichen für einen durchgemachten Morbus Scheuermann und eine Torsionsanomalie" für wahrscheinlich. Er empfahl "eine Befundanerkennung einer BK 2108 mit einer MdE von 10 v.H." und hielt Maßnahmen nach § 3 BKV für notwendig. Der Gewerbearzt Dr. F empfahl in seiner Stellungnahme vom 1. März 1996 ebenfalls die Anerkennung einer BK Nr. 2108, allerdings ab August 1995 (Nachweis des Bandscheibenvorfalls) mit einer MDE von 20 v.H. und die Anwendung von Maßnahmen nach § 3 Abs. 1 und 2 BKV. Nach Einholung einer Stellungnahme des beratenden Arztes Dr. R, der die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ab August 1995 lediglich mit 10 v.H. einschätzte, erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Mai 1997 die bestehende "bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule" als eine BK Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV sowie ein chronisches Lumbalsyndrom L 4/L 5/S1 als Folge der Berufskrankheit an, lehnte jedoch die Gewährung einer Verletztenrente mangels rentenberechtigender MdE ab.

Aufgrund des hiergegen erhobenen Widerspruchs des Klägers veranlasste die Beklagte die Einholung eines chirurgischen Gutachtens von Prof. Dr. L, Evangelisches Waldkrankenhaus S, vom 6. Mai 1998, ein neuro-physiologisches Zusatzgutachten von Prof. Dr. S, Universitätsklinikum ,vom 19. März 1998 sowie ein neurologisches Zusatzgutachten von Dr. EH vom 6. April 1998. Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, klinisch sei der neurologische Befund unauffällig. Aufgrund des veranlassten MRT vom 10. Februar 1998 sei - auch unter Berücksichtigung des CT-Befundes von August 1995 - das Vorliegen eines Bandscheibenvorfalls mit Einengung des Spinalkanals oder der Zwischenwirbellöcher auszuschließen. Es bestehe lediglich eine kleine dorso-mediane Bandscheibenprotrusion bei L5/S1. Es liege röntgenologisch keine dem Lebensalter des Klägers deutlich vorauseilende bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vor. Zwischenzeitlich hatte die Beklagte mit Schreiben vom 19. Februar 1998 die Kosten der Umschulung des Klägers zum Werkpolier und geprüften Polier übernommen.

Aufgrund des Gutachtenergebnisses hörte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 8. Oktober 1998 zu ihrer Absicht an, den Bescheid vom 28. Mai 1997 mit Wirkung für die Zukunft gemäß § 45 Abs. 1 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X) aufzuheben, da eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule nie vorgelegen habe. Die Wertung der Sach- und Rechtslage habe nach pflichtgemäßer Ausübung des Ermessens ergeben, dass ein Vertrauen auf den Bestand des Verwaltungsaktes zumindest für die Zukunft nicht mehr bestehen könne. Die aufgrund des Bescheides vom 28. Mai 1997 zu erbringenden Leistungen im Rahmen der beruflichen Rehabilitation seien ausnahmslos erbracht worden. Leistungen für die Zukunft müssten aufgrund des Bescheides nicht mehr erbracht werden, so dass ein schutzwürdiges Vertrauen auf das Bestehen des Anspruches nicht gegeben sei.

Mit Bescheid vom 23. März 1999 lehnte die Beklagte auch einen Anspruch auf Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 BKV ab, da nach den Feststellungen des Gutachters Prof. Dr. L die zu fordernde "konkrete Gefahr" des Entstehens einer BK Nr. 2108 nicht vorliegen würde. Diese sei nur gegeben, wenn nach medizinischen Erkenntnissen und Erfahrungen ein gegenwärtiger, in allen Einzelheiten überschaubarer Gefährdungszustand vorliege, der bei weiterer beruflicher Exposition den Eintritt der BK mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwarten ließe. Ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Lendenwirbelsäulenerkrankung und der beruflichen Tätigkeit als Eisenflechter sei jedoch von Prof. Dr. L unter Auswertung der Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule vom 16. Dezember 1997, der Kernspintomographie vom 10. Februar 1998 sowie des fachneurologischen Gutachtens von Dr. H vom 10. März 1998 nicht festgestellt worden.

