L 3 AL 87/99

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 1 AL 160/97
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AL 87/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung werden das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 21. April 1999 und die Bescheide der Beklagten vom 06.06.1996 und vom 17.02.1997 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Verfahrenszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides der Beklagten hinsichtlich des im Zeitraum vom 01.10.1991 bis 01.05.1996 überzahlten Altersübergangsgeldes (Alüg) in Höhe von 5.185,90 DM.

Die am ... in Polen geborene, seit 1969 verheiratete Klägerin besuchte von 1942 bis 1944 die Schule, befand sich von 1945 bis 1949 in Internierungslagern und reiste 1957 in die ehemalige DDR ein. Sie war von 1957 an als Arbeiterin in einer Wollkämmerei beschäftigt. Von November 1976 bis 30.06.1991 arbeitete sie als Wäscherin. Sie erzielte im Bemessungszeitraum ein durchschnittliches Bruttoarbeitsentgelt i. H. von 1.575,00 DM.

Die Klägerin befand sich bis September 1991 in der Lohnsteuerklasse III. Zum 01.10.1991 wechselte sie in die Lohnsteuerklasse V. Ihr Ehegatte erzielte zu diesem Zeitpunkt ein Bruttoarbeitsentgelt von 1.547,09 DM.

Am 06.06.1991 meldete sich die Klägerin mit Wirkung zum 01.07.1991 bei der Beklagten arbeitslos und beantragte Alüg. Sie gab an, zu Beginn des Jahres 1991 sei auf ihrer Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse III eingetragen gewesen. Ferner bestätigte sie, das Merkblatt für Arbeitslose "Ihre Rechte - Ihre Pflichten" sowie das Merkblatt "Altersübergangsgeld" erhalten und von ihrem Inhalt Kenntnis genommen zu haben.

Mit Bescheid vom 19.09.1991, geändert durch die Bescheide vom 02.01.1992, 02.07.1992, 29.12.1992, 14.01.1993, 01.07.1993, 14.01.1994, 17.01.1994, 20.05.1994 und 13.01.1995 bewilligte ihr die Beklagte ab 01.07.1991 Alüg nach der Leistungsgruppe C, dem allgemeinen Leistungssatz und einem Bemessungsentgelt zum Zeitpunkt der erstmaligen Bewilligung von 360,00 DM in Höhe von 188,40 DM wöchentlich.

Am 01.08.1995 stellte die Beklagte fest, der Ehegatte der Klägerin habe 1993 Arbeitslosengeld (Alg) beantragt und angegeben, auf seiner Lohnsteuerkarte sei die Lohnsteuerklasse III eingetragen.

Mit Schreiben vom 08.08.1995 forderte die Beklagte die Klägerin zur Übersendung von Kopien ihrer Lohnsteuerkarten auf. Des Weiteren bat sie um Mitteilung, wann der Lohnsteuerklassenwechsel vollzogen worden sei.

Am 13.09.1995 teilte die Klägerin der Beklagten mit, ihr Ehegatte habe vom 01.08.1991 bis 01.07.1993 an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teilgenommen. Während dieser sei der Lohnsteuerklassenwechsel erfolgt.

Im Fragebogen zum Steuerklassenwechsel vom 13.02.1996 gab die Klägerin an, sie sei am "12.02.1996" von der Lohnsteuerklasse III in die Lohnsteuerklasse V gewechselt. Sie fügte die Lohnsteuerkarten 1994 bis 1996 bei, auf denen jeweils die Steuerklasse V eingetragen war.

Am 13.03.1996 teilte der Ehegatte der Klägerin der Beklagten mit, er befinde sich seit Juli 1993 in der Lohnsteuerklasse III.

Zum 01.03.1996 vollzog die Klägerin einen weiteren Wechsel in die Lohnsteuerklasse III.

Auf Aufforderung der Beklagten übersandte die Klägerin die Verdienstabrechnungen ihres Ehegatten, aus denen hervorging, dass er sich im September 1991 in der Steuerklasse V und ab Oktober 1991 in der Steuerklasse III befunden hatte.

Mit Schriftsatz vom 08.05.1996 teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie habe vom 01.10.1991 bis 01.05.1996 "Arbeitslosengeld" in Höhe von 5.154,90 DM zu Unrecht bezogen, weil sie die Lohnsteuerklasse habe ändern lassen, ohne die Beklagte hierüber in Kenntnis gesetzt zu haben. Sie gab der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme.

Am 14.05.1996 äußerte die Klägerin, sie sei nicht bereit, 5.154,90 DM zurückzuzahlen. Sie habe ihre Mitwirkungspflicht erfüllt, da sie die Steuerkarte stets bei der Beklagten eingereicht habe. Sie sei davon ausgegangen, dass sie den Steuerklassenwechsel hierdurch der Beklagten bekannt gegeben habe.

Mit Bescheid vom 06.06.1996 hob die Beklagte die Bewilligung von Alüg für die Zeit vom 01.10.1991 bis 24.02.1994 und vom 25.02.1994 bis 01.05.1996 teilweise auf und forderte den überzahlten Betrag in Höhe von 5.185,90 DM zurück. Die Klägerin habe der Beklagten den Steuerklassenwechsel nicht angezeigt und dadurch die Überzahlung von Alüg verschuldet. Die Entscheidung stützte sie auf § 113 AFG, § 48 SGB X i. V. m. § 152 Abs. 3 AFG.

Gegen diesen Bescheid richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 21.06.1996. Sie habe der Beklagten die Steuerkarte mit der eingetragenen Steuerklasse nach dem Wechsel und auch in den folgenden Jahren vorgelegt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.02.1997 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Durch den Lohnsteuerklassenwechsel zum 01.10.1991 sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gemäß § 48 SGB X eingetreten. Im Antrag auf Alüg habe die Klägerin mit ihrer Unterschrift bestätigt, das Merkblatt für Arbeitslose erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Außerdem habe sie mit ihrer Unterschrift erklärt, ihr sei bekannt, dass sie dem Arbeitsamt sofort Veränderungen anzuzeigen habe, die gegenüber den im Antrag angegebenen Verhältnissen eingetreten seien. Dieser Mitteilungspflicht sei die Klägerin zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen. Mit der Vorlage der Lohnsteuerkarte zum Zwecke der Hinterlegung habe sie lediglich ihrer Pflicht aus § 150b Satz 2 AFG entsprochen. Allerdings dürfe die Beklagte die auf der zur Hinterlegung übergebenen Lohnsteuerkarte enthaltenen Daten weder verarbeiten noch nutzen.

Am 27.02.1997 hat die Klägerin zu Protokoll des Sozialgerichts (SG) Leipzig Klage erhoben. Die überzahlten Leistungen habe sie zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes verbraucht.

Mit Urteil vom 21.04.1999 hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen. Die Klägerin sei ihrer sich aus § 60 SGB I ergebenden Mitwirkungspflicht grob fahrlässig nicht nachgekommen, indem sie der Beklagten den Lohnsteuerklassenwechsel zum 01.10.1991 nicht mitgeteilt habe. Die Klägerin sei im Merkblatt für Arbeitslose sowie auch im Merkblatt für Alüg-Bezieher darauf hingewiesen worden, dass sie der Beklagten unverzüglich jede Änderung in den für den Leistungsbezug maßgeblichen Verhältnissen mitzuteilen habe. So fern die Klägerin vortrage, sie habe ihre Steuerkarte stets hinterlegt, sei dies zwar möglich, weil § 150b AFG mit Wirkung zum 27.06.1993 in Kraft getreten sei. Die Beklagte dürfe jedoch die auf der Lohnsteuerkarte enthaltenen Daten nicht nutzen. Die Pflicht zur Hinterlegung solle keine Erleichterung gegenüber den gesetzlich normierten Mitteilungspflichten nach § 60 SGB I darstellen.

