L 1 SB 14/00

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 5 SB 203/97
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 SB 14/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 11.01.2000 abgeändert und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).

Der am ...1944 geborene Kläger erlitt während der Ausübung seiner Tätigkeit als Vorarbeiter am 20.04.1995 aufgrund eines Sturzes aus fünf Meter Höhe eine Fraktur des 4. Lendenwirbelkörpers. Am 18.04.1996 beantragte der Kläger bei dem Beklagten, Feststellungen nach dem SchwbG zu treffen. Als Gesundheitsstörungen gab er Schmerzen beim Laufen und langem Stehen im rechten und linken Knie jeweils nach Meniskus-Operationen sowie Schmerzen im Becken, eine Bewegungseinschränkung beim Bücken und eine teilweise Blockade infolge des Arbeitsunfalls an. Der Beklagte holte Krankenunterlagen der Paracelsusklinik Z ... sowie ein medizinisches Gutachten vom Versorgungsärztlichen Dienst, erstattet am 17.12.1996 von Dr. E ..., ein. In der Paracelsusklinik wurde beim Kläger eine Kompressionsfraktur des 4. Lendenwirbelkörpers ohne Beteiligung des Spinalkanals mit Hinterkantenbeteiligung ohne neurologische Ausfälle sowie Prellungen am Becken, am linken Sprunggelenk und eine Aduktorenzerrung links festgestellt. Die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) aufgrund des Arbeitsunfalles wurde mit 20 vom Hundert (v. H.) bemessen.

Mit Bescheid vom 17.01.1997 stellte der Beklagte bei dem Kläger eine Behinderung mit einem GdB von 40 unter Berücksichtigung folgender Funktionsstörungen (dort wie auch im Folgenden als "Behinderungen" bezeichnet) fest:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Mus kelreizerscheinungen, Wirbelbruch (4. Lendenwirbelkörper),
2. Funktionsbehinderung beider Kniegelenke bei degenerativen Veränderungen.

Hiergegen legte der Kläger am 05.02.1997 Widerspruch mit der Begründung ein, dass die starken Schmerzen in beiden Kniegelenken nach längerem Stehen und Laufen sowie deren Instabilität nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Der Beklagte zog im Widerspruchsverfahren einen Befundbericht von Frau Dipl.-Med. E ..., Fachärztin für Chirurgie, sowie ein versorgungsärztliches Gutachten von Frau Dipl.-Med. Sch ... ein. Letztere stellte beim Kläger eine schmerzhafte Belastungsminderung in beiden Kniegelenken infolge degenerativer Veränderungen bei noch ausreichender Gelenkbeweglichkeit fest, wobei die bestehende Seitenbandlockerung und Varusfehlstellung der Kniegelenke im GdB bereits berücksichtigt seien. Die Funktionseinschränkung der Wirbelsäule sei mit einem GdB von 30 korrekt bewertet. Die Lendenwirbelsäule sei praktisch versteift. Es bestünden paravertebrale Muskelverspannungen. Motorische oder sensible Ausfälle bzw. Störungen seien nicht dauerhaft nachweisbar.

Gestützt hierauf wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.08.1997 den Widerspruch des Klägers zurück.

Mit der am 08.09.1997 beim Sozialgericht Chemnitz (SG) erhobenen Klage hat der Kläger sein auf Feststellung eines höheren GdB gerichtetes Klagebegehren weiterverfolgt. Er hat vorgetragen, dass er sich in ständiger fachärztlicher Behandlung befinde und auf die regelmäßige Einnahme von Schmerzmedikamenten angewiesen sei. Trotzdem habe er ständig Schmerzen, die längeres Sitzen, Gehen und Stehen unmöglich machten, aber auch Bücken nicht erlaubten.

Das SG hat zur Klärung des medizinischen Sachverhalts das arbeitsamtsärztliche Gutachten von Frau Dr. P ... vom 18.02.1997, das erste Rentengutachten von Dr. F ... für die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft vom 30.05.1996 sowie das medizinische Sachverständigengutachten von Dr. F ..., Facharzt für Arbeitsmedizin, das im Rahmen eines beim SG anhängigen Rentenverfahrens eingeholt worden war, beigezogen. Ferner lag dem SG ein Befundbericht von Dipl.-Med. E ... vor.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines orthopädischen Gutachtens durch Dr. G ... Dieser stellte beim Kläger in seinem Gutachten vom 02.10.1998 eine extrem schmerzhafte, in allen Ebenen nahezu eingesteifte Beweglichkeit fest. Diese sei mit den objektiven Befunden nicht zu erklären. Die Fraktur des 4. Lendenwirbels sei eine sog. stabile Fraktur, in der es zu keinerlei Irritationen der Nervenwurzeln bzw. der Rückenmarksnerven im Spinalkanal gekommen sei. Ein enger lumbaler Spinalkanal bestehe ebenso wenig wie radikuläre Ausfälle. Die gesamte Untersuchung und Anamneseerhebung sei von einer demonstrativ starken Schmerzdarstellung gekennzeichnet gewesen. Die gesamte Schmerzäußerung, die lautstarken Schmerzangaben seien mit Sicherheit psychogenen Charakters und hätten vermutlich sogar aggravative Züge. Im Bereich des Wartezimmers sei nach Hinterfragen des gesamten Praxispersonals und der in der Praxis tätigen ärztlichen Kollegen nicht diese (wie in der Untersuchung) gehäufte Aufsteh- und Entlastungsposition eingenommen worden. Beim Kläger sei im Bereich der Wirbelsäule von einer extremen schmerzneurotischen Fixierung auszugehen und der "Gesamt-GdB" mit 40 einzuschätzen. Die diagnostizierte Gonarthrose am linken Kniegelenk mit Innenband- und vorderer Kreuzbandinstabilität und die Retropatellararthrose am rechten Kniegelenk rechtfertige einen Einzel-GdB von 20, die Coxarthrose links einen Einzel-GdB von 10. Der Gesamt-GdB betrage 50. Auf das Gutachten von Dr. G ... im Übrigen (Bl. 53 ff. SG-Akte) wird Bezug genommen.

Die Beteiligten haben zu dem Gutachten von Dr. G ... Stellung genommen. Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass die objektiven Befunde der Wirbelsäule lediglich einen GdB von 30 bedingten. Die Hüftbehinderungen erreichten nach den vorgegebenen Richtlinien der "AP" noch keinen Wert eines GdB. Im Hinblick auf die von Dr. G ... festgestellte neurotische Komponente bedürfe es einer nervenärztlichen Abklärung und der isolierten Behinderungsfeststellung.

Das SG hat auf mündliche Verhandlung mit Urteil vom 11.01.2000 den Bescheid vom 17.01.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.08.1997 aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, den GdB auf 50 festzusetzen. Das SG verweist auf Ziff. 26.18 (S. 140) der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) Stand November 1996, wonach Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten einen GdB von 40 bedingten. Nach den Feststellungen von Dr. G ... sei die Lendenwirbelsäule in ihrer Funktion durch die fast vollständig aufgehobene Beweglichkeit in allen Richtungen erheblich eingeschränkt. Auch in der Brust- und Halswirbelsäule sei eine ausgeprägte Bewegungseinschränkung bekundet worden, wobei das schmerzreflektorische Element bei dem Kläger gegenüber aggravatorischen Abwehrspannungen überwiege. Ein Gesamt-GdB (von 50) scheine auch im Hinblick auf Ziff. 26.18 AHP gerechtfertigt, wonach bereits bei Versteifung großer Teile der Wirbelsäule hierfür ein Einzel-GdB von 50 in Betracht komme. Unstreitig sei die Lendenwirbelsäule praktisch versteift. Die Ursache der Versteifung spiele keine Rolle. Ein zusätzliches psychiatrisches Gutachten sei nicht erforderlich gewesen, da ein GdB von 50 bereits alleine von den orthopädischen Befunden her gerechtfertigt sei, wobei der Muskelhartspann ein wesentliches Indiz für die schmerzreflektorische und nicht absichtliche Auslösung sei.

Gegen das am 27.01.2000 zugestellte Urteil richtet sich die am 24.02.2000 erhobene Berufung des Beklagten. Der Beklagte vertritt die Auffassung, dass die erhobenen Befunde und geklagten Beschwerden in deutlicher Diskrepanz zu den morphologischen Veränderungen stünden. Diese Diskrepanzen hätten ihre Hintergründe und es sei zu klären, ob es sich um eine seelische Störung von Krankheitswert handele oder um Aggravation oder etwa um beides. Dies sei Aufgabe eines Facharztes für Psychiatrie und nicht eines für Orthopädie.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 11.01.2000 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat die Gerichtsakten des SG zum Rentenverfahren des Klägers (Az.: S 15 RJ 107/97) sowie einen Befundbericht von Dr. H ..., Fachärztin für Allgemeinmedizin, und von Dr. L ..., Facharzt für Orthopädie, eingeholt. Nach Auskunft von Dr. L ... ist es seit Oktober 1998 zu einer wesentlichen Verschlechterung vor allem im Bereich der Kniegelenke gekommen. Die Schmerzsymptomatik in der Wirbelsäule sei unverändert therapieresistent. Außerdem hat dem Senat der Befund der Kernspintomographie vom 13.01.2000 vorgelegen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Prof. Dr. R ... Dieser kam in seinem Gutachten vom 29.10.2000 zu dem Ergebnis, dass beim Kläger kein neurologisches Defizit und keine psychiatrische Störung von Krankheitswert vorliege. Die Behinderungen des Klägers im Bescheid des Beklagten vom 17.01.1997 seien richtig und vollständig bezeichnet. Außergewöhnliche Schmerzzustände i. S. d. Ziff. 18 Abs. 8 der AHP - GdB-erhöhend - lägen nicht vor. Auf das Gutachten von Prof. Dr. R ... im Übrigen (Bl. 49 ff. LSG-Akte) wird Bezug genommen.