Mit Schreiben vom 11. April 1999 nahm der Kläger seinen Widerspruch gegen den damit bestandskräftigen Bescheid vom 28. Mai 1997 zurück. Im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Rücknahme dieses Anerkennungsbescheides vom 28. Mai 1997 führte der Kläger mit Schreiben vom 14. April 1999 aus, die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung einer BK Nr. 2108 seien unter Berücksichtigung der Stellungnahme des TAD vom 1. Juni 1995 gegeben. In dem rechtsgültigen Bescheid sei eine Erkrankung der Lendenwirbelsäule und als deren Folgen ein chronisches Lumbalsyndrom anerkannt worden. Aus dem Merkblatt für die ärztliche Untersuchung sei kein Hinweis zu entnehmen, dass ein Prolaps für die Anerkennung der BK 2108 Voraussetzung gewesen wäre. Die von der Beklagten vorgenommene Wertung, dass kein Vertrauen in den Bestand des Verwaltungsaktes für die Zukunft bestehe, könne ebenfalls nicht nachvollzogen werden. Von dem für die berufliche Rehabilitation zuständigen Mitarbeiter der Beklagten seien ihm Leistungen nach § 36 und § 35 SGB VII zugesagt worden. Auch für die Zukunft könnten bei der chronischen Erkrankung ärztliche Behandlung, Heilbehandlung, Arznei und Verbandsmittel notwendig werden.

Mit dem gegen die Ablehnung von Übergangsleistungen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, er habe die Verpflichtungserklärung zur Tätigkeitsaufgabe unterschrieben. Damit habe er alle vom Gesetzgeber geforderten Voraussetzungen für den Erhalt dieser Leistungen, die Pflichtleistungen darstellten, erfüllt. Der Gewerbearzt habe auch ohne Anerkennung eines Bandscheibenprolapses die medizinischen Voraussetzungen zur Anerkennung von Leistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BKV als erfüllt angesehen. Schon damals hätten ihm entsprechende Leistungen gewährt werden müssen.

Die Beklagte wies mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1999 diesen Widerspruch als unbegründet zurück. Sie führte zur Begründung u.a. aus, das Verwaltungsverfahren über Leistungen gemäß § 3 Abs. 2 BKV stelle einen separates Verfahren dar. Aufgrund der nicht vorliegenden medizinischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 habe auch keine Notwendigkeit der Tätigkeitsaufgabe aufgrund beruflicher Exposition bestanden. Insoweit könne auch nicht festgestellt werden, dass die Gefahr bestanden habe, dass eine Berufskrankheit entstehe, wieder auflebe oder sich verschlimmere.

Mit Bescheid vom 27. April 1999 nahm die Beklagte den Bescheid vom 28. Mai 1997 über die Anerkennung einer BK nach Nr. 2108 gemäß § 45 Abs. 1 und 2 SGB X zurück. Entsprechend dem Gutachten von Prof. Dr. L und unter Auswertung der Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule vom 16. Dezember 1997, der Kernspintomographie vom 10. Februar 1998 sowie des ergänzenden fachneurologischen Gutachtens von Dr. H liege kein belastungskonformer bandscheibenbedingter Schaden der Lendenwirbelsäule von oben nach unten zunehmend vor, der über das zu erwartende Altersmaß hinausgehe. Ein zu entschädigendes Krankheitsbild im Sinne der BK Nr. 2108 habe nie bestanden. Die Anerkennung der BK 2108 durch Bescheid vom 28. Mai 1997 sei demnach zu Unrecht erfolgt. Der Bescheid sei deshalb für die Zukunft aufzuheben, da ein Vertrauenstatbestand, der eine Rücknahme für die Zukunft im Sinne des Abs. 2 ausschließe, nicht gegeben sei. Der Kläger habe keine wirtschaftlich schwerwiegende Vermögensdisposition getroffen. Das öffentliche Interesse an der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes sei höher einzuschätzen als sein Vertrauen auf den weiteren Bestand des Bescheides vom 28. Mai 1997.

Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch verwies der Kläger auf seine Ausführungen vom 14. April 1999 im Anhörungsschreiben und trug ergänzend vor, bei einer am 18. Mai 1999 durchgeführten neurologischen Untersuchung des rechten Beines sei durch einen EMG-Befund eine chronische Schädigung der Wurzel L 5 rechts festgestellt worden. In dem Gesamtgutachten vom 6. Mai 1998, welches die Grundlage des Bescheides über die Rücknahme der Anerkennung der BK 2108 darstelle, sei dieser schwerwiegende Aspekt nicht gewürdigt worden. Auch habe der Verordnungsgeber durch den eindeutigen Wortlaut der BK Nr. 2108 sich nicht auf ein typisches Schadensmuster beschränkt und bestimmte Erscheinungsformen der Gesundheitsstörungen - insbesondere einen monosegmentalen Befall - ausgeschlossen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 1999 wies die Beklagte im Wesentlichen unter Wiederholung des Vorbringens aus dem Anhörungsschreiben sowie aus den Gründen des angefochtenen Bescheides vom 27. April 1999 den Widerspruch als unbegründet zurück. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Widerspruchsbescheides Bezug genommen.

Mit der gegen den Bescheid der Beklagten vom 23. März 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1999 erhobenen Klage S 22 U 526/99 hat der Kläger sein Begehren auf Gewährung von Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 BKV weiterverfolgt und mit der Klage S 22 U 689/99 die Aufhebung des Bescheides vom 27. April 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 1999 begehrt.

Das Sozialgericht hat Befundberichte des behandelnden Orthopäden Dipl. Med. SA mit weiteren medizinischen Unterlagen (u.a. HV-Bericht LVA Berlin vom 29. August 1997) und des Chirurgen Dr. M vom 20. Oktober 1999 eingeholt. Es hat weiterhin ein fachärztliches sozialmedizinisches Gutachten von dem Chirurgen Dipl. Med. H.W. P vom 18. August 2000 (Eingangsdatum) veranlasst. Dieser ist zu dem abschließenden Ergebnis gelangt, eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule sei nicht festzustellen, vielmehr bestehe eine anlagebedingte Fehlhaltung bei hierdurch begünstigten, dem altersüblichen Maß aber nicht vorauseilenden degenerativen Schäden. Bandscheibenvorfälle oder eine Befundzunahme der Veränderungen, - von oben nach unten zunehmend - seien nicht zu diagnostizieren. Ab dem Tag der Berufsaufgabe am 6. November 1993 habe keine konkret individuelle Gefahr der Entstehung, des Wiederauflebens oder der Verschlimmerung einer Berufskrankheit Nr. 2108 bestanden.