Gegen das an die Klägerin am 11.06.1999 abgesandte Urteil hat diese am 01.07.1999 zur Niederschrift des SG Leipzig Berufung eingelegt. Sie habe nicht gewusst, dass das von ihr bezogene Vorruhestandsgeld von einer Lohnsteuerklasse abhängig gewesen sei. Des Weiteren berufe sie sich auf Verjährung.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 21.04.1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 06.06.1996 und den Widerspruchsbescheid vom 17.02.1997 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, der zum 01.10.1991 vollzogene Lohnsteuerklassenwechsel sei nicht zweckmäßig gewesen. Vielmehr wäre die Lohnsteuerklassenkombination IV/IV zweckmäßig gewesen. Daher habe die Klägerin ab 01.10.1991 Anspruch auf Alüg unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe A, die der Lohnsteuerklasse IV entspreche. Ihr seien jedoch Leistungen nach der Lohnsteuerklasse III bewilligt worden. Ausweislich der Beratungsunterlagen habe die Klägerin ihre Lohnsteuerkarte erstmals für 1995 nach Aufforderung beim Arbeitsamt hinterlegt. Die Klägerin habe unterschriftlich bestätigt, das Merkblatt für Arbeitslose sowie das Merkblatt Alüg erhalten und von deren Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Aus den Merkblättern sei deutlich erkennbar gewesen, dass eine Änderung der Lohnsteuerklasse unverzüglich dem Arbeitsamt mitzuteilen sei. Dieser Verpflichtung sei die Klägerin grob fahrlässig nicht nachgekommen.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes hat der Senat auf den Inhalt der Verfahrensakten beider Instanzen sowie der Leistungsakte der Beklagten, die er zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) sowie form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§ 151 SGG) ist zulässig und in der Sache begründet. Das mit der Berufung angegriffene Urteil des SG Leipzig ist daher aufzuheben. Der Bescheid der Beklagten vom 06.06.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.02.1997 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Beklagte hat die Bewilligung von Alüg im Bescheid vom 19.09.1991 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 02.01.1992, 02.07.1992, 29.12.1992, 14.01.1993, 01.07.1993, 14.01.1994, 17.01.1994, 20.05.1994 und 13.01.1995 zu Unrecht für den streitgegenständlichen Zeitraum aufgehoben und ebenfalls zu Unrecht die insoweit erbrachten Leistungen zurückgefordert.

Rechtsgrundlage für die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Alüg und die Geltendmachung der Erstattungsforderung sind §§ 48 Abs. 1 Sätze 1 und 2, 50 Abs. 1 SGB X in Verbindung mit § 152 Abs. 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) in der Fassung des Artikel 11 des Arbeitsförderungsreformgesetzes vom 24.03.1997, BGBl. I S. 594. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Bei dem Bewilligungsbescheid vom 19.09.1991 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 02.01.1992, 02.07.1992, 29.12.1992, 14.01.1993, 01.07.1993, 14.01.1994, 17.01.1994, 20.05.1994 und 13.01.1995 handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, weil er ab 01.07.1991 für die Dauer von 832 Tagen Alüg gewährte, mithin ein Rechtsverhältnis begründete, das den dauernden Bezug von Sozialleistungen zum Gegenstand hatte (Wiesner, in: Schroeder-Printzen/Engelmann/Schmalz/Wiesner/von Wulffen, SGB X, 3. Auflage, Rdnr. 3 zu § 48).

Es ist auch eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Vergleich zur Rechtslage bei Erlass des Bewilligungsbescheides eingetreten.

Zum Zeitpunkt der Bewilligung der Leistung am 19.09.1991 befand sich die Klägerin in der Lohnsteuerklasse III. Ihr stand Alüg gemäß § 249e Abs. 3, 111 Abs. 2 AFG nach der Leistungsgruppe C zu.

Ab 01.10.1991 stand ihr Alüg auf Grund des zu diesem Zeitpunkt vollzogenen Lohnsteuerklassenwechsels lediglich noch nach der der Lohnsteuerklasse IV entsprechenden Leistungsgruppe A zu. Gemäß § 249e Abs. 3 AFG i. V. mit § 113 Abs. 2 Satz 1 und 2 AFG werden die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen nach einem Wechsel der Steuerklassen durch die Ehegatten von dem Tag an berücksichtigt, an dem die Änderung wirksam wird. Entsprechen die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen an diesem Tag offensichtlich nicht dem Verhältnis der monatlichen Arbeitslöhne beider Ehegatten, so sind die diesem Verhältnis entsprechenden Lohnsteuerklassen für die Höhe des Alüg maßgebend. Die Klägerin hat ihre Lohnsteuerklasse mit Wirkung ab 01.10.1991 von III in V ändern lassen. Ihr Ehegatte ist von der Lohnsteuerklasse V in die Lohnsteuerklasse III gewechselt. Die neuen Lohnsteuerklassenkombinationen entsprachen jedoch nicht dem Verhältnis des letzten Bruttoarbeitsentgeltes der Klägerin vor dem Leistungsbezug und des Bruttoarbeitsentgelts ihres Ehemannes (letztes Bruttoarbeitsentgelt vor dem Leistungsbezug der Klägerin 1.575,00 DM /Bruttoarbeitsentgelt des Ehemannes 1.547,09 DM). Die Lohnsteuerklassenkombination IV/IV war zweckmäßig. Die Klägerin hatte deshalb ab 01.10.1991 durchgängig Anspruch auf Altersübergangsgeld unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe A, die der Lohnsteuerklasse IV entspricht.

Die Voraussetzungen für eine Änderung des Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit sind jedoch nach Auffassung des Senats nicht erfüllt. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X i. V. m. § 152 Abs. 3 AFG ist der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Nr. 2) oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt im besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Nr. 4).

Entgegen den Ausführungen des SG ist der Tatbestand des § 48 Abs. 1 Nr. 2 SGB X nicht erfüllt. Zwar sind die Bezieher von Sozialleistungen gemäß § 60 Abs. 1 Nr. 2 SGB I verpflichtet, dem Sozialleistungsträger alle Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich mitzuteilen. Über diese Pflicht war die Klägerin durch das Merkblatt für Empfänger von Altersübergangsgeld, dessen Erhalt und Kenntnisnahme sie bei Antragstellung bestätigt hat, auch unterrichtet (Ziffer 10 des Merkblattes).

Gleichwohl handelte die Klägerin weder vorsätzlich noch grob fahrlässig, indem sie den zum 01.01.1991 vollzogenen Lohnsteuerklassenwechsel der Beklagten nicht mitteilte. Bei der Frage, ob grobe Fahrlässigkeit gegeben ist, ist ein subjektiver Sorgfaltsbegriff zu Grunde zu legen, d.h. der Betroffene muss unter Berücksichtigung seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit seine Sorgfaltspflichten in einem das gewöhnliche Maß übersteigendem Ausmaß verletzt haben (BSGE 5,267, 269; BSG SozR 4100 § 152 Nr. 3). Ob grobe Fahrlässigkeit zu bejahen ist, muss unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Persönlichkeit des Betroffenen entschieden werden (BSGE 5, 267). Der Betroffene muss die in der Personengruppe herrschenden Sorgfaltspflichten in ungewöhnlich hohem Maße verletzt haben, er muss außer Acht gelassen haben, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen (BGHZ 10, 16).

Unter Berücksichtigung der Hinweise in den Merkblättern, der Schulbildung und des Lebenslaufes der Klägerin sowie des persönlichen Eindrucks von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, ist der Senat zu der Auffassung gelangt, dass der Klägerin eine grob fahrlässige Verletzung ihrer Mitteilungspflichten nicht vorgeworfen werden kann.

Zu berücksichtigen ist zunächst, dass aus dem Merkblatt für Empfänger von Altersübergangsgeld der Zusammenhang zwischen Lohnsteuerklasse und Leistungsgruppe nicht eindeutig ersichtlich ist. Insbesondere ist darin das Schema über die Zuordnung von Leistungsgruppen zu Lohnsteuerklassen nicht abgedruckt. Lediglich aus einem unter Ziffer 7 des Merkblattes befindlichen Satz war zu ersehen, dass die Lohnsteuerklasse Auswirkungen auf die Höhe der bewilligten Leistung haben konnte. Der Satz lautete: "Von dem danach ermittelten Bruttoarbeitsentgelt wird durch Abzug von Steuern (nach Maßgabe der jeweiligen Lohnsteuerklasse) und Sozialversicherungsbeiträgen ein pauschalisiertes Nettoarbeitsentgelt errechnet."

Der Wortlaut des genannten Merkblattes lässt zudem nicht hinreichend klar erkennen, dass das ebenfalls an die Klägerin bei Antragstellung ausgehändigte Merkblatt für Arbeitslose "Ihre Rechte - Ihre Pflichten" auch für die Bezieher von Altersübergangsgeld galt. So enthielt es keinen ausdrücklichen Hinweis, dass und in welcher Weise der Inhalt des Merkblatts für Arbeitslose auch für Bezieher von Alüg bedeutsam sein sollte. In dem Merkblatt heißt es lediglich unter dem Punkt 10. "Sonstige Regelungen" (Seite 3): "Das Altersübergangsgeld wird - wie das Arbeitslosengeld - frühestens von dem Tage an gewährt, an dem sich der Arbeitslose persönlich beim örtlich zuständigen Arbeitsamt gemeldet hat. Auch die sonstigen für Bezieher von Arbeitslosengeld maßgebenden Regelungen gelten entsprechend."

Bei entsprechender Einsichtsfähigkeit ergibt sich daraus der Zusammenhang zwischen der Höhe des Alüg und den für die Höhe des Alg maßgebenden Regelungen.

Hier steht aber zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin diesen Zusammenhang nicht erkannt hat und auch nicht nach einfachsten und naheliegenden Überlegungen erkennen konnte.

Die Klägerin war unter Berücksichtigung ihrer lediglich zweijährigen Schulbildung sowie ihres beruflichen Werdeganges - sie war seit 1957 als einfache Arbeiterin und seit 1976 als Wäscherin tätig - aus diesen wenigen Hinweisen nicht in der Lage zu erkennen, dass die Lohnsteuerklasse Auswirkungen auf die Höhe des Alüg hatte. Bei den von der Klägerin verrichteten Tätigkeiten handelte es sich durchweg um körperliche Arbeiten mit sehr geringen geistigen Anforderungen. Die Klägerin übte zu keiner Zeit eine Tätigkeit aus, bei der sie schriftliche Arbeiten zu verrichten hatte. Auch der Eindruck, den sich der Senat in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin machen konnte und die Befragung der Klägerin bestätigten dies. Festzustellen war, dass die Klägerin die Hinweise im Merkblatt - auch nach langsamen, wiederholtem Vorlesen - nicht verstand. Überdies war es der Klägerin nicht möglich, die Bedeutung der Lohnsteuerklassen hinsichtlich der Höhe eines Arbeitsentgeltes oder einer Lohnersatzleistung zu erklären. Sie verwechselte die Begriffe "Lohnsteuerklasse" und "Lohngruppe" permanent. Es wurde deutlich, dass der Klägerin nicht bewusst war, dass die Lohnsteuerklasse V zu höheren Abzügen und damit zu einer geringeren Lohnersatzleistung führte.

Da die Klägerin aufgrund ihrer individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit nicht in der Lage war, die wenigen Hinweise im Merkblatt über den Zusammenhang zwischen Lohnsteuerklasse und Leistungsgruppe zu verstehen und ihr der Zusammenhang zwischen Lohnsteuerklasse und Höhe der Leistung auch aus anderen Quellen nicht bekannt war, kann ihr keine grob fahrlässige Verletzung ihrer Mitteilungspflicht vorgeworfen werden.

Zwar enthielt das Merkblatt Alüg den Hinweis, dass alle für den Leistungsanspruch erheblichen Tatsachen mitzuteilen seien, der Klägerin mangelte es jedoch an der Fähigkeit zu erkennen, dass es sich beim Steuerklassenwechsel um eine derartige Änderung handelte. Auch während des weiteren Bezugs der zu hohen Leistung erlangte sie die Fähigkeit nicht.

Der Tatbestand des § 48 Abs. 1 Nr. 4 SGB X ist aus den genannten Gründen ebenso wenig verwirklicht. Indem die Klägerin die Rechtswidrigkeit der Bewilligung nicht erkannte, handelte sie nicht grob fahrlässig. Auf Grund ihres beruflichen Werdeganges sowie ihrer Gesamtpersönlichkeit war sie nicht in der Lage, die Fehlerhaftigkeit der Bescheide zu erkennen.

Nach alldem waren das Urteil des Sozialgerichts und die Bescheide der Beklagten vom 06.06.1996 und vom 17.02.1997 aufzuheben.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG; Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved