L 6 KN 42/98 U

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 7 KN 282/97 U
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 KN 42/98 U
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 03.08.1998 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander auch im Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit.

Von der Verwaltung der Sozialversicherung wurde beim Kläger eine Berufskrankheit nach Nr. 54 Berufskrankheiten-Verordnung (BK-VO) DDR (Pressluftschaden) anerkannt, allerdings ohne einen Körperschaden in rentenberechtigendem Grade. Der Antrag des Klägers auf Feststellung einer Rente wurde von der zuständigen Norddeutschen Metall-BG mit Bescheid vom 06.02.1997 abgelehnt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage weiterhin unter zwanzig Prozent. Der dagegen erhobene Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 09.09.1997).

Parallel dazu betrieb der Kläger die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit bei der Beklagten. Bereits mit Bescheid vom 03.08.1966 hatte die Industriegewerkschaft Wismut die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit abgelehnt. Der audiometrisch nachgewiesene Hörverlust erreiche noch nicht das Stadium der Lärmschwerhörigkeit. Grundlage waren auch Audiogramme vom Juni 1966, welche bereits eine typische Lärmschwerhörigkeit (Hochtonsenke bei 5000 Hz) auswiesen, allerdings in geringem Umfang. Da der Kläger bei der SDAG Wismut bereits seit 1949 lärmexponiert tätig war, erfolgten regelmäßige Nachuntersuchungen in den Jahren 1967, 1971, 1972, 1975, 1976, 1979, 1982 und 1987. Dem Kläger wurde auferlegt, in der Zeit, in der er sich in einem lärmreichen Arbeitsmilieu befinde, unbedingt Gehörschutz zu tragen (Schreiben der Arbeitssanitätsinspektion Wismut vom 12.07.1966). Bei diesen Nachuntersuchungen ergaben sich keine wesentlichen Änderungen.

Da in dem Verfahren bei der Norddeutschen Metall-BG der Kläger wiederholt eine Lärmschwerhörigkeit geltend gemacht hatte, leitete die Beklagte ein Verfahren zur Überprüfung der Lärmschwerhörigkeit ein. Nach den Ermittlungen des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) der Beklagten war der Kläger während seines Berufslebens zirka 23 Jahre und sieben Monate einem Beurteilungspegel von 85 dB (A) ausgesetzt und davon zirka fünfeinhalb Jahre sogar einem Beurteilungspegel von 90 dB (A) und darüber. Die Beklagte gab daraufhin bei Dr. Bernd H ..., Leiter der Audiologischen Abteilung der HNO Klinik C ..., ein Gutachten zu der Frage in Auftrag, ob eine Berufskrankheit vorliege. Dr. H ... diagnostizierte eine cochleobasale Schallempfindungsstörung beiderseits. Im Hochtongebiet sei eine C-5-Senke noch zu erkennen. Die Hörstörung sei als Innenohrhaarzellschaden aufzufassen. Allerdings sei auch eine zusätzliche Presbyakusis (Altersschwerhörigkeit) festzustellen. Aktuell, also zum Zeitpunkt der Untersuchung am 08.08.1996 betrage die MdE 20 %. Beruflich veranlasst seien aber nur 15 %, diese hätten auch ab März 1990, also zum Ende der beruflichen Lärmexposition vorgelegen.

Mit Bescheid vom 14.10.1996 lehnte daraufhin die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 33 BK-VO DDR i. d. F. vom 15.10.1968 ab. Voraussetzung für die Anerkennung einer BK 33 BK-VO DDR sei, dass es sich um eine Lärmschwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung handele. Eine soziale Bedeutung liege vor, wenn die Hörschädigung zu Verständigungsschwierigkeiten mit anderen Personen führe. Dies sei in der Regel ab einem Körperschaden von 20 % der Fall. Ein so hoher Körperschaden habe jedoch am Ende der Lärmexposition beim Kläger nicht bestanden. Nach 1977 sei er in seiner Tätigkeit als Schweißer und Schlosser in Bärwalde nicht mehr unmittelbar gehörschädigendem Lärm exponiert gewesen, da der Beurteilungspegel in dieser Zeit nur 84 dB (A) betragen habe.

Auf den Widerspruch des Klägers wurde noch einmal eine umfangreiche Stellungnahme von Prof. Dr. B ..., dem Chefarzt der HNO-Klinik des Krankenhauses H ... K ... angefordert. Prof. B ... kam zu dem Ergebnis, dass die MdE zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Berufsleben, also am 28.02.1990, lediglich 10 % betragen habe. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch des Klägers mit ausführlichem Widerspruchsbescheid vom 06.05.1997 als unbegründet ab. Sie wies darauf hin, dass Lärm unter 85 dB (A) nicht als gehörschädigend gelte. Daher sei das Ende der Exposition mit dem Jahr 1977 anzunehmen. Die am 30.04.1977 geltende BK-VO der DDR schreibe vor, dass eine beruflich bedingte Lärmschwerhörigkeit nur dann als Berufskrankheit anerkannt werden könne, wenn diese von sozialer Bedeutung sei. Dies sei erst ab einem Körperschaden von 20 % der Fall. Im Übrigen habe die lärmbedingte Schwerhörigkeit auch bei Ausscheiden aus dem Berufsleben am 28.02.1990 noch nicht eine MdE von 20 % bedingt.

Auf die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Chemnitz (SG) einen Befundbericht von Dr. K ... aus dem Jahre 1987 angefordert, hieraus ergab sich ein Hörverlust für das rechte und das linke Ohr von jeweils 0 %. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 03.08.1998 abgewiesen: Bei einer MdE unter 20 % sei nach dem Recht der DDR eine Berufskrankheit nicht anzuerkennen. Soweit eine Berufskrankheit nicht anerkannt sei, könne auch ein Stützrententatbestand nicht festgestellt werden, da hierfür die Feststellung von zwei anerkannten Berufskrankheiten Voraussetzung sei.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und macht geltend, dass in DDR-Zeiten viele Wismutkumpel bei ihren aufgetretenen berufsbedingten Schäden bewusst unter 20 % gehalten worden seien, damit keine Entschädigungen habe gezahlt werden müssen. Viele seiner Berufskollegen hätten die schweren gesundheitsschädlichen Arbeiten bei dem Uranabbau nicht überlebt.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 03.08.1998 sowie den Bescheid der Beklagten vom 14.10.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.05.1997 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, eine Berufskrankheit nach Nr. 33 der BK-VO DDR i. d. F. vom 15.10.1968 anzuerkennen, hilfsweise Stützrente nach § 56 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 SGB VII zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Dem Senat liegen neben den Gerichtsakten beider Instanzen die Verwaltungsakten der Beklagten vor.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Eine Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE von unter 20 %, die beim Kläger in der Tat vorliegt, kann nicht als Stützrententatbestand anerkannt werden, da das Recht der DDR anzuwenden ist.

Zu Recht hat das SG als materiellrechtliche Grundlage für seine Prüfung des Anspruchs des Klägers § 221 des Arbeitsgesetzbuches der DDR (AGB DDR) i. V. m. der Verordnung vom 14.11.1957 (GBl 1958 Nr. 1 Seite 1) sowie der hierzu ergangenen Liste der Berufskrankheiten herangezogen. Nach der gem. §§ 212, 215 Abs. 1 SGB VII fortgeltenden Vorschrift des § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01.01.1992 "eingetreten" sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des 3. Buches der RVO. Entscheidend für den Eintritt einer Berufskrankheit ist der Zeitpunkt des Versicherungfalles (vgl. KassKomm Ricke § 1150 RVO Rn. 2) darunter ist der Zeitpunkt zu verstehen, zu dem sich die Gefährdungen realisiert haben, vor dem die gesetzliche Unfallversicherung Schutz gewähren soll, mit anderen Worten: der Eintritt jedes Gesundheitsschadens, der die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale einer Berufskrankheit erfüllt (vgl. Mertens/Perlebach, BEKV-Kommentar Losebl. E § 9 SGB VII Rn. 42 S. 97 m. w. N.). Für den Fall des Eintritts der Berufskrankheit "Lärmschwerhörigkeit" ist aus medizinischer Sicht anerkannt, dass dann, wenn die Lärmexposition beendet ist, die Schwerhörigkeit grundsätzlich nur noch altersentsprechend fortschreitet, mit anderen Worten: das Fortschreiten der Schwerhörigkeit kann dann nicht mehr der Lärmexposition angelastet werden (siehe: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage 1998 S. 389 m. w. N.). Da der Kläger lediglich bis zum 28.02.1990 zumindest während eines Teils seiner Arbeitszeit der Einwirkung von Lärm ausgesetzt war, kann sich somit der gesetzlich geschützte Tatbestand in seinem Falle - wenn überhaupt - nur vor dem 31.12.1991 verwirklicht haben.

Der Senat geht davon aus, dass die Exposition bereits mit dem 30.04.1977 (Aufgabe der Tätigkeit als Gleisleger bei der SDAG Wismut, Objekt 09, Schacht 371) endete. Danach war der Kläger nur noch Lärm mit einem Beurteilungspegel von 84 dB (A) ausgesetzt. Nach VDI 2058, Blatt 2 besteht die Gefahr des Entstehens von Gehörschäden bei Lärmeinwirkungen mit einem Beurteilungspegel ab 85 dB (A). Der Senat übersieht dabei nicht, dass bei Industriearbeitern der Hörverlust durch Lärmschädigung stärker von der Dauer der Lärmtätigkeit als vom Lärmpegel abhängt (vgl. Irion/Rossner/Lazarus, Entwicklung des Hörverlustes in Abhängigkeit von Lärm, Alter und anderen Einflüssen, Forschungsbericht 170 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz Dortmund 1983). Grundsätzlich unterliegt das durch Lärmeinwirkungen zu erwartende Ausmaß eines Gehörschadens überdies großen Streuungen. So können geringfügige Hörminderungen grundsätzlich auch dann auftreten, wenn der Beurteilungspegel von 85 dB (A) geringfügig unterschritten wird (vgl. Plath, Lärmschäden des Gehörs und ihre Begutachtung, Hannover 1991, Seite 63). Eine spezifische lärmbedingte Verschlechterung hat allerdings in den Jahren 1977 bis 1990 nicht mehr stattgefunden; das Audiogramm des Dr. K ... vom 13.08.1987 weicht kaum von dem Audiogramm aus dem Jahre 1966 ab. Der Senat geht daher davon aus, dass individuell beim Kläger der Lärm nach 1977 keine Einwirkungen mehr auf den vorhandenen Haarzellschaden hatte.

Im Jahre 1977 lag keine Lärmschwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung vor. Das Gutachten vom 02.08.1979 weist unter korrekter Auswertung der Befunde einen Grad des Körperschadens von 10 % aus.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf eine Stützrente.

Dabei bestimmt § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII, dass dann für jeden Versicherungsfall, der seinerseits eine MdE von 20 nicht erreicht, Anspruch auf Rente besteht, wenn die Erwerbsfähigkeit in Folge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen. Diese Vorschrift ist allerdings im Falle des Klägers nicht anzuwenden. § 1154 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVO i. V. m. § 215 Abs. 6 SGB VII schreibt die Anwendung des bundesdeutschen Rechts für so genannte Altfälle nur vor, was die Bemessung des Körperschadens betrifft. Die zu DDR-Zeiten geltenden Maßstäbe für die Bemessung des Körperschadens sind aus Gründen der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung nicht mehr zu Grunde zu legen (Regierungsentwurf zum RÜG, BT-Drucks. 12/405, S. 156). Eine Dispensierung des im Übrigen fortgeltenden DDR-Rechts (vgl. EV, Anlage II Kapitel X Sachgebiet I Abschnitt III, Nr. 4; Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I, Abschnitt III) ist damit nicht bewirkt. Vielmehr bleibt es im Grundsätzlichen dabei, dass bis zum 31.12.1991 - mit Ausnahme der Grundsätze für die Bemessung des Körperschadens - DDR-Recht anzuwenden ist. Einer der Grundsätze dieses Rechtes war es, dass bei der Berufskrankheit "Lärmschwerhörigkeit" die Anerkennung an das Vorliegen eines definierten Mindestkörperschadens gebunden war (vgl. Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin, Sonderschrift 4: Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer, Seite 54). Dies hängt damit zusammen, dass im Jahre 1968 durch die zweite Durchführungsbestimmung vom 18. September zur Verordnung über Melde- und Entschädigungspflicht bei Berufskrankheiten (GBl. II Nr. 102) in die Liste der Berufskrankheiten bei der Listen-Nr. 33 ("durch Lärm verursachte Schwerhörigkeit") der Zusatz "mit sozialer Bedeutung" aufgenommen wurde. Hiermit war klargestellt, dass eine - im Übrigen nach DDR-Recht grundsätzlich mögliche und auch quasi Stützrenten zulassende (vgl. § 23 Abs. 2 RVO vom 23.01.1979 - GBl. I Nr. 43 Seite 401, 405) - Anerkennung von Berufskrankheiten mit einem Grad des Körperschadens (GdK) von unter 20 bei der Lärmschwerhörigkeit grundsätzlich ausgeschlossen war.

Da dieser Grundsatz fortgilt, ist auch nachträglich eine Anerkennung einer im Jahre 1977 eingetretene Berufskrankheit mit einer MdE von 10 oder 15 % ausgeschlossen.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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