L 6 KN 24/01

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 7 KN 334/99
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 KN 24/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 16. März 2001 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe der Altersrente des Kläger, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, ob die Beklagte berechtigt war, die anlässlich der Vollendung des 60. Lebensjahres bewilligte Altersrente wegen "vorzeitiger Inanspruchnahme" in der Gemäßheit der Anlage 19 zum Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) i.V.m. § 77 Abs. 2 Nr. 2a SGB VI zu mindern.

Mit Bescheid vom 20.02.1999 bewilligte die Beklagte dem am ... geborenen Kläger Altersrente wegen Arbeitslosigkeit mit einem Rentenbeginn 01.03.1999. Die persönlichen Entgeltpunkte aus der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (Ost) in Höhe von 21,4367 verminderte sie aufgrund eines Zugangsfaktors von 0,922 auf 19,7646; die errechneten Entgeltpunkte aus der knappschaftlichen Rentenversicherung in Höhe von 24,1486 multiplizierte sie mit demselben Zugangsfaktor und kam so auf berücksichtigungsfähige Entgeltpunkte in der knappschaftlichen Rentenversicherung von 22,2650. Mit dem Widerspruch vom 29.03.1999 berief sich der Kläger auf Vertrauensschutz und machte geltend, sein ehemaliger Chef von der Firma A ... E ... GmbH habe ihm im Januar 1996 schriftlich mitgeteilt, dass er bald die Kündigung erhalte. Der Kläger war zuvor langjährig als Stahlbauschlosser bei der Mitteldeutschen Braunkohleverarbeitung B ... - Zweigniederlassung E ... - beschäftigt gewesen. Dieses Arbeitsverhältnis hatte aufgrund einer Aufhebungsvereinbarung vom 03.05.1991 am 30.04.1991 geendet. Anschließend war der Kläger bei der Firma A ... E ... GmbH als Stahlbauschlosser beschäftigt gewesen; dort erhielt er wegen Illiquidität des Arbeitgebers ab Dezember 1995 kein Gehalt mehr, er kündigte dann selbst am 28.02.1996 zum 29.02.1996 aus diesem Grund das Arbeitsverhältnis. Der Antrag auf Gesamtvollstreckung war bereits am 13.02.1996 gestellt worden, das Gesamtvollstreckungsverfahren wurde am 01.04.1996 eröffnet. Seit dem 01.03.1996 bezog der Kläger Arbeitslosengeld.

In dem Widerspruchsbescheid vom 03.08.1999 vertrat die Beklagte die Ansicht, das Schreiben der Firma A ... E ... aus dem Januar 1996 könne nicht als eine Vereinbarung im Sinne des § 237 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1b SGB VI angesehen werden. Das Arbeitsverhältnis habe zwar nach dem 13.02.1996 geendet, wie in dieser Vorschrift vorgesehen, dies jedoch nicht aufgrund einer vor dem 14.02.1996 erfolgten Kündigung oder Vereinbarung. Die bloße Kenntnisnahme einer beabsichtigten Maßnahme könne nicht mit einer zweiseitigen Vereinbarung verglichen werden.

Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Chemnitz mit Urteil vom 16.03.2001 als unbegründet abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf ungeminderte Altersrente schon ab dem 60. Lebensjahr, da er nicht unter die Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 4 SGB VI falle. Weder sei er aufgrund einer Kündigung oder Vereinbarung, die vor dem 14.02.1996 erfolgt sei, aus dem Arbeitsverhältnis bei der Firma A ... E ... ausgeschieden noch sei die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei der Mitteldeutschen Braunkohle im Jahre 1991 aufgrund einer Maßnahme nach Art. 56 § 2b des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl erfolgt.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er ist der Auffassung, seine am 28.02.1996 erklärte Kündigungserklärung müsse vier Wochen zurückgerechnet werden, da er eine Kündigungsfrist von vier Wochen gehabt habe.

Er beantragt,

das Urteil des SG Chemnitz vom 16.03.2001 aufzuheben und die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 22.02.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 03.08.1999 zu verurteilen, ihm Altersrente unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,000 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat liegen neben den Gerichtsakten beider Instanzen die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die beigezogenen Leistungsakten des Arbeitsamts Borna, Kundennummer ... und Kaug 134/96 vor.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der Kläger keinen Anspruch auf eine Altersrente hat, bei deren Berechnung ein ungeminderter Zugangsfaktor zugrunde gelegt wird.

Der Rentenbescheid der Beklagten entspricht den gesetzlichen Vorschriften. Nach § 63 Abs. 5 SGB VI werden bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Alterrente Vorteile einer längeren Rentenbezugsdauer durch einen Zugangsfaktor vermieden. Nach § 77 Abs. 1 SGB VI richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter des Versicherten bei Rentenbeginn und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente zu berücksichtigen sind. Bei Renten wegen Alters, die mit Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres oder eines für den Versicherten maßgebenden niedrigeren Rentenalters beginnen, werden Entgeltpunkte in vollem Umfang (Zugangsfaktor 1,0000) berücksichtigt. Nach Abs. 2 der Vorschrift ist der Zugangsfaktor bei Entgeltpunkten, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente wegen Alters waren, für jeden Kalendermonat, für den Versicherte eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch nehmen, um 0,003 niedriger. Eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit, wie sie der Kläger erhält, konnten nach § 38 Satz 1 SGB VI Versicherte in Anspruch nehmen, die - neben anderen Voraussetzungen - das 60. Lebensjahr vollendet hatten. Die Altersgrenze von 60 Jahren ist jedoch durch das Gesetz zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand vom 23.07.1996 (BGBl. I S. 1078) für Versicherte angehoben worden, die nach dem 31.12.1936 geboren sind. Die vorzeitige Inanspruchnahme einer solchen Altersrente (ab Vollendung des 60. Lebensjahres) ist möglich. Nach Anlage 19 zum SGB VI (Anhebung der Altersgrenze bei Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit) kann ein Versicherter, der im Februar 1939 geboren ist, zwar weiterhin die Rente mit 60 Jahren in Anspruch nehmen, die Altersgrenze wird jedoch auf 62 Jahre und zwei Monate angehoben. Dies bedeutet nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI, dass für jeden Kalendermonat, für den Versicherte eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch nehmen, der Zugangsfaktor von 1,0 (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) um 0,003 niedriger wird. Demzufolge vermindert sich also der Zugangsfaktor um (26 [Monate] x 0,003 =) 0,078 und folglich auf 0,9220. Dementsprechend hat die Beklagte auch die Altersrente berechnet.

Die Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1b SGB VI (in der bis zum 31.12.1999 geltenden Fassung; nunmehr: Abs. 4 Satz 1 Nr. 1b SGB VI), auf die sich der Kläger beruft, greift in seinem Falle nicht ein. Danach findet eine Anhebung der Altersgrenze von 60 Jahren bei der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit erst für Versicherte ab Jahrgang 1941 statt, wenn die Versicherten bis zum 14.02.1941 geboren sind und wenn deren Arbeitsverhältnis aufgrund einer Kündigung oder Vereinbarung, die vor dem 14.02.1996 erfolgt ist, nach dem 13.02.1996 beendet worden ist und sie daran anschließend arbeitslos geworden sind. Der Kläger ist zwar vor dem 14.02.1941 geboren, d.h. er war an dem Stichtag 14.02.1996 bereits über 55 Jahre alt. Auch ist sein Arbeitsverhältnis mit der Firma A ... E ... nach dem 13.02.1996 beendet worden, anschließend ist er arbeitslos geworden. Der Beendigung des Arbeitsverhältnisses lag aber keine Kündigung oder Vereinbarung aus dem Zeitraum vor dem 14.02.1996 zugrunde. Das Schreiben vom 31.01.1996 der Firma A ... E ..., mit welchem eine Kündigung "angekündigt" wird ("Sie [müssen] im Mai oder Juni 1996 mit einer Kündigung rechnen" ...), ist gerade keine wirksame Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Zwar kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, dass die Kündigung arbeitsrechtlich zulässig gewesen ist (Zwing/Scherrer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, § 237 SGB VI Rn. 19), jedoch muss nach gängigen Auslegungsregeln kein Zweifel bestehen, dass es sich um eine unbedingte Kündigungserklärung handelt. Dies ist bei der Ankündigung, dass im Mai oder Juni 1996 mit einer Kündigung gerechnet werden müsse, nicht der Fall. Weder wird ein bestimmtes Enddatum angegeben, noch konnte mit dieser Erklärung einer der Beteiligten davon ausgehen, dass das Arbeitsverhältnis danach - zu welchem Zeitpunkt auch immer - ohne weitere Erklärung gewissermaßen von allein enden würde. Der Kläger hat dieses Schreiben unterschrieben, wobei in der Unterschrift wohl weniger eine Zustimmung als die Quittierung der Kenntnisnahme zu sehen ist. Jedenfalls kann dieses Schreiben dadurch auch nicht als Vereinbarung ausgelegt werden. Denn auch hier gilt, dass eine bestimmte Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht festgelegt, sondern eben nur in Aussicht gestellt war. Schließlich lässt sich die Erklärung auch nicht als Befristung auslegen, denn auch eine solche müsste einen bestimmten Termin für das Ende des Beschäftigungsverhältnisses enthalten. Ausnahmsweise reicht es aus, dass ein konkret bestimmbares Ereignis, z.B. der Abschluss einer genau bezeichneten Baumaßnahme, angegeben wird (vgl. a.a.O. Rn. 25). Auch ein Sozialplan kann unter Umständen als Vereinbarung im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden (vgl. Papst/Walter NZS 2001, 474), ein Sozialplan wurde aber nicht vor dem Stichtag verabschiedet.

Die Entstehungsgeschichte der Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs. 2 SGB VI führt nicht zu einem anderen Verständnis des in dieser Vorschrift verwendeten Begriffs der Vereinbarung. Hintergrund der Anhebung der Altersgrenzen durch den Gesetzgeber war nach dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 15.04.1996 (BT-Drucks. 13/4336 S. 1) die erhebliche Ausweitung der Frühverrentungspraxis in den letzten Jahren. Dazu heißt es dort: "Durch diese Art der betrieblichen Personalanpassung werden gesetzliche Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung mit Kosten belastet, die letztlich nur über höhere Beitragssätze zu finanzieren sind. Diese Frühverrentungspraxis schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland und gefährdet die künftige Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme. Angesichts des Umstandes, daß auch in den nächsten Jahren zahlenmäßig starke Jahrgänge das Alter erreichen, in dem Frühverrentungsmaßnahmen einsetzen, ist schnelles Handeln geboten." Die Lösung dieses Problems hat der Gesetzgeber in der stufenweisen Heraufsetzung der Altersgrenze für die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeit von 60 auf 63 Jahre in den Jahren 1997 bis 1999 unter Wahrung des Vertrauensschutzes für Versicherte der rentennahen Jahrgänge, die bereits arbeitslos sind oder entsprechende Dispositionen getroffen haben, gesehen (a.a.O. S. 2). Der Gesetzgeber hat mit diesen Maßnahmen die Erwartung verbunden, dass im Zeitraum bis zum Jahre 2003 die Rentenversicherung um ca. 17 Mrd. DM und die Bundesanstalt um rund 2,1 Mrd. DM entlastet werde (a.a.O. S. 3). Der gewählte Stichtag (14.02.1996) entspricht nach der Begründung zu Art. 2 Nr. 17 des Gesetzesentwurfs (§ 237 SGB VI) dem Datum, an dem das Bundeskabinett das diesem Gesetzesentwurf zugrunde liegende so genannte Eckpunktepapier beschlossen hat. Der Gesetzgeber war der Auffassung, dass spätestens von diesem Tage an ein zu schützendes Vertrauen auf den Bestand der bisherigen Regelung nicht mehr vorliegen könne (a.a.O. S. 24).

Wenn in der Gesetzesbegründung von Dispositionen des Versicherten die Rede ist, so kann der Begriff nicht so ausgelegt werden, dass bereits in der Erwartung, im Laufe des Jahres 1996 arbeitslos zu werden, solch eine Disposition zu sehen ist. Dem allgemeinen Vertrauensschutz, der darin besteht, nicht von einem Gesetz "überrascht" zu werden, wurde bereits durch die soziale Abfederung in Anlage 19 zum SGB VI Rechnung getragen. Es versteht sich, dass rentennahe Jahrgänge eines besonderen Vertrauensschutzes bedürfen. Ein gesteigerter Vertrauensschutz kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn noch einmal spezifische Tatbestandsmerkmale hinzukommen, wenn also, wie auch in der Gesetzesbegründung ausgeführt, konkrete Dispositionen einen Verweis auf die Vertrauensschutzregelung der Anlage 19 zum SGB VI als nicht ausreichend erscheinen lassen würden. Solche Dispositionen liegen beim Kläger nicht vor. Durch das Schreiben vom 31.01.1996 wurde ihm lediglich vor Augen geführt, dass sein Arbeitsplatz gefährdet ist. Der Tatbestand drohender Arbeitslosigkeit kann aber schon deswegen nicht für sich genommen einen gesteigerten Vertrauensschutz begründen, da ja die eingetretene Arbeitslosigkeit selbst gesetzliche Voraussetzung für die Rente mit 60 ist. Erst wenn sich der Betroffene praktisch selbst schon entschieden hat, mit 60 in die Arbeitslosigkeit bzw. in Rente zu gehen, und dies nicht mehr rückgängig machen kann, ist der Grund für einen gesteigerten Vertrauensschutz da. Entsprechendes gilt, wenn zum Stichtag bereits die Kündigung ausgesprochen wurde und der Betroffene auch deswegen entsprechende Dispositionen für die Zeit nach dem 60. Lebensjahr treffen musste. Insofern unterscheidet sich der Fall des Klägers nicht von dem eines Arbeitnehmers, dem kurz nach dem Stichtag die Kündigung - aus welchen Gründen auch immer - ausgesprochen wird. Die zeitliche Nähe zum Stichtag alleine legt es nicht nahe, eine doppelte Abfederung zu fordern.

Der Kläger hat auch nicht wegen Ausscheidens aus einem Betrieb der Montanindustrie ohne Rücksicht auf Stichtagsregelungen Anspruch auf ungeminderte Altersrente mit 60. Nach § 237 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI a.F. haben Versicherte, die aufgrund einer Maßnahme nach Art. 56 § 2 Buchst. b des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS-V) - BGBl. II 1960 1573 - aus einem Betrieb der Montanindustrie ausgeschieden sind, Anspruch auf ungeminderte Altersrente wegen Arbeitslosigkeit mit 60, sofern sie vor 1941 geboren sind und sofern diese Maßnahme vor dem Stichtag (14.02.1996) genehmigt worden ist. Der Zeitpunkt des Ausscheidens selbst ist dann unerheblich. Erforderlich ist auch nicht, dass der Versicherte im Anschluss an das Beschäftigungsende arbeitslos geworden ist. Eine Maßnahme nach Art. 56 § 2 Buchst. b EGKS-V lag dem Aufhebungsvertrag vom 03.05.1991 nicht zugrunde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG), Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved