L 1 P 10/99

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 15 P 81/98
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 P 10/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 23.11.1999 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um den Anspruch der Klägerin auf Pflegegeld aus der sozialen Pflegeversicherung.

Die am ... geborene Klägerin ist bei der Beklagten gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit versichert. Am 08.11.1997 kam es bei der Klägerin zu einem apoplektischen Insult mit linkshemisphärieller Kleinhirnblutung. Bereits im November 1996 hatte die Klägerin einen Schlaganfall erlitten. Aufgrund des akuten Ereignisses vom 08.11.1997 wurde sie in die Neurochirurgische Klinik Chemnitz eingewiesen, in der sie sich bis 19.12.1997 zur stationären Behandlung aufhielt. Vom 29.12.1997 bis 27.01.1998 befand sich die Klägerin zur stationären Rehabilitation in der Moritz Klinik Bad K ...

Die Klägerin ist schwerbehindert. Der Grad der Behinderung ist mit 50 festgestellt.

Am 18.02.1998 beantragte der Klägerbevollmächtigte - der Ehemann der Klägerin - bei der Beklagten zunächst formlos Pflegeunterstützung unter Vorlage einer Bescheinigung von Dr. H ... Nach Eingang des Formantrages veranlasste die Beklagte die Erstellung eines Gutachtens durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). Der beauftragte Gutachter, Dr. R ..., stellte bei bei der Klägerin einen leicht reduzierten Kräftezustand, einen verlangsamten Gang sowie eine Bewegungseinschränkung an der linken Schulter fest; der Arm werde nur mit Mühe über die Horizontale erhoben; die grobe Kraft der linken Hand sei vermindert, in den Kniegelenken bestehe ein diskretes arthrotisches Reiben. Bei der Klägerin bestehe Hilfebedarf beim Baden (6 Minuten), An- und Auskleiden, Treppensteigen, Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung (8 Minuten) sowie im hauswirtschaftlichen Bereich. Der gesamte Pflegebedarf betrage einschließlich des Hilfebedarfs in der hauswirtschaftlichen Versorgung 45 Minuten.

Gestützt hierauf lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15.05.1998 die Gewährung von Leistungen der Pflegeversicherung ab. Hiergegen legte die Klägerin am 22.05.1998 Widerspruch ein. In diesem lässt die Klägerin vortragen, welche Tätigkeiten sie nicht mehr durchführen könne oder dürfe. So könne sie nicht kochen und abwaschen, keine Wäsche waschen, keine Hausarbeiten durchführen, nicht alleine auf die Straße gehen, nicht alleine einkaufen. Ihr Ehemann müsse ihr beim Aus- und Anziehen sowie beim Baden in und aus der Wanne helfen. Auch beim Treppensteigen (15 Stufen ins obere Stockwerk) müsse er sie herauf und herunter begleiten, insbesondere auch nachts auf dem Weg zur Toilette. Zum Nachweis hierfür legte die Klägerin ein Pflegetagebuch vor, auf das Bezug genommen wird (Bl. 23 VA). Die Beklagte ließ daraufhin ein weiteres Gutachten durch den MDK erstellen. Dr. med. G ... kam in seinem Gutachten vom 23.07.1998 zu dem Ergebnis, dass der Hilfsbedarf im Bereich Körperpflege, Ernährung und Mobilität 25 Minuten und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung 60 Minuten betrage. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 22.10.1998 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 23.11.1998 Klage vor dem Sozialgericht Chemnitz (SG) erhoben und erneut ein Pflegetagebuch vorgelegt.