Durch die Urteile vom 16. März 2001 hat das Sozialgericht Berlin die Klage S 22 U 526/99 und die Klage S 22 U 689/99 abgewiesen. Es hat u.a. ausgeführt, dass unter Berücksichtigung des eingeholten Sachverständigengutachtens von Dipl. Med. P die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108 der Anlage zur BKV nicht vorgelegen hätten. Zwar seien die sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt, da der Kläger mehr als zehn Jahre in ausreichendem Umfang lendenwirbelsäulenbelastende Tätigkeiten im Sinne der Berufskrankheit ausgeübt habe. Der im Jahre 1995 geäußerte Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall bei L 5/S 1 habe durch das MRT vom 10. Februar 1998 nicht bestätigt werden können. Auch ein MRT von März 1999 habe lediglich Bandscheibenvorwölbungen bei L 4/5 sowie L5/S1 ergeben. Segmentale Bandscheibenveränderungen, die das altersdurchschnittlich zu erwartende Ausmaß überschritten hätten, seien auf der Grundlage dieser Befunde nicht erkennbar gewesen. Der Sachverständige Dipl. Med. P habe zutreffend darauf hingewiesen, dass beim Kläger offensichtlich belastungsabhängige funktionelle Beschwerden bestünden, die normal seien. Soweit der Kläger eine Fußheberschwäche geltend gemacht habe, sei diese bisher nicht eindeutig nachgewiesen und passe auch nicht zu den röntgenologischen Befunden. Die Beklagte habe den rechtwidrigen Anerkennungsbescheid nach Maßgabe des § 45 Abs. 2 SGB X zurücknehmen können, da bei Abwägung des Vertrauens des Klägers auf den Fortbestand des Bescheides vom 28. Mai 1997 das öffentliche Interesse an der Rücknahme dieses Bescheides und der Herstellung eines rechtmäßigen Zustandes überwiege. So habe keine der Regelungstatbestände der Vorschrift - nämlich Verbrauch von Leistungen oder getroffene Vermögensdispositionen - vorgelegen. Der Kläger habe keine Vermögensdisposition getroffen, da Rentenleistungen nicht gewährt worden seien. Die Beklagte habe ihm eine Umschulung zum Polier gewährt und finanziert und ihm so weitere Chancen auf dem Arbeitmarkt eröffnet. Im Übrigen sei die Berufsaufgabe und die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei der Arbeitsgemeinschaft BSV nicht wegen der WS-Beschwerden, sondern aufgrund der Arbeitsunfähigkeit wegen eines Karpaltunnelsyndroms eingetreten. Es habe daher kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Aufgabe dieser Tätigkeit und der Berufskrankheit Nr. 2108 bestanden. Soweit der Kläger geltend mache, dass er aufgrund des Bewilligungsbescheides in Zukunft z.B. mit Gewährung von Heilmitteln ohne Zuzahlung habe rechnen können, sei dies nur eine vage Aussicht gewesen, die allein nicht schutzwürdig im Sinne der Vorschrift sein könne. Die Beklagte habe ihr Ermessen nach § 45 Abs. 1 Satz 1 SGB X fehlerfrei ausgeübt. Hinsichtlich seines geltend gemachten Anspruchs auf Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 BKVO sei erforderlich, dass eine konkret individuelle Gefahr bestanden habe, dass bei einem Verbleiben des Klägers in der gefährdenden Tätigkeit in absehbarer Zeit mit Wahrscheinlichkeit eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule entstehe, deren rechtlich wesentliche Ursache oder Mitursache in der beruflichen Tätigkeit liege. Unter Berücksichtigung des eingeholten Sachverständigengutachtens von Dr. Phättenbei dem Kläger keine segmentalen Bandscheibenveränderungen vorgelegen, die das altersdurchschnittlich zu erwartende Ausmaß überschritten hätten. Es sei deshalb im November 1993 nicht damit zu rechnen gewesen, dass in absehbarer Zeit bei einer Fortsetzung der Tätigkeit als Eisenflechter eine entsprechende Erkrankung der Lendenwirbelsäule entstehen würde. Soweit der Kläger darauf hinweise, dass eine Berufskrankheit ursprünglich anerkannt worden sei, führe dies zu keinem anderen Ergebnis. Zwar sei die Anerkennung der Berufskrankheit im Zeitpunkt der Ablehnung von Übergangsleistungen noch rechtsgültig gewesen. Jedoch sei der Anerkennungsbescheid vom 28. Mai 1997 zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung über den Antrag auf Gewährung von Übergangsleistungen mit Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1999 bereits zurückgenommen worden. Aus dem Bescheid vom 28. Mai 1997 könne nicht automatisch die Gewährung von Übergangsleistungen resultieren.

Gegen das am 11. April 2001 zugestellte Urteil in dem Verfahren S 22 U 526/99 richtet sich die am 30. April 2001 eingelegte Berufung L 2 U 66/01 und gegen das am 11. April 2001 zugestellte Urteil in dem Verfahren S 22 U 689/99 richtet sich die am 30. April 2001 eingelegte Berufung L 3 U 41/01. Durch Beschluss vom 20. Juli 2001 hat der Senat die beiden Verfahren unter dem Aktenzeichen L 3 U 41/01 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat ein fachorthopädisches Gutachten von Dr. med. MWvom 28. Juni 2002 eingeholt. Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, die bei dem Kläger bestehende Osteochondrose HWK 5/6 mit geringen Funktionseinschränkungen sowie das chronische Lumbalsyndrom mit muskulären und bandhaften Überlastungen sowie der abgelaufene Morbus Scheuermann der mittleren Lendenwirbelsäule stellten keine Gesundheitsstörungen dar, die mit Wahrscheinlichkeit im Sinne der erstmaligen Entstehung oder wesentlichen Verschlimmerung auf die berufliche Belastung des Klägers zurückzuführen seien. Die im Röntgenbefund und im MRT gefundenen Veränderungen seien altersentsprechend und überschritten die Altersnorm nicht. Folglich habe der Kläger auch nicht wegen einer berufsbedingten Bandscheibenerkrankung seine Tätigkeit als Eisenflechter aufgeben müssen. Es habe auch ab dem Tage der Berufsaufgabe am 6. November 1993 keine konkret individuelle Gefahr der Entstehung, des Wiederauflebens oder der Verschlimmerung einer BK Nr. 2108 bestanden.

Der Kläger verweist auf sein bisheriges Vorbringen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 13. August 2002 und die dort von ihm für wesentlich gehaltenen Fragen verwiesen.

Der Kläger beantragt,

die beiden Urteile des Sozialgerichts Berlin vom 16. März 2001 und den Bescheid vom 27. April 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 1999 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1999 zu verurteilen, ihm Übergangsleistungen gemäß § 3 Abs. 2 BKVO zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufungen zurückzuweisen.

Sie verweist auf die erstinstanzlichen Entscheidungen und ihr bisheriges Vorbringen.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Akteninhalt verwiesen. Die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten lagen dem Senat vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegten Berufungen des Klägers sind zulässig, jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht hat es zu Recht abgelehnt, die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufzuheben, da sie rechtmäßig sind.

Die Beklagte war befugt, mit Bescheid vom 27. April 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 1999 den Bescheid vom 28. Mai 1997, mit dem die Anerkennung einer BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV erfolgt ist, gemäß § 45 Abs. 1 und 2 SGB X zurückzunehmen. Nach dieser Vorschrift darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechts-widrig ist - auch nachdem er unanfechtbar geworden ist - u.a. ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte nicht auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist.

Der Anerkennungsbescheid vom 28. Mai 1997 war rechtswidrig, weil er unter Zugrundelegung eines Sachverhalts erlassen worden war, der sich als unrichtig erwiesen hat. Die Beklagte ist bei Erlass dieses Bescheides über die Anerkennung einer BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV auf der Grundlage des Gutachtens von Dr. Dr. D vom 28. Januar 1996 und der Stellungnahme des Gewerbearztes Dr. F-H vom 1. März 1996 davon ausgegangen, dass eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorgelegen hat. Grundlage dieser Feststellung des Gutachters und des Gewerbearztes bildete u.a. der im CT-Befund der Lendenwirbelsäule vom 24. August 1995 interpretierte sequesterförmige Bandscheibenprolaps in Höhe L 5/ S 1 mit deutlicher Einengung des Spinalkanals und der Berücksichtigung eines hieraus resultierenden Lumbalsyndroms. Diese Befund- und Zusammenhangsfeststellungen waren jedoch unrichtig.

Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten von Prof. Dr. L vom 6. Mai 1998 sowie den Sachverständigengutachten des Chirurgen Dipl. Med. H.W. Pfeifer vom 18. August 2000 und des Orthopäden Dr. med. W-R in seinem Gutachten vom 28. Juli 2002. Ausweislich des vom Gutachter Prof. Dr. Lüdtke-veranlassten MRT der Lendenwirbelsäule vom 10. Februar 1998 lag bei L 5/S 1 kein Bandscheibenvorfall vor, sondern eine Bandscheibenprotrusion mit leichter epiduraler Fettgewebsvermehrung im lumbosakralen Übergang. Dies ergibt sich aus den Feststellungen des Radiologen Prof. Dr. P, dem zur nochmaligen Prüfung von Prof. Dr. Lsowohl die Original-CT-Bilder vom 24. August 1995 wie die von ihm angefertigten MRT-Bilder vom 10. Februar 1998 zur Begutachtung vorgelegt worden sind. Ausweislich seiner Befundmitteilung vom 24. März 1998 bekräftigt Prof. Dr. P bei der vergleichenden Beurteilung beider Bildserien, dass lediglich eine Bandscheibenprotrusion L 5/S 1 dorso-median vorlag, die insbesondere durch die sagitalen CT-Rekonstruktion im Bandscheibenfach L 5/S 1 unterstrichen worden waren.

Nach den Feststellungen des Gutachters Prof. Dr. L vom 6. Mai 1998 sowie dem Ergebnis des Sachverständigengutachtens des Facharztes für Chirurgie Dipl. Med. H.W. P vom 18. August 2000 wie auch den Ausführungen des Sachverständigen Dr. med. W in seinem Gutachten vom 28. Juni 2002 liegt eine nennenswerte Alteration der Bandscheibe auf der Etage L 4/5 und L 5/S 1 nicht vor. Die in dem MRT-Befund beschriebene Veränderung ist geringgradig. Sie führt zu keiner Einengung des Spinalkanals bzw. der umliegenden nervalen Strukturen und ist definitiv in ihrer Ausprägung nicht über die Altersnorm hinausgehend. Sowohl auf den Röntgenaufnahmen von 1995 und den anlässlich der Begutachtung durch Dr. W veranlassten Röntgenbildern vom 26. Juni 2002 liegen nach seinen Ausführungen altersentsprechende knöcherne Strukturen vor. Bis auf eine initiale Facettengelenkarthrose auf der Etage L 5/S 1 und den leichten, eher klinisch nachweisbaren skoliotischen Formveränderungen finden sich lediglich geringe Deckplattenunregelmäßigkeiten der mittleren Lendenwirbelsäule als Hinweis auf einen eventuell abgelaufenen Morbus Scheuermann. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. W kann definitiv ausgeschlossen werden, dass im Bereich der Bandscheiben wie auch der umliegenden Wirbelkörperdeckplatten sich entsprechende Verschleißerscheinungen eingestellt haben. Angesichts der klinischen Untersuchungen und der Beschwerdeschilderungen durch den Kläger ergeben sich auch keine Hinweise für eine echte Nervenwurzelirritation oder Kompression. Auch die EMG-Untersuchung von 1999 belegt nach den Feststellungen von Dr. W diese Einschätzung. Ebenso hat Dr. H in seinem neurologischen Gutachten keine relevanten Veränderungen an den abgehenden lumbalen Nervenwurzeln finden können. Die degenerativen Veränderungen auf der mittleren und unteren Halswirbelsäule (Etage HWK 5/6) seien stärker ausgeprägt als auf der Hauptbelastungszone der Lendenwirbelsäule bei L 5/S 1.

Angesichts dieser eindeutigen Feststellungen der ärztlichen Gutachter und Sachverständigen, die der Senat für schlüssig und überzeugend hält, da sie auf einer sorgfältigen Auswertung der radiologischen Befunde und des klinischen Untersuchungsergebnisses beruhen, ist davon auszugehen, dass die von Dr. D sowie von dem Gewerbearzt Dr. F-H getroffenen Befundfeststellungen, die Grundlage des Bescheides vom 28. Mai 1997 waren, sich als unrichtig erwiesen haben. Rechtswidrig ist auch ein Verwaltungsakt der - wie vorliegend - unter Zugrundelegung eines falschen Sachverhalts erlassen worden ist (BfA-VDR, SGB X, 7. Auflage, § 45 2.1). Der Bescheid vom 28. Mai 1997 war demgemäß rechtswidrig.

Die Rücknahme dieses rechtswidrigen Anerkennungsbescheides vom 28. Mai 1997 scheitert auch nicht an der Vorschrift des § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X, weil die Zwei-Jahresfrist eingehalten worden ist. Nach dieser Vorschrift kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Diese Frist ist durch den Bescheid vom 27. April 1999 eingehalten worden.

Auch die weitere Voraussetzung des § 45 Abs. 2 SGB X für die Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes ist erfüllt. Im Falle des Klägers liegt keiner der Gründe des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vor, der für einen Ausschluss seiner Schutzwürdigkeit aus subjektiven Gründen spricht, da kein "doloses Verhalten", falsche Angaben oder die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes beim Kläger vorgelegen haben. Jedoch sind die Voraussetzungen für eine objektive Schutzwürdigkeit im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X nicht gegeben. Dem Kläger sind weder Leistungen zugeflossen, die er verbraucht hat, noch hat er Vermögensdispositionen getroffen, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Soweit der Kläger darauf verweist, dass er seinen Beruf als Eisenflechter tatsächlich zum 6. November 1993 aufgegeben und auch eine entsprechende Verpflichtungserklärung unterzeichnet hat, ist ihm entgegenzuhalten, dass Ursache für den Verlust des Arbeitsplatzes die wegen des Karpaltunnelsyndroms beiderseits eingetretene Arbeitsunfähigkeit gewesen ist. Zum Zeitpunkt der Aufgabe der beruflichen Tätigkeit als Eisenflechter im Jahre 1993/1994 hatte die Beklagte noch keinen Vertrauenstatbestand geschaffen, bei dem der Kläger mit einer Anerkennung der Lendenwirbelsäulenbeschwerden als BK Nr. 2108 rechnen konnte. Auch war mit Erlass des Bescheides vom 28. Mai 1997 hinsichtlich etwaiger vermögensrechtlicher Dispositionen für den Kläger kein Vertrauenstatbestand geschaffen worden. Die Beklagte hat bei ihrer Ermessensentscheidung zutreffend berücksichtigt, dass sie dem Kläger mit der Übernahme der Kosten für den Lehrgang "geprüfter Polier Teil I" eine Chance auf dem Arbeitsmarkt eröffnet hat. Dass die Beklagte bei dieser Sachlage das öffentliche Interesse an der Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes höher eingeschätzt hat, ist nicht zu beanstanden.

Die mit Bescheid vom 23. März 1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1999 erfolgte Ablehnung der Gewährung von Übergangsleistungen nach § 3 Abs. 2 BKV ist unter Berücksichtigung des Ergebnisses des Gutachtens von Dr. W-R ebenfalls rechtmäßig, da keine konkret individuelle Gefahr der Entstehung, des Wiederauflebens oder der Verschlimmerung einer Berufskrankheit bestanden hat. Eine konkret individuelle Gefahr ist gegeben, wenn bei einem Verbleiben des Versicherten in der gefährdenden Tätigkeit oder in fortbestehenden Einwirkungen unter den vorliegenden Verhältnissen in absehbarer Zeit mit Wahrscheinlichkeit eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule entstehen wird, deren rechtlich wesentliche Ursache oder Mitursache in der beruflichen Tätigkeit zu suchen ist. Das ist nach Angaben der medizinischen Sachverständigen Dipl.-Med. H.W. P und Dr. med. W-R nicht gegeben und folgt aus den vorgehend zur BK Nr. 2108 diskutierten Befunden. Der Senat hatte deshalb keine Bedenken, sich dieser Schlussfolgerung anzuschließen.

Soweit der Kläger in seinem Schreiben vom 13. August 2002 zu seiner eigenen Entscheidungsfindung Fragen an den Sachverständigen aufführt, waren diese für die hier maßgebliche Frage der Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide irrelevant, so dass eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen zur weiteren Sachverhaltsaufklärung nicht erforderlich war.

Die Berufungen waren zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf dem § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für die Zulassung der Berufung nach § 163 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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