Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 7 KN 161/97 U
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 KN 21/99 U
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 29.03.1999 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben sich auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung eines Wirbelsäulenleidens als Berufskrankheit.
Der am ...1937 geborene Kläger war während seines Berufslebens für die Dauer von 11 Jahren und einem Monat wirbelsäulenbelastend tätig und zwar in seiner Eigenschaft als Gleisbauarbeiter (9/53 bis 3/54 bei der Bau-Union K ..., 6/54 bis 12/55 sowie 1/69 bis 9/71 bei der L ... Braunkohle), als Holzarbeiter für einen Monat im Jahre 1954 bei dem staatlichen Volkswirtschaftsbetrieb in H ... sowie auch während seiner Tätigkeit als Kipper bei der L ... Braunkohle von Januar 1956 bis Dezember 1961. Ob die Tätigkeit als Oberkipper im Braunkohlenbergbau von 1962 bis 1968 und ab dem 01.10.1971 nicht mehr mit wirbelsäulenbelastender Tätigkeit im Sinne einer BK 70 BKVO DDR bzw. BK 2108 BeKV verbunden war, ist streitig. Der Einstellungsbefund für seine Tätigkeit als Oberkipper lautete am 17.12.1971: "organisch gesund". "Wirbelsäule ohne Befund" ist auch in den Reihenuntersuchungen 1975, 1981 und 1983 angegeben. Erstmalig wird mit einer Reihenuntersuchung vom 18.06.1985 die Diagnose einer Skoliose und Spondylose gestellt. Wegen der Diagnose "723" (sonstige Krankheiten der Cervikalregionen ohne Bandscheibenkrankheiten und Spondylose) war der Kläger ausweislich einer Eintragung im Sozialversicherungsbuch am 21.12.1981 - ohne Arbeitsunfähigkeit - in Behandlung. Wegen der Diagnose "724" (sonstige und nicht näher bezeichnete Krankheiten des Rückens außer Bandscheibenkrankheiten, Osteoporose und Spondylose) erfolgten Krankschreibungen im September 1982, August 1985, Januar/Februar 1986 und Februar 1987. Eine deutliche Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule und Brustwirbelsäule wurde im Bezirkskrankenhaus H ... im Oktober 1985 diagnostiziert.
Einen Antrag auf Arbeitsplatzwechsel hatte der Kläger am 26.09.1976 gestellt, allerdings nicht wegen Rückenbeschwerden, vielmehr wurde ein Arbeitsplatz ohne nervliche Belastungen gewünscht. Ein Facharzt bescheinigte, dass der Kläger für Gleisarbeiten und als Kipper nicht mehr tauglich sei, da für diese Arbeiten erhöhte Anforderungen an die Sinnesorgane gestellt würden. Bei einer Wiederholungsuntersuchung am 27.09.1973 war von einem Alkoholproblem die Rede, welches nach einer Entziehungskur als erledigt angesehen wurde; der Kläger war ab 1978 dann wieder für seine Tätigkeit als Kipper/Oberkipper tauglich.
Auf die ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit vom 20.05.1994 - der Kläger hatte bereits am 22.12.1993 selbst einen Antrag gestellt - holte die Beklagte eine Stellungnahme des technischen Aufsichtsdienstes ein, welcher eine maßgebliche Wirbelsäulenbelastung für die Tätigkeit eines Kippers verneinte und somit nur eine Exposition von fünf Jahren und einem Monat errechnete.
Mit Bescheid vom 15.01.1996 lehnte daraufhin die Beklagte die Entschädigung des Wirbelsäulenleidens als Berufskrankheit ab: Von einer langjährigen mechanischen Überbelastung könne erst bei einer Tätigkeit von mindestens zehn Jahren Dauer ausgegangen werden. Auf den Widerspruch des Klägers ermittelte die Beklagte noch einmal hinsichtlich der arbeitstechnischen Voraussetzungen und kam zu dem Ergebnis, dass auch für die Tätigkeit als Kipper - anders als beim Oberkipper - die Exposition zu bejahen sei. Der Widerspruch wurde allerdings gleichwohl mit Bescheid vom 06.02.1997 als unbegründet zurückgewiesen und zwar mit der Begründung, dass erhebliche Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule zum Zeitpunkt der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit im Jahre 1971 nicht eruierbar seien. Bei den Untersuchungen vom 31.03.1981 und 20.05.1983 sei kein pathologischer Befund an der Wirbelsäule angegeben worden.
Am 11.02.1997 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Cottbus erhoben, welches den Rechtsstreit mit Beschluss vom 18.03.1997 an das Sozialgericht Chemnitz verwiesen hat. Während des Gerichtsverfahrens wurden Stellungnahmen von der L ... und M ... Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH eingeholt. Hieraus geht hervor, dass der Kläger als Oberkipper dieselben Tätigkeiten wie als Kipper ausgeführt habe und insbesondere über vier Stunden täglich wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten durchgeführt worden seien. Innerhalb dieser Zeit seien auch für mindestens eine Stunde Gewichte von über 25 kg getragen worden. Die Einstufung als Oberkipper sei lediglich aus tariflichen Gründen erfolgt. Auf Antrag des Klägers hat das Sozialgericht Dr. W ... gutachtlich gehört (§ 109 SGG). Dr. W ... diagnostizierte in seinem Gutachten vom 09.10.1998 erhebliche degenerative Veränderungen in der Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule. Diese Erkrankungen seien der beruflichen Wirbelsäulenbelastung geschuldet. Die Tätigkeit als Oberkipper sei aber sicherlich als eine gewisse Einschränkung der schweren körperlichen Arbeit zu betrachten.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 29.03.1999 abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Chemnitz vom 29.03.1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15.01.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.02.1997 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, gegenüber dem Kläger eine Berufskrankenheit Nr. 70 BKVO DDR wegen seiner Wirbelsäule anzuerkennen und eine Rente nach einer MdE von mindestens 30 v. 100 zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Chemnitz vom 29.03.1999 zurückzuweisen.
Dem Senat liegen neben den Gerichtsakten beider Instanzen die Verwaltungsakten der Beklagten vor.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Gegen die Beklagte kann der Kläger schon deswegen keinen Anspruch geltend machen, weil sie nicht die zuständige Berufsgenossenschaft ist. Gemäß EV, Anlage I Kapitel VIII, Sachgeb. I, Abschnitt III, Abs. 8 Nr. 2 werden die Arbeitsunfälle, die sich im Beitrittsgebiet bis zum 31.12.1990 ereignet haben, nach dem Geburtstag auf die Berufsgenossenschaften verteilt. Auch wenn man insoweit den Vortrag des Klägers zu Grunde legt, wonach der Eintritt eines Versicherungsfalls Ende 1989 geltend gemacht wird, wäre also die sogenannte "Geburtstags-BG" zuständig. Eine andere Verteilung ergibt sich auch nicht aus EV Anlage I Kapitel VIII, Sachgeb. I, Abschnitt III Nr. 1 Abs. 8 Ziff. 2 ff., da die Anzeige vor dem 01.01.1995 erfolgte. Nach dem Verteilungsschlüssel (die BG 92, 326) ist für den am 19.01. geborenen Kläger die beigeladene Berufsgenossenschaft der Keramischen- und Glasindustrie zuständig.
Der Kläger hat allerdings auch gegen die Beigeladene keinen Anspruch auf Entschädigung.
Zu Recht hat das SG im vorliegenden Fall - durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (BGBl. II 889, 1239) in Bundesrecht transformiertes - Recht der DDR angewandt (§ 1150 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 RVO; Anlage II Kapitel VIII Sachgeb. F Abschnitt III Nr. 6 EV i. V. m. § 23 der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialpflichtversicherung [Rentenverordnung] vom 23. November 1979 [GBl. DDR I, 401], zuletzt geändert durch das Rentenüberleitungsgesetz vom 25. Juli 1991 [BGBl. I, 1606] sowie Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr. 4 und 5 EV i. V. m. § 221 des Arbeitsgesetzbuchs der DDR vom 16. Juni 1977 [GBl. DDR I, 185], zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Mai 1994 [GBl. I, 1014], sowie der DDR-Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26. Februar 1981 [GBl. DDR I, 137] mit der 1. Durchführungsbestimmung zu dieser Verordnung - Liste der Berufskrankheiten - vom 21.04.1981 [GBl. DDR I 139]). Nach § 1150 Abs. 2 RVO, der gem. §§ 212, 215 Abs. 1 SGB VII weiterhin Anwendung findet, sind Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des 3. Buches der RVO zu entschädigen, wenn sie nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren. Die Ausnahmeregelung von § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO findet hier aufgrund des Antrags des Klägers vom 12.07.1993 (eingegangen am 16.07.1993, also vor dem 31. Dezember 1993) keine Anwendung.
Nach § 221 AGB DDR stellte eine Berufskrankheit eine Erkrankung dar, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der Ausübung beruflicher Tätigkeiten bzw. Arbeitsaufgaben hervorgerufen wurde und die in der Liste der Berufskrankheiten, die mit der 1. Durchführungsbestimmung zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) am 21.04.1981 bekannt gegeben worden ist, genannt war. Darin waren unter Nr. 70 als Berufskrankheiten aufgeführt: "Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule (Bandscheiben, Wirbelkörperabschlussplatten, Wirbelfortsätze, Bänder, kleine Wirbelgelenke) durch langjährige mechanische Überbelastung". Unter Nr. 71 waren aufgeführt: "Verschleißkrankheiten von Gliedmaßen, Gelenken einschl. der Zwischengelenkscheiben durch langjährige mechanische Überbelastungen". Für beide Berufskrankheiten wurde als weitere Anerkennungsvoraussetzung gefordert: "Erhebliche Funktionseinschränkung des Bewegungsapparates mit Aufgabe der schädigenden Tätigkeit", wobei in der Begutachtungspraxis der DDR als "erheblich" Funktionseinschränkungen bewertet wurden, die auf einem chronischen Beschwerdebild mit einem rentenberechtigenden Grad des Körperschadens (GdK) von mindestens 20 v. H. beruhten (Konetzke/Rebohle/Heuchert, Berufskrankheiten, gesetzliche Grundlagen zur Meldung, Begutachtung und Entschädigung, 3. Auflage 1988 S. 111; Empfehlungen zur Einhaltung und Durchführung der Begutachtung bei Verdacht auf berufsbedingte Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule (BK Nr. 70), Konetzke, arbeitsmedizininformation 14 (1987 Nr. 7 S. 40 bis 20) in: Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin, Sonderschrift 4, S. 285. Voraussetzung für die Anerkennung der BK 70 bzw. BK 71 waren demnach: 1. Der Nachweis einer arbeitsbedingten Überbelastung des geschädigten Wirbelsäulenabschnitts bzw. des geschädigten Gliedmaßengelenks (arbeitstechnische Voraussetzung), 2. das Vorliegen eines Krankheitskomplexes mit erheblicher Funktionseinschränkung im exponierten Wirbelsäulenabschnitt bzw. am exponierten Gliedmaßengelenk im Umfang eines Körperschadens von mindestens 20 % (medizinische Voraussetzung), 3. der ursächliche Zusammenhang zwischen der Überbelastung und der Verschleißkrankheit, 4. die krankheitsbedingte Aufgabe der schädigenden Tätigkeit (zusätzliche Anerkennungsvoraussetzung).