Nachdem das SG einen Befundbericht mit gutachterlicher Stellungnahme von Frau Dr. V ... eingeholt hatte, beauftragte es Frau Dr. S ... Fachärztin für Innere Medizin, mit der Einholung eines schriftlichen Gutachtens. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin wandte sich gegen die gutachterliche Untersuchung seiner Ehefrau. Zur Begründung trug er vor, dass er seiner Frau die nervlichen und seelischen Belastungen einer weiteren Begutachtung nicht zumuten könne. Auf die Erläuterungen des SG (Schreiben vom 27.05.1999) zur Bedeutung des Gutachtens führte der Prozessbevollmächtigte aus, die bösesten Erfahrungen durch die Gutachter Frau Dr. R ... und Frau Dr. G ... gemacht zu haben.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 23.11.1999 abgewiesen. Die Klägerin sei nicht erheblich pflegebedürftig i. S. d. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Zwar würde die Klägerin nach ihrem eigenen Vortrag nicht nur die zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe I, sondern nach den Angaben im gerichtlichen Verfahren sogar der Pflegestufe III erfüllen. Diese divergierten aber in ihren einzelnen Elementen derart, dass sich die Kammer zu weiteren Ermittlungen veranlasst gesehen habe. Durch den Befundbericht mit gutachtlicher Stellungnahme der Hausärztin Dr. V ... sei der Sachverhalt keineswegs aufgeklärt. Der den einzelnen Verrichtungen zugeordnete Zeitaufwand sei in Anbetracht der zugleich angegebenen krankheitsbedingten Funktionsminderungen der Klägerin nicht nachvollziehbar. Das SG verwies insoweit darauf, dass die Maßstäbe pflegerischer Begutachtung keine allgemeine Verbreitung unter den praktisch tätigen Ärzten gefunden hätten. Die Klägerin habe eine Begutachtung durch die gerichtlich bestellte Sachverständige abgelehnt und sei insoweit ihrer Mitwirkungslast nach § 103 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht nachgekommen. Unter Anwendung der Beweislastregeln habe die Klage keinen Erfolg haben können. Das SG hat es zwar nicht für ausgeschlossen gehalten, dass bei der Klägerin tatsächlich ein rechtlich relevanter höherer Hilfebedarf bestehe, als er im MDK-Gutachten vom 22.07.1998 festgestellt worden sei. Die vom Gesetz geforderte volle Überzeugung des Gerichts von den tatsächlichen Voraussetzungen zumindest erheblicher Pflegebedürftigkeit ließen sich jedoch weder aus den Angaben der Klägerin noch aus den Angaben der Hausärztin Dr. V ... gewinnen.

Gegen den mit Einschreiben vom 01.12.1999 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 23.12.1999 eingelegte Berufung. Zur Begründung führte der Klägerbevollmächtigte aus, ihm sei es unbegreiflich, wie man mit freien Bürgern so verfahren könne, dass man sie vom Prozessverlauf ausgrenze und hinter dem Rücken des Betroffenen ein Urteil fälle. Nach seiner Meinung müssten drei Gutachten genügen.

Die Klägerin beantragt ausdrücklich:

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 23.11.1999 und der Bescheid vom 15.05.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.1998 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab Antragstellung Pflegegeldleistungen mindestens der Pflegestufe I zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Nach Auswertung der weiter eingeholten Befundberichte ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte, die zu einer anderen Einschätzung des Umfanges der Pflegebedürftigkeit bei der Klägerin geführt hätten.

Das Gericht hat den Entlassungsbericht der Moritz Klinik Bad K ... sowie den Entlassungsbericht des Klinikums Chemnitz beigezogen und einen Befundbericht von Frau Dr. med. V ... eingeholt.

Die Beteiligten haben zu den Krankenunterlagen Stellung genommen. Der Klägerbevollmächtigte wandte sich insbesondere gegen die Angaben im Entlassungsbericht der Moritz Klinik Bad K ..., die nach seiner Ansicht vielfach unrichtig seien. Die Gesundheit seiner Ehefrau nach dem Schlaganfall von 1996 sei nicht wiederhergestellt gewesen. Den Haushalt könne sie nicht allein führen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22.09.2000 hat der Klägerbevollmächtigte zunächst einer weiteren Begutachtung der Klägerin zugestimmt, diese Zustimmung jedoch später widerrufen.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Schwerbehindertenakte (Az.: 41-622296-6), die Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 151, 105 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), in der Sache jedoch unbegründet. Der Bescheid vom 15.05.1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.10.1998 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Pflegegeld (§ 37 SGB X) nach der Pflegestufe I, da sie das gesetzlich geforderte Mindestmaß an zeitlichem Umfang für den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege nicht nachweislich erfüllt.

Die Klägerin leidet, worüber auch kein Streit besteht, an einer Omarthrose beidseits, einem Zustand nach Kleinhirnblutung linkshemisphäriell, einem Zustand nach zerebralem Insult mit Störung der linken Seite, arterieller Hypertonie sowie einer reaktiv depressiven Verstimmung. In Folge dessen bestehen eine verminderte grobe Kraft in der linken Hand, eine Bewegungseinschränkung in beiden Schultergelenken sowie Koordinationsschwierigkeiten im Bereich des linken Armes und Beines.

Maßgeblich für die Beurteilung des Hilfebedarfs in der Pflegeversicherung sind jedoch nicht die festgestellten Diagnosen, sondern vielmehr, ob die Klägerin aufgrund dieser Erkrankungen Hilfe im Bereich der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung im gesetzlich geforderten Umfang benötigt. Dem ist indes nicht so.

Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI sind Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Dabei muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Person für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI). Zur Grundpflege gehören nach § 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI die Bereiche Körperpflege (mit den Verrichtungen Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), Ernährung (mit den Verrichtungen mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Nahrungsaufnahme) und Mobilität (mit den Verrichtungen selbständiges Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen sowie Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Die hauswirtschaftliche Versorgung umfasst die Verrichtungen Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI).

Der Senat vermag nicht festzustellen, dass bei der Klägerin der Hilfebedarf in einem Umfang besteht, der die Annahme erheblicher Pflegebedürftigkeit rechtfertigt. Nach den Feststellungen des MDK (Gutachten vom 25.03.1998 und 23.07.1998) ist zwar davon auszugehen, dass die Klägerin einen erheblichen Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Im Bereich der sog. Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) kann jedoch lediglich von einem Hilfebedarf zwischen 14 und 25 Minuten ausgangen werden. Dieses Ergebnis deckt sich im Wesentlichen mit den Angaben des Klägerbevollmächtigten im Widerspruchsverfahren. Der dort geschilderte Hilfebedarf betrifft vornehmlich den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Soweit ein Hilfebedarf bei den Verrichtungen An- und Ausziehen, Baden und Treppensteigen angegeben wurde, ist dieser in den MDK-Gutachten in angemessener Form berücksichtigt worden. Frau Dr. R ... kam im Gutachten zu dem Ergebnis, dass der Hilfebedarf beim Baden 6 Minuten, beim An- und Auskleiden 4 Minuten sowie beim Treppensteigen 2 Minuten täglich betrage. Frau Dr. G ... stellte beim Baden ebenso einen Hilfebedarf von 6 Minuten fest, gab ihn aber im Bereich der Mobilität mit 16 Minuten an. Zwar divergieren die zeitlichen Angaben der Gutachter im Einzelnen. Der Senat konnte aber offen lassen, welchen Zeitangaben zu folgen war, da nach den Feststellungen beider Gutachter der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege jedenfalls deutlich unter 46 Minuten lag.

Den Angaben der Klägerin in dem Pflegetagebuch vom 05.06.1998 folgt der Senat hingegen nicht. Diese sind für den Senat zum einen nicht glaubhaft, zum anderen nicht nachvollziehbar. So ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen die Klägerin Hilfe bei der Zahnpflege benötigt. In ihrer gutachtlichen Stellungnahme gibt Dr. V ...für diese Verrichtung keinen Hilfebedarf an. Die angegebenen 20 Minuten Hilfeleistung beim Aufstehen/Zu-Bett-Gehen sowie die 30 Minuten Hilfeleistung beim Gehen sind ebensowenig nachvollziehbar. Bei letzterem hat der Klägerbevollmächtigte vermutlich die von ihm an anderer Stelle vorgetragenen Spaziergänge mit eingerechnet. Das Gehen als Verrichtung i. S. d. § 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI ist im Bereich der Grundpflege jedoch nur insoweit zu berücksichtigen, als es im Zusammenhang mit einer anderen Verrichtung erfolgt (vgl. Udsching, Soziale Pflegeversicherung, 2. Auflage, § 14 Rz. 28). Hierzu gehört indes nicht das Spazierengehen.

Gegen die Angaben der Klägerin sprechen auch die Feststellungen im Rehabilitationsentlassungsbericht der Moritz Klinik Bad K ... Danach war der Rechtsdrall, der die Gangsicherheit bei bestehenden Gleichgewichtsstörungen eingeschränkt hatte, nicht mehr nachweisbar. Romberg und Unterberger-Tretversuch waren ungestört, der Seiltänzergang ausführbar. Die Gehdauer hatte (auf mindestens 45 Minuten) zugenommen, ebenso die körperliche Belastbarkeit. Diese Angaben entsprechen im Wesentlichen denen der Klägerin bei der Abschlussuntersuchung. Diese gab an, sich körperlich wesentlich stabiler zu fühlen. Das Gehen sei ausdauernder geworden. Im Freien benutze sie aus Sicherheitsgründen den Arm einer Begleitperson, im Haus könne sie sich völlig frei bewegen. Sie glaube, ihren Haushalt wieder allein erledigen zu können. Im Bedarfsfall sei die Hilfe des Ehemannes erforderlich.

Ob sich seit der Untersuchung durch Frau Dr. G ... der Gesundheitszustand der Klägerin wesentlich verschlechtert hat, konnte der Senat anhand der beigezogenen Unterlagen nicht mit Gewissheit feststellen. Zwar sprechen die von Frau Dr. V ... erhobenen Befunde hierfür. So fiel u.a. der Romberg-Stehversuch mit einer Abweichung nach rechts nunmehr wieder positiv aus. Da sich die Klägerin jedoch weigerte, sich erneut ärztlich begutachten zu lassen, konnte der Senat keine Feststellungen dazu treffen, ob und inwieweit es seit Juli 1998 zu einer Erhöhung des Zeitaufwandes für die erforderliche Pflege der Klägerin gekommen ist. Zu Recht verweist das SG insoweit auf die Mitwirkungspflicht der Beteiligten im sozialgerichtlichen Verfahren. Die Mitwirkung an einer Begutachtung hält der Senat auch nicht für unzumutbar. Die Grenzen der Mitwirkungspflicht ergeben sich aus § 65 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I). Nach dessen Abs. 2 Nr. 2 muss sich der Betroffene keiner ärztlichen Untersuchungsmaßnahme unterziehen, wenn hierfür ein wichtiger Grund vorliegt. Als wichtiger Grund sind sämtliche die Willensbildung bestimmenden Umstände zu verstehen, die als Motive die Weigerung des Leistungsberechtigten entschuldigen und als berechtigt erscheinen lassen (BSGE 20, 166 [167 f.]). Wichtiges Beurteilungskriterium sind die Grundrechte des Leistungsberechtigten und das Maß ihrer Betroffenheit. Die vorgetragenen "schlechten Erfahrungen" bei den vorangegangen Begutachtungen rechtfertigen indes nicht die Weigerung der Klägerin. Eine "menschenunwürdige Behandlung" der Klägerin ist weder dargetan noch in Zukunft zu erwarten. Die Voraussetzungen des § 65 Abs. 2 SGB I sind augenscheinlich ebensowenig erfüllt.

Selbst wenn jedoch die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht zu Recht verweigert hätte, hätte dies nach Auffassung des Senats nicht zur Folge, dass auch das Erfordernis des Nachweises der Anspruchsberechtigung entfiele. In jedem Fall trifft die Klägerin die objektive Beweislast dafür, dass der Pflegebedarf in anspruchsbegründender Höhe besteht. Daher geht es zu ihren Lasten, dass sich eine Zunahme des Pflegebedarfs seit der letzten gutachterlichen Untersuchung durch den MDK und in diesem Zusammenhang die Voraussetzungen der "erheblichen Pflegebedürftigkeit" nicht nachweislich feststellen lassen. Der volle Beweis (Strengbeweis) hierfür im Sinne einer zur Überzeugung des Gerichts feststehenden Gewissheit liegt nicht vor. Frau Dr. V ... gibt zwar in ihrer gutachterlichen Stellungnahme einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 235 Minuten an. Dieser entspricht der Pflegestufe II (vgl. § 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI). Die Angaben von Frau Dr. V ... hat der Senat indes nicht für überzeugend befunden. Im Hinblick auf die von ihr erhobenen Befunde ist ein Hilfebedarf von jeweils 60 Minuten täglich für die Verrichtungen Baden und Waschen ebensowenig nachvollziehbar wie der von 115 Minuten täglich im Bereich der Mobilität. Die Zeitangaben liegen - abgesehen von denen für die Verrichtungen Treppensteigen und Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung, für die die Richtlinien zur Begutachtung von Pflegebedürtigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuch [SGB XI] (Begutachtungs-Richtlinien - BRi -) keine Zeitkorridore enthalten - zum Teil bei weitem über dem Zeitrahmen, den die Begutachtungs-Richtlinien hierfür im Einzelnen vorsehen. So beträgt der Zeitkorridor im Bereich der Ganzkörperwäsche 20 bis 25 Minuten, des Duschens 15 bis 20 Minuten, des Badens 20 bis 25 Minuten und des Aufstehens/Zu-Bett-Gehens je 1 bis 2 Minuten täglich bei vollständiger Übernahme der Verrichtung durch eine Laienpflegekraft. Vorliegend erscheint schon die vollständige Übernahme dieser Verrichtungen durch eine Pflegekraft als nicht erforderlich. Bedenken gegen eine Heranziehung der Begutachtungs-Richtlinien zur Überprüfung der Nachvollziehbarkeit des geschätzten Hilfebedarfs hat der Senat nicht, nachdem es sich bei den angegebenen Zeitkorridoren um Erfahrungswerte aus der Gutachterpraxis handelt (vgl. Udsching a.a.O., § 15 Rz. 18).

Auch die Zeitangaben der behandelnden Ärztin für die Verrichtungen Treppensteigen und Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sind für den Senat nicht schlüssig. Aus den Angaben von Frau Dr. V ... ergibt sich weder, welche Wege der Klägerin den angegebenen Hilfebedarf rechtfertigen, noch wie oft sie täglich bzw. wöchentlich anfallen.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat weist jedoch ergänzend darauf hin, dass es der Klägerin freisteht, bei der Beklagten erneut einen Antrag auf Pflegegeldleistungen zu stellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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