Die Beteiligten haben zu dem Gutachten Stellung genommen. Der Kläger lässt vortragen, dass die Untersuchung nicht durch Herrn Prof. Dr. R ... durchgeführt worden sei, so dass nicht nachvollziehbar sei, wie Herr Prof. Dr. R ... zu der Feststellung komme, dass für den Kläger Ausziehen und Stehen flüssig möglich sei. Der Einzel-GdB von 20 für beide Kniegelenke, die nach Auskunft des Orthopäden des Klägers kaputt seien, sei nach Auffassung des Klägers zu wenig. Die Einnahme von Schmerzmitteln sei vom Kläger selbst reduziert worden, da sich bei ihm bei der Einnahme einer höheren Dosis Magenbeschwerden einstellten. Der Kläger legte ferner ein fachchirurgisches Gutachten des Medizinischen Gutachteninstituts H ... für die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft vom 14.03.1997 vor. Danach ist allein vom röntgenmorphologischen Befund her die MdE mit unter 10 v. H. einzuschätzen. Unter Berücksichtigung einer anteilmäßigen Bewegungseinschränkung und einer anteilmäßigen Muskelverspannung im Bereich der Lendenwirbelsäule erscheine eine MdE i. H. v. 10 v. H. medizinisch begründbar.

Prof. Dr. R ... hat zum Vortrag des Klägers Stellung genommen und ausgeführt, dass der Kläger von ihm persönlich nervenärztlich untersucht worden sei. Die formale Durchführung der neurophysiologischen Untersuchungen sei durch Mitarbeiter erfolgt. Der Kläger habe sich dazu bis auf die Unterwäsche entkleiden müssen, was er ohne Probleme vollzogen habe. Prof. Dr. R ... wies außerdem darauf hin, dass die in der GdB/MdE-Tabelle angegebenen Werte die vorhandenen Schmerzen miteinschlössen und auch besonders schmerzhafte Zustände berücksichtigten. Höhere Werte könnten nur bei Kausalgien, Phantom- oder Stumpfbeschwerden nach Amputationen oder ähnlichen schweren Schmerzzuständen angesetzt werden. Ein solcher Zustand sei beim Kläger nicht zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen sowie auf die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist zulässig und erweist sich auch in der Sache als begründet. Das SG hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt; der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 17.01.1997 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.08.1997 nicht in seinen Rechten verletzt (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Er hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40.

Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 SchwbG stellt die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständige Behörde und damit der Beklagte das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Behinderung im Sinne dieses Gesetzes ist gem. § 3 Abs. 1 Satz 1 SchwbG die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten. Die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung ist nach § 3 Abs. 2 SchwbG als Grad der Behinderung, nach Zehnergraden abgestuft, von 20 bis 100 festzustellen. Für den GdB gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 des BVG festgelegten Maßstäbe entsprechend (§ 3 Abs. 3 SchwbG). Für die Beurteilung ist danach maßgeblich, in welchem Ausmaß die aus einer Gesundheitsstörung hervorgehende Beeinträchtigung den Betroffenen in Arbeit, Beruf und Gesellschaft behindert. Dabei sind einerseits besonders berufliche Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, andererseits finden auch Einschränkungen bei der Ausübung von Tätigkeiten im Haushalt oder in der Freizeit Berücksichtigung. Liegen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vor, so ordnet § 4 Abs. 3 SchwbG an, dass der GdB nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit und unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist.

Zur konkreten Bestimmung des GdB ist im Einzelfall von den vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) in ihrer jeweils geltenden Fassung auszugehen, denen im Interesse einer objektiven und objektivierbaren Bewertung und einer am Gleichheitsgebot orientierten Gleichbehandlung normähnliche Wirkung beizumessen ist (vgl. z. B. BSG SozR 3-3870 § 3 SchwbG Nr. 5, § 4 SchwbG Nr. 1, 6, 10). Die AHP stellen eine der Entscheidungsfindung dienende Grundlage der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaften zur Bemessung sowohl des Umfanges als auch der Schwere der Beeinträchtigung dar. Denn in ihnen ist der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen jeweils aktualisiert wiedergegeben. Sie ermöglichen auf diese Weise eine nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Rechtsprechung sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch der Schwere der Beeinträchtigungen, die dem Gleichheitsgrundsatz genügt. Eine Abweichung von den AHP kann daher nur in medizinisch begründeten Ausnahmefällen in Betracht kommen.

Da für die vorliegende Verpflichtungsklage die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich ist, sind die AHP 1996 als derzeitiger Stand des sozialmedizinischen Erfahrungswissens zugrunde zu legen.

Der Begriff des GdB umfasst nicht einen medizinischen, sondern einen rechtlichen Begriff, so dass eine Festlegung nicht Aufgabe von Sachverständigen ist. Diese beruht auch nicht auf medizinischen Erfahrungen, sondern auf einer rechtlichen Wertung von Tatsachen, die jedoch mit Hilfe von medizinischen Sachverständigen festzustellen sind. Bei der erforderlichen rechtlichen Schlussfolgerung bilden zwar die Auffassungen der Sachverständigen wertvolle Fingerzeige; doch ist stets zu beachten, dass es sich dabei nicht mehr um die Erörterung medizinischer, sondern um eine solche rechtlicher Begriffe handelt, welche im Streitfall den Gerichten obliegt (BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9 A/9 RVs 7/89 - SozR 3-3870 § 4 SchwbG Nr. 1).

Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist die angefochtene Entscheidung des Beklagten im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat den bei dem Kläger festzustellenden GdB mit 40 zutreffend bemessen. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme, d. h. aus allen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gewonnenen medizinischen Erkenntnissen, insbesondere aber aus dem medizinischen Sachverständigengutachten von Dr. G ... und dem von Prof. Dr. R ... sowie aus dem Befundbericht von Dr. L ...

Danach leidet der Kläger unter Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen und stabiler Kompressionsfraktur des vierten Lendenwirbelkörpers, einer Bewegungseinschränkung der Kniegelenke infolge einer Gonarthrose am linken Kniegelenk mit Innenband- und vorderer Kreuzbandinstabilität und einer Retropatellararthrose des rechten Kniegelenks sowie unter einer Bewegungseinschränkung am linken Hüftgelenk als Folge einer beginnenden Coxarthrose. Eine schmerzneurotische Fixierung bzw. somatoforme Schmerzstörung liegt hingegen beim Kläger nicht vor. Diese wurde zwar durch Dr. G ... angegeben, jedoch ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Bestätigung durch einen Neurologen und Psychiater. Prof. Dr. R ... stellte indes beim Kläger keine psychiatrische Störung von Krankheitswert fest. Somatisierungsstörungen folgten der diagnostischen Leitlinie, dass mindestens zwei Jahre anhaltende multiple und unterschiedliche körperliche Symptome, für die keine ausreichende somatische Erklärung gefunden worden sei, vorliegen müssten sowie die hartnäckige Weigerung, den Rat mehrerer Ärzte anzunehmen, da für die Symptome keine Erklärung zu finden sei, und eine gewisse Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktionen durch die Art der Symptome und des daraus resultierenden Verhaltens. Bei Durchsicht der psychischen Befunde des Klägers komme man zu dem Schluss, dass alle psychopathologischen Erscheinungen bei ihm in sozialmedizinisch und für die Alltagsgestaltung nicht bedeutsamer Ausprägung vorlägen. Eine Neurose scheide aus, da der Kläger durchaus in der Lage sei, durch Willensanstrengung seine Leistungsfähigkeit zu verbessern. Eine Willensfreiheit sei dann nicht gegeben, wenn es morbogen an kognitiven Fähigkeiten, Sinnverständnis und Orientierungsfähigkeit mangele. Dies sei beim Kläger nicht zutreffend. Er könne seine Interessen durchsetzen und sei vom Antrieb und von der Stimmung her nicht wesentlich beeinträchtigt. Der Beschwerdekomplex sei zumindest teilweise bewusstseinsnahe und durch ihn steuerbar. Die Beschwerdeschilderungen und das Verhalten des Klägers hätten Ansätze eines demonstrativen Charakters. Der Kläger besitze eine bedeutsames Kompensationspotential. Es spreche ebenfalls für die genannte Einschätzung, dass der Kläger mit einem einzigen, nicht starken Schmerzmittel auskomme. Psychopharmaka und eine psychiatrische-psychotherapeutische, eventuell auch eine stationäre Behandlung würden nicht in Erwägung gezogen. Es läge auch keinerlei Anhalt für eine den Alltag bestimmende Schonhaltung von Extremitäten vor.

Der Senat schließt sich den gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. R ... an. Der Senat hat das Gutachten in der Erhebung der Befunde, in der würdigenden Bewertung der Vorgeschichte und der bereits erhobenen Befunde und in der Beantwortung der Frage der Beweisanordnung des Senats für sorgfältig und sachkundig erstellt und somit für überzeugend befunden. Das Gutachten steht insoweit in