Das Kriterium der Kausalität ist am schwierigsten zu handhaben. Ob die Volkskrankheit Wirbelsäulensyndrom tatsächlich im Einzelfall auf eine stattgehabte Überlastung durch körperliche Arbeit zurückgeht, wird sich nur sehr schwer nachweisen lassen. Vor diesem Hintergrund mag es nahe gelegen haben, einen Anspruch auf Leistungen aufgrund einer Wirbelsäulenerkrankung generell abzulehnen (so LSG Niedersachsen, Urteil vom 05.02.1998 - L 6 U 178/97 - und SG Landshut, Urteil vom 17.10.1997 - S 8 U 224/95). Jedenfalls ist in rechtlicher Hinsicht die jahrzehntealte Diskussion, ob "degenerative" Wirbelsäulenerkrankungen Berufskrankheiten sind, durch die zweite Erweiterung der Berufskrankheiten-VO auch für das Altbundesgebiet beendet (vgl. Begutachtung der neuen Berufskrankheiten der Wirbelsäule, Deutscher Orthopädenkongress 17.10.1996, Wiesbaden, Gustav-Fischer-Verlag, 1997). Es wäre daher nicht systemgerecht, diese Diskussion über das Kausalitätskriterium doch wieder in ihrer vollen Breite in jedem Einzelfall aufleben zu lassen. Die "juristische" Entscheidung für eine "medizinisch-naturwissenschaftliche" Kausalität kann nur bedeuten, dass es sich hierbei um eine normative Kausalität handelt. Eine solche normative Kausalität ist auch im Nachhinein für das hier anwendbare Recht der DDR systemgerecht. Bereits durch die Definition einer Berufskrankheit ist der Kausalitätsnachweis für den Einzelfall auf eine andere Ebene verschoben worden. Der Verordnungsgeber, der eine Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten aufnimmt, bejaht dadurch die generelle Geeignetheit einer bestimmten Belastung, zu dem typischen Schadensbild zu führen. Auch im Recht der DDR galt, dass ausnahmsweise ("Einzelentscheid") auch solche Krankheitsbilder als Berufskrankheit anerkannt werden können, die nicht in der Berufskrankheitenliste genannt sind. Wie aber hierfür die Beweisführung grundsätzlich erschwert war (vgl. hierzu auch Mehrtens/Perlebach, die Berufskrankheiten-Verordnung, M 2108 S. 23), so war sie auf der anderen Seite für die bereits "verordneten" Berufskrankheiten erleichtert, auch ohne dass es solcher ausdrücklicher Regelung wie in § 9 Abs. 3 SGB VII bedurft hätte. Das DDR-Recht kannte in diesem Zusammenhang die Rechtsfigur der gesetzlichen Vermutung nicht; gleichwohl bedeutet das Kausalitätskriterium auch hier, dass nur solche Fälle ausgeschlossen werden sollen, bei denen andere Ursachen gewissermaßen mit den Händen zu greifen sind. Mit dieser recht weiten Kausalität korrespondiert nun auf der anderen Seite das restriktive Kriterium der krankheitsbedingten Aufgabe der schädigenden Tätigkeit sowie das Erfordernis der erheblichen Funktionseinschränkung. Die zusätzlichen begrenzenden Kriterien sind schon deswegen von besonderer Wichtigkeit, weil eine Kausalität mit der beruflichen Tätigkeit - gleich welcher Art - kaum jemals in Abrede gestellt werden kann. Bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS haben eine "multifaktorielle Ätiologie" (Merkblatt des BMA I), sie können durch Fehlbelastungen im privaten Bereich, durch typische Zivilisationsfolgen wie Bewegungs- und Belastungsarmut ebenso hervorgerufen werden, wie durch starke Belastungen. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem ein Versicherter gut 18 Jahre lang beruflichen Einwirkungen ausgesetzt war, die für seine Wirbelsäule physiologisch ungünstig waren, d. h. diese übermäßig belasteten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Belastungen überhaupt keinen, also auch keinen geringen Beitrag zu später auftretenden Degenerationserscheinungen geleistet haben. Eine Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinne ist somit gegeben (vgl. hierzu auch Urteil des 2. Senats vom 30.03.2000 L 2 U 86/98 S. 23 des Entscheidungsumdrucks). Ob die berufliche Einwirkung auch im Rechtssinne "wesentliche" Ursache ist, lässt sich naturwissenschaftlich nicht klären. Die Abgrenzung zu sog. "anlagebedingten" Leiden muss schon deshalb immer spekulativ bleiben, weil allgemeine Erkenntnisse über ein belastungsspezifisches Schadensbild nicht vorliegen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.1999 - L 2 KN 72/96 U - Breith 2000, 140) und auf der anderen Seite "endogene degenerative Prozesse" die berufsbedingten Verursachungsanteile auch deswegen kaum in den Hintergrund drängen können, weil der Versicherte in dem Gesundheitszustand geschützt ist, in dem er sich bei Aufnahme einer Tätigkeit befindet, auch wenn etwa dieser Zustand eine größere Gefährdung begründet. Eingebunden sind alle bestehenden Krankheiten, Anlagen, konstitutionelle oder degenerativ bedingte Schwächen und Krankheitsdispositionen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. Auflage, S. 81).
Die unter Ziffer 2 und 4 genannten Kriterien (medizinische Voraussetzung und zusätzliche Anerkennungsvoraussetzung) müssen gleichzeitig vorliegen. Dies ergibt sich aus der Natur der Sache.
Auch bei der Versicherung gegen Arbeitsunfall und Berufskrankheit steht die Schadensvermeidung im Vordergrund. Arbeit, die mit Sicherheit zu gesundheitlichen Schäden führt, darf es daher nicht geben, Arbeit, von der ein spezifisches gesundheitliches Risiko für die Beschäftigten ausgeht, muß arbeitsmedizinisch intensiv überwacht werden. Bei zeitabhängigen Risiken wie dem der Wirbelsäulenbelastung durch unphysiologische Schwerarbeit bedeutet dies, dass nach einer Exposition von ca. zehn Jahren in der Regel ein Arbeitsplatzwechsel stattzufinden hat, ggf. früher, je nach den zu beobachtenden Abnutzungserscheinungen, auf jeden Fall aber, bevor eine erhebliche Funktionseinschränkung eingetreten ist. Nur wenn zum Zeitpunkt des Arbeitsplatzwechsels bereits ein Grad des Körperschadens von 20 vorliegt, ist der - an sich ja zu vermeidende - Versicherungsfall (der mit dem Leistungsfall zusammenfällt) eingetreten. Ergibt sich der GdK von 20 erst später, so bewirkt das Prinzip der normativen Kausalität, dass die Prüfung, in wie fern dies noch Fernwirkungen der ehemaligen Schwerarbeit sind, zu unterbleiben hat. Ist der Versicherungsfall Berufskrankheit eingetreten, sind alle eventuellen späteren Verschlimmerungen mit einbezogen. Hat er sich vermeiden lassen, so kann er nicht später durch sukzessive Ergänzung der ursprünglich fehlenden Kriterien doch noch verwirklicht werden. Diese Grundsätze, die so nur für das übergeleitete Recht der DDR Geltung beanspruchen können, haben im Gesetz ihren begriflichen Niederschlag gefunden.
§ 1150 Abs. 2 RVO bestimmt die Anwendung des DDR-Rechts für Arbeitsunfälle und Berufkrankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind. Es müssen also alle Tatbestandsmerkmale jedenfalls wenigstens einmal gleichzeitig vorgelegen haben.
Der Kläger hat zu keinem Zeitpunkt eine schädigende Tätigkeit im Sinne der Nr. 70 BKVO DDR aufgegeben, in dem er bereits einen GdK von 20 % erreicht hatte.
Da nach der eigenen Darstellung des Klägers behandlungsbedürftige Wirbelsäulenbeschwerden erst Anfang der achtziger Jahre auftraten - entsprechende Behandlungen sind ab 1981 dokomentiert -, kann auch zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Oberkippertätigkeit im März 1978 von einer erheblichen Funktionsstörung im Sinne eines GdK von 20 nicht die Rede sein. Außerdem erfolgte zu diesem Zeitpunkt der Tätigkeitswechsel nicht in dem Sinne gesundheitsbedingt, dass die Schwerarbeit kontraindiziert gewesen wäre, sondern umgekehrt: Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Überwachungs- und Aufsichtstätigkeiten waren wieder gegeben.
Am 31.12.1989 war neben dem ausschlaggebenden Grund - Umstellung auf Bandbetrieb - auch der Gesundheitszustand des Klägers objektiver Grund für die Aufgabe der Tätigkeit (vgl. hierzu Entscheidung des BSG vom 29.04.1997 - 8 RKnU 1/96). Allerdings kann diese Tätigkeit nicht mehr als schädigende Tätigkeit im Sinne der BKVO DDR angesehen werden. Im Gegensatz zu der Formulierung der BK 2108 BeKV, wonach Anspruchsvoraussetzungen der Zwang zur Unterlassung aller Tätigkeiten ist, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, ist in der Anlage zur BKVO DDR (1. DB zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 21.04.1981) ausdrücklich die Aufgabe der schädigenden Tätigkeit als zusätzliche Anspruchsvoraussetzung genannt. Durch die Wahl des bestimmten Artikels ist klargestellt, dass damit nur eine Tätigkeit gemeint sein kann, nämlich diejenige, welche auch die Krankheit durch mechanische Überbelastungen verursacht hat. Tätigkeiten, die also für sich alleine die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllen und nur allgemein für die Wirbelsäule physiologisch ungünstig sind, kommen danach im Rahmen der BK 70 BKVO DDR - anders als nach bundesdeutschem Recht (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 22.08.2000 - B 2 U 32/99 R) - nicht in Betracht. Die Tätigkeit als Oberkipper kann möglicherweise für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben einer Wirbelsäulenerkrankung im Sinne des bundesdeutschen Berufskrankheitenrechts ursächlich sein, sie erfüllt aber nicht die Voraussetzungen der mechanischen Überbelastung: Dies ergibt sich aus den Feststellungen des TAD der Beklagten. Spätestens nach 1978 wurde Schwerarbeit nur noch gelegentlich, also in einem deutlich reduzierten zeitlichen Umfang ausgeübt. Diese Tätigkeit konnte für sich genommen nicht als schädigende Tätigkeit im Sinne der arbeitstechnischen Voraussetzungen nach der BK 70 BKVO DDR gelten. Die Voraussetzungen für die BK 70 BKVO DDR sind in diesem Punkte enger als die der BK 2108 BeKV; dies ist auch systemgerecht, denn das Krankheitsbild der BK 70 ist wesentlich weiter, eine segmentspezifische Belastung und eine Aufteilung wie etwa nach den Berufskrankheiten 2108/2109 wird nicht vorgenommen, stattdessen sind über die BK 71 noch alle Gliedmaßengelenke mit eingeschlossen.
Schließlich muss auch festgestellt werden, dass selbst für den 31.12.1989 nicht der Nachweis eines damals vorliegenden Grades des Körperschadens von 20 % erbracht ist. Hiergegen spricht schon, dass eine ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit erst zirka viereinhalb Jahre später erfolgte. Es ist davon auszugehen, dass die anlässlich der Überwachungsuntersuchung vom 18.06.1985 ausgesprochene Empfehlung, keine Tätigkeiten mit schwerer körperlicher Belastung mehr auszuüben, im Sinne einer Prophylaxe gemeint war. Tatsächlich führte diese Empfehlung zu keiner Änderung des Arbeitsprofils, der Kläger blieb nach wie vor bei seiner Tätigkeit als Oberkipper. Die bei dem damals 48jährigen festgestellte Bandscheibendegeneration und Spondylose ließ den Kläger, ebenso wie bei der Nachuntersuchung im Jahre 1988 noch als tauglich erscheinen; der Vermerk "bedingt tauglich" erfolgte erstmalig bei der Überwachungsuntersuchung vom 10.01.1992. Auch eine nur bedingte Tauglichkeit legt allerdings den Verdacht eines Körperschadens von 20 % noch nicht unbedingt nahe.
Dass ein solcher Ende des Jahres 1989 nicht vorgelegen hat, ergibt sich auch aus dem Gutachten des Dr. W ... vom 09.10.1998. Auch zu diesem Zeitpunkt waren noch keine eindeutigen neurologischen Ausfallerscheinungen vorhanden, radikuläre Attacken werden als "vereinzelt" bezeichnet.
Selbst bei gegebener langjähriger Exposition hat der Kläger nicht mit einem Körperschaden von 20 % die schädigende Tätigkeit aufgegeben. Das Sozialgericht hat daher zu Recht die Klage abgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
II. Die Beteiligten haben sich auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung eines Wirbelsäulenleidens als Berufskrankheit.
Der am ...1937 geborene Kläger war während seines Berufslebens für die Dauer von 11 Jahren und einem Monat wirbelsäulenbelastend tätig und zwar in seiner Eigenschaft als Gleisbauarbeiter (9/53 bis 3/54 bei der Bau-Union K ..., 6/54 bis 12/55 sowie 1/69 bis 9/71 bei der L ... Braunkohle), als Holzarbeiter für einen Monat im Jahre 1954 bei dem staatlichen Volkswirtschaftsbetrieb in H ... sowie auch während seiner Tätigkeit als Kipper bei der L ... Braunkohle von Januar 1956 bis Dezember 1961. Ob die Tätigkeit als Oberkipper im Braunkohlenbergbau von 1962 bis 1968 und ab dem 01.10.1971 nicht mehr mit wirbelsäulenbelastender Tätigkeit im Sinne einer BK 70 BKVO DDR bzw. BK 2108 BeKV verbunden war, ist streitig. Der Einstellungsbefund für seine Tätigkeit als Oberkipper lautete am 17.12.1971: "organisch gesund". "Wirbelsäule ohne Befund" ist auch in den Reihenuntersuchungen 1975, 1981 und 1983 angegeben. Erstmalig wird mit einer Reihenuntersuchung vom 18.06.1985 die Diagnose einer Skoliose und Spondylose gestellt. Wegen der Diagnose "723" (sonstige Krankheiten der Cervikalregionen ohne Bandscheibenkrankheiten und Spondylose) war der Kläger ausweislich einer Eintragung im Sozialversicherungsbuch am 21.12.1981 - ohne Arbeitsunfähigkeit - in Behandlung. Wegen der Diagnose "724" (sonstige und nicht näher bezeichnete Krankheiten des Rückens außer Bandscheibenkrankheiten, Osteoporose und Spondylose) erfolgten Krankschreibungen im September 1982, August 1985, Januar/Februar 1986 und Februar 1987. Eine deutliche Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule und Brustwirbelsäule wurde im Bezirkskrankenhaus H ... im Oktober 1985 diagnostiziert.
Einen Antrag auf Arbeitsplatzwechsel hatte der Kläger am 26.09.1976 gestellt, allerdings nicht wegen Rückenbeschwerden, vielmehr wurde ein Arbeitsplatz ohne nervliche Belastungen gewünscht. Ein Facharzt bescheinigte, dass der Kläger für Gleisarbeiten und als Kipper nicht mehr tauglich sei, da für diese Arbeiten erhöhte Anforderungen an die Sinnesorgane gestellt würden. Bei einer Wiederholungsuntersuchung am 27.09.1973 war von einem Alkoholproblem die Rede, welches nach einer Entziehungskur als erledigt angesehen wurde; der Kläger war ab 1978 dann wieder für seine Tätigkeit als Kipper/Oberkipper tauglich.
Auf die ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit vom 20.05.1994 - der Kläger hatte bereits am 22.12.1993 selbst einen Antrag gestellt - holte die Beklagte eine Stellungnahme des technischen Aufsichtsdienstes ein, welcher eine maßgebliche Wirbelsäulenbelastung für die Tätigkeit eines Kippers verneinte und somit nur eine Exposition von fünf Jahren und einem Monat errechnete.
Mit Bescheid vom 15.01.1996 lehnte daraufhin die Beklagte die Entschädigung des Wirbelsäulenleidens als Berufskrankheit ab: Von einer langjährigen mechanischen Überbelastung könne erst bei einer Tätigkeit von mindestens zehn Jahren Dauer ausgegangen werden. Auf den Widerspruch des Klägers ermittelte die Beklagte noch einmal hinsichtlich der arbeitstechnischen Voraussetzungen und kam zu dem Ergebnis, dass auch für die Tätigkeit als Kipper - anders als beim Oberkipper - die Exposition zu bejahen sei. Der Widerspruch wurde allerdings gleichwohl mit Bescheid vom 06.02.1997 als unbegründet zurückgewiesen und zwar mit der Begründung, dass erhebliche Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule zum Zeitpunkt der Aufgabe der schädigenden Tätigkeit im Jahre 1971 nicht eruierbar seien. Bei den Untersuchungen vom 31.03.1981 und 20.05.1983 sei kein pathologischer Befund an der Wirbelsäule angegeben worden.
Am 11.02.1997 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Cottbus erhoben, welches den Rechtsstreit mit Beschluss vom 18.03.1997 an das Sozialgericht Chemnitz verwiesen hat. Während des Gerichtsverfahrens wurden Stellungnahmen von der L ... und M ... Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH eingeholt. Hieraus geht hervor, dass der Kläger als Oberkipper dieselben Tätigkeiten wie als Kipper ausgeführt habe und insbesondere über vier Stunden täglich wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten durchgeführt worden seien. Innerhalb dieser Zeit seien auch für mindestens eine Stunde Gewichte von über 25 kg getragen worden. Die Einstufung als Oberkipper sei lediglich aus tariflichen Gründen erfolgt. Auf Antrag des Klägers hat das Sozialgericht Dr. W ... gutachtlich gehört (§ 109 SGG). Dr. W ... diagnostizierte in seinem Gutachten vom 09.10.1998 erhebliche degenerative Veränderungen in der Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule. Diese Erkrankungen seien der beruflichen Wirbelsäulenbelastung geschuldet. Die Tätigkeit als Oberkipper sei aber sicherlich als eine gewisse Einschränkung der schweren körperlichen Arbeit zu betrachten.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 29.03.1999 abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Chemnitz vom 29.03.1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15.01.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.02.1997 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, gegenüber dem Kläger eine Berufskrankenheit Nr. 70 BKVO DDR wegen seiner Wirbelsäule anzuerkennen und eine Rente nach einer MdE von mindestens 30 v. 100 zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Chemnitz vom 29.03.1999 zurückzuweisen.
Dem Senat liegen neben den Gerichtsakten beider Instanzen die Verwaltungsakten der Beklagten vor.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Gegen die Beklagte kann der Kläger schon deswegen keinen Anspruch geltend machen, weil sie nicht die zuständige Berufsgenossenschaft ist. Gemäß EV, Anlage I Kapitel VIII, Sachgeb. I, Abschnitt III, Abs. 8 Nr. 2 werden die Arbeitsunfälle, die sich im Beitrittsgebiet bis zum 31.12.1990 ereignet haben, nach dem Geburtstag auf die Berufsgenossenschaften verteilt. Auch wenn man insoweit den Vortrag des Klägers zu Grunde legt, wonach der Eintritt eines Versicherungsfalls Ende 1989 geltend gemacht wird, wäre also die sogenannte "Geburtstags-BG" zuständig. Eine andere Verteilung ergibt sich auch nicht aus EV Anlage I Kapitel VIII, Sachgeb. I, Abschnitt III Nr. 1 Abs. 8 Ziff. 2 ff., da die Anzeige vor dem 01.01.1995 erfolgte. Nach dem Verteilungsschlüssel (die BG 92, 326) ist für den am 19.01. geborenen Kläger die beigeladene Berufsgenossenschaft der Keramischen- und Glasindustrie zuständig.
Der Kläger hat allerdings auch gegen die Beigeladene keinen Anspruch auf Entschädigung.
Zu Recht hat das SG im vorliegenden Fall - durch den Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (BGBl. II 889, 1239) in Bundesrecht transformiertes - Recht der DDR angewandt (§ 1150 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 RVO; Anlage II Kapitel VIII Sachgeb. F Abschnitt III Nr. 6 EV i. V. m. § 23 der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialpflichtversicherung [Rentenverordnung] vom 23. November 1979 [GBl. DDR I, 401], zuletzt geändert durch das Rentenüberleitungsgesetz vom 25. Juli 1991 [BGBl. I, 1606] sowie Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr. 4 und 5 EV i. V. m. § 221 des Arbeitsgesetzbuchs der DDR vom 16. Juni 1977 [GBl. DDR I, 185], zuletzt geändert durch Gesetz vom 26. Mai 1994 [GBl. I, 1014], sowie der DDR-Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 26. Februar 1981 [GBl. DDR I, 137] mit der 1. Durchführungsbestimmung zu dieser Verordnung - Liste der Berufskrankheiten - vom 21.04.1981 [GBl. DDR I 139]). Nach § 1150 Abs. 2 RVO, der gem. §§ 212, 215 Abs. 1 SGB VII weiterhin Anwendung findet, sind Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des 3. Buches der RVO zu entschädigen, wenn sie nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren. Die Ausnahmeregelung von § 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO findet hier aufgrund des Antrags des Klägers vom 12.07.1993 (eingegangen am 16.07.1993, also vor dem 31. Dezember 1993) keine Anwendung.
Nach § 221 AGB DDR stellte eine Berufskrankheit eine Erkrankung dar, die durch arbeitsbedingte Einflüsse bei der Ausübung beruflicher Tätigkeiten bzw. Arbeitsaufgaben hervorgerufen wurde und die in der Liste der Berufskrankheiten, die mit der 1. Durchführungsbestimmung zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) am 21.04.1981 bekannt gegeben worden ist, genannt war. Darin waren unter Nr. 70 als Berufskrankheiten aufgeführt: "Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule (Bandscheiben, Wirbelkörperabschlussplatten, Wirbelfortsätze, Bänder, kleine Wirbelgelenke) durch langjährige mechanische Überbelastung". Unter Nr. 71 waren aufgeführt: "Verschleißkrankheiten von Gliedmaßen, Gelenken einschl. der Zwischengelenkscheiben durch langjährige mechanische Überbelastungen". Für beide Berufskrankheiten wurde als weitere Anerkennungsvoraussetzung gefordert: "Erhebliche Funktionseinschränkung des Bewegungsapparates mit Aufgabe der schädigenden Tätigkeit", wobei in der Begutachtungspraxis der DDR als "erheblich" Funktionseinschränkungen bewertet wurden, die auf einem chronischen Beschwerdebild mit einem rentenberechtigenden Grad des Körperschadens (GdK) von mindestens 20 v. H. beruhten (Konetzke/Rebohle/Heuchert, Berufskrankheiten, gesetzliche Grundlagen zur Meldung, Begutachtung und Entschädigung, 3. Auflage 1988 S. 111; Empfehlungen zur Einhaltung und Durchführung der Begutachtung bei Verdacht auf berufsbedingte Verschleißkrankheiten der Wirbelsäule (BK Nr. 70), Konetzke, arbeitsmedizininformation 14 (1987 Nr. 7 S. 40 bis 20) in: Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin, Sonderschrift 4, S. 285. Voraussetzung für die Anerkennung der BK 70 bzw. BK 71 waren demnach: 1. Der Nachweis einer arbeitsbedingten Überbelastung des geschädigten Wirbelsäulenabschnitts bzw. des geschädigten Gliedmaßengelenks (arbeitstechnische Voraussetzung), 2. das Vorliegen eines Krankheitskomplexes mit erheblicher Funktionseinschränkung im exponierten Wirbelsäulenabschnitt bzw. am exponierten Gliedmaßengelenk im Umfang eines Körperschadens von mindestens 20 % (medizinische Voraussetzung), 3. der ursächliche Zusammenhang zwischen der Überbelastung und der Verschleißkrankheit, 4. die krankheitsbedingte Aufgabe der schädigenden Tätigkeit (zusätzliche Anerkennungsvoraussetzung).
Das Kriterium der Kausalität ist am schwierigsten zu handhaben. Ob die Volkskrankheit Wirbelsäulensyndrom tatsächlich im Einzelfall auf eine stattgehabte Überlastung durch körperliche Arbeit zurückgeht, wird sich nur sehr schwer nachweisen lassen. Vor diesem Hintergrund mag es nahe gelegen haben, einen Anspruch auf Leistungen aufgrund einer Wirbelsäulenerkrankung generell abzulehnen (so LSG Niedersachsen, Urteil vom 05.02.1998 - L 6 U 178/97 - und SG Landshut, Urteil vom 17.10.1997 - S 8 U 224/95). Jedenfalls ist in rechtlicher Hinsicht die jahrzehntealte Diskussion, ob "degenerative" Wirbelsäulenerkrankungen Berufskrankheiten sind, durch die zweite Erweiterung der Berufskrankheiten-VO auch für das Altbundesgebiet beendet (vgl. Begutachtung der neuen Berufskrankheiten der Wirbelsäule, Deutscher Orthopädenkongress 17.10.1996, Wiesbaden, Gustav-Fischer-Verlag, 1997). Es wäre daher nicht systemgerecht, diese Diskussion über das Kausalitätskriterium doch wieder in ihrer vollen Breite in jedem Einzelfall aufleben zu lassen. Die "juristische" Entscheidung für eine "medizinisch-naturwissenschaftliche" Kausalität kann nur bedeuten, dass es sich hierbei um eine normative Kausalität handelt. Eine solche normative Kausalität ist auch im Nachhinein für das hier anwendbare Recht der DDR systemgerecht. Bereits durch die Definition einer Berufskrankheit ist der Kausalitätsnachweis für den Einzelfall auf eine andere Ebene verschoben worden. Der Verordnungsgeber, der eine Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten aufnimmt, bejaht dadurch die generelle Geeignetheit einer bestimmten Belastung, zu dem typischen Schadensbild zu führen. Auch im Recht der DDR galt, dass ausnahmsweise ("Einzelentscheid") auch solche Krankheitsbilder als Berufskrankheit anerkannt werden können, die nicht in der Berufskrankheitenliste genannt sind. Wie aber hierfür die Beweisführung grundsätzlich erschwert war (vgl. hierzu auch Mehrtens/Perlebach, die Berufskrankheiten-Verordnung, M 2108 S. 23), so war sie auf der anderen Seite für die bereits "verordneten" Berufskrankheiten erleichtert, auch ohne dass es solcher ausdrücklicher Regelung wie in § 9 Abs. 3 SGB VII bedurft hätte. Das DDR-Recht kannte in diesem Zusammenhang die Rechtsfigur der gesetzlichen Vermutung nicht; gleichwohl bedeutet das Kausalitätskriterium auch hier, dass nur solche Fälle ausgeschlossen werden sollen, bei denen andere Ursachen gewissermaßen mit den Händen zu greifen sind. Mit dieser recht weiten Kausalität korrespondiert nun auf der anderen Seite das restriktive Kriterium der krankheitsbedingten Aufgabe der schädigenden Tätigkeit sowie das Erfordernis der erheblichen Funktionseinschränkung. Die zusätzlichen begrenzenden Kriterien sind schon deswegen von besonderer Wichtigkeit, weil eine Kausalität mit der beruflichen Tätigkeit - gleich welcher Art - kaum jemals in Abrede gestellt werden kann. Bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS haben eine "multifaktorielle Ätiologie" (Merkblatt des BMA I), sie können durch Fehlbelastungen im privaten Bereich, durch typische Zivilisationsfolgen wie Bewegungs- und Belastungsarmut ebenso hervorgerufen werden, wie durch starke Belastungen. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem ein Versicherter gut 18 Jahre lang beruflichen Einwirkungen ausgesetzt war, die für seine Wirbelsäule physiologisch ungünstig waren, d. h. diese übermäßig belasteten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Belastungen überhaupt keinen, also auch keinen geringen Beitrag zu später auftretenden Degenerationserscheinungen geleistet haben. Eine Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinne ist somit gegeben (vgl. hierzu auch Urteil des 2. Senats vom 30.03.2000 L 2 U 86/98 S. 23 des Entscheidungsumdrucks). Ob die berufliche Einwirkung auch im Rechtssinne "wesentliche" Ursache ist, lässt sich naturwissenschaftlich nicht klären. Die Abgrenzung zu sog. "anlagebedingten" Leiden muss schon deshalb immer spekulativ bleiben, weil allgemeine Erkenntnisse über ein belastungsspezifisches Schadensbild nicht vorliegen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.1999 - L 2 KN 72/96 U - Breith 2000, 140) und auf der anderen Seite "endogene degenerative Prozesse" die berufsbedingten Verursachungsanteile auch deswegen kaum in den Hintergrund drängen können, weil der Versicherte in dem Gesundheitszustand geschützt ist, in dem er sich bei Aufnahme einer Tätigkeit befindet, auch wenn etwa dieser Zustand eine größere Gefährdung begründet. Eingebunden sind alle bestehenden Krankheiten, Anlagen, konstitutionelle oder degenerativ bedingte Schwächen und Krankheitsdispositionen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 5. Auflage, S. 81).
Die unter Ziffer 2 und 4 genannten Kriterien (medizinische Voraussetzung und zusätzliche Anerkennungsvoraussetzung) müssen gleichzeitig vorliegen. Dies ergibt sich aus der Natur der Sache.
Auch bei der Versicherung gegen Arbeitsunfall und Berufskrankheit steht die Schadensvermeidung im Vordergrund. Arbeit, die mit Sicherheit zu gesundheitlichen Schäden führt, darf es daher nicht geben, Arbeit, von der ein spezifisches gesundheitliches Risiko für die Beschäftigten ausgeht, muß arbeitsmedizinisch intensiv überwacht werden. Bei zeitabhängigen Risiken wie dem der Wirbelsäulenbelastung durch unphysiologische Schwerarbeit bedeutet dies, dass nach einer Exposition von ca. zehn Jahren in der Regel ein Arbeitsplatzwechsel stattzufinden hat, ggf. früher, je nach den zu beobachtenden Abnutzungserscheinungen, auf jeden Fall aber, bevor eine erhebliche Funktionseinschränkung eingetreten ist. Nur wenn zum Zeitpunkt des Arbeitsplatzwechsels bereits ein Grad des Körperschadens von 20 vorliegt, ist der - an sich ja zu vermeidende - Versicherungsfall (der mit dem Leistungsfall zusammenfällt) eingetreten. Ergibt sich der GdK von 20 erst später, so bewirkt das Prinzip der normativen Kausalität, dass die Prüfung, in wie fern dies noch Fernwirkungen der ehemaligen Schwerarbeit sind, zu unterbleiben hat. Ist der Versicherungsfall Berufskrankheit eingetreten, sind alle eventuellen späteren Verschlimmerungen mit einbezogen. Hat er sich vermeiden lassen, so kann er nicht später durch sukzessive Ergänzung der ursprünglich fehlenden Kriterien doch noch verwirklicht werden. Diese Grundsätze, die so nur für das übergeleitete Recht der DDR Geltung beanspruchen können, haben im Gesetz ihren begriflichen Niederschlag gefunden.
§ 1150 Abs. 2 RVO bestimmt die Anwendung des DDR-Rechts für Arbeitsunfälle und Berufkrankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind. Es müssen also alle Tatbestandsmerkmale jedenfalls wenigstens einmal gleichzeitig vorgelegen haben.
Der Kläger hat zu keinem Zeitpunkt eine schädigende Tätigkeit im Sinne der Nr. 70 BKVO DDR aufgegeben, in dem er bereits einen GdK von 20 % erreicht hatte.
Da nach der eigenen Darstellung des Klägers behandlungsbedürftige Wirbelsäulenbeschwerden erst Anfang der achtziger Jahre auftraten - entsprechende Behandlungen sind ab 1981 dokomentiert -, kann auch zum Zeitpunkt der Wiederaufnahme der Oberkippertätigkeit im März 1978 von einer erheblichen Funktionsstörung im Sinne eines GdK von 20 nicht die Rede sein. Außerdem erfolgte zu diesem Zeitpunkt der Tätigkeitswechsel nicht in dem Sinne gesundheitsbedingt, dass die Schwerarbeit kontraindiziert gewesen wäre, sondern umgekehrt: Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Überwachungs- und Aufsichtstätigkeiten waren wieder gegeben.
Am 31.12.1989 war neben dem ausschlaggebenden Grund - Umstellung auf Bandbetrieb - auch der Gesundheitszustand des Klägers objektiver Grund für die Aufgabe der Tätigkeit (vgl. hierzu Entscheidung des BSG vom 29.04.1997 - 8 RKnU 1/96). Allerdings kann diese Tätigkeit nicht mehr als schädigende Tätigkeit im Sinne der BKVO DDR angesehen werden. Im Gegensatz zu der Formulierung der BK 2108 BeKV, wonach Anspruchsvoraussetzungen der Zwang zur Unterlassung aller Tätigkeiten ist, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, ist in der Anlage zur BKVO DDR (1. DB zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 21.04.1981) ausdrücklich die Aufgabe der schädigenden Tätigkeit als zusätzliche Anspruchsvoraussetzung genannt. Durch die Wahl des bestimmten Artikels ist klargestellt, dass damit nur eine Tätigkeit gemeint sein kann, nämlich diejenige, welche auch die Krankheit durch mechanische Überbelastungen verursacht hat. Tätigkeiten, die also für sich alleine die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllen und nur allgemein für die Wirbelsäule physiologisch ungünstig sind, kommen danach im Rahmen der BK 70 BKVO DDR - anders als nach bundesdeutschem Recht (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 22.08.2000 - B 2 U 32/99 R) - nicht in Betracht. Die Tätigkeit als Oberkipper kann möglicherweise für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben einer Wirbelsäulenerkrankung im Sinne des bundesdeutschen Berufskrankheitenrechts ursächlich sein, sie erfüllt aber nicht die Voraussetzungen der mechanischen Überbelastung: Dies ergibt sich aus den Feststellungen des TAD der Beklagten. Spätestens nach 1978 wurde Schwerarbeit nur noch gelegentlich, also in einem deutlich reduzierten zeitlichen Umfang ausgeübt. Diese Tätigkeit konnte für sich genommen nicht als schädigende Tätigkeit im Sinne der arbeitstechnischen Voraussetzungen nach der BK 70 BKVO DDR gelten. Die Voraussetzungen für die BK 70 BKVO DDR sind in diesem Punkte enger als die der BK 2108 BeKV; dies ist auch systemgerecht, denn das Krankheitsbild der BK 70 ist wesentlich weiter, eine segmentspezifische Belastung und eine Aufteilung wie etwa nach den Berufskrankheiten 2108/2109 wird nicht vorgenommen, stattdessen sind über die BK 71 noch alle Gliedmaßengelenke mit eingeschlossen.
Schließlich muss auch festgestellt werden, dass selbst für den 31.12.1989 nicht der Nachweis eines damals vorliegenden Grades des Körperschadens von 20 % erbracht ist. Hiergegen spricht schon, dass eine ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit erst zirka viereinhalb Jahre später erfolgte. Es ist davon auszugehen, dass die anlässlich der Überwachungsuntersuchung vom 18.06.1985 ausgesprochene Empfehlung, keine Tätigkeiten mit schwerer körperlicher Belastung mehr auszuüben, im Sinne einer Prophylaxe gemeint war. Tatsächlich führte diese Empfehlung zu keiner Änderung des Arbeitsprofils, der Kläger blieb nach wie vor bei seiner Tätigkeit als Oberkipper. Die bei dem damals 48jährigen festgestellte Bandscheibendegeneration und Spondylose ließ den Kläger, ebenso wie bei der Nachuntersuchung im Jahre 1988 noch als tauglich erscheinen; der Vermerk "bedingt tauglich" erfolgte erstmalig bei der Überwachungsuntersuchung vom 10.01.1992. Auch eine nur bedingte Tauglichkeit legt allerdings den Verdacht eines Körperschadens von 20 % noch nicht unbedingt nahe.
Dass ein solcher Ende des Jahres 1989 nicht vorgelegen hat, ergibt sich auch aus dem Gutachten des Dr. W ... vom 09.10.1998. Auch zu diesem Zeitpunkt waren noch keine eindeutigen neurologischen Ausfallerscheinungen vorhanden, radikuläre Attacken werden als "vereinzelt" bezeichnet.
Selbst bei gegebener langjähriger Exposition hat der Kläger nicht mit einem Körperschaden von 20 % die schädigende Tätigkeit aufgegeben. Das Sozialgericht hat daher zu Recht die Klage abgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
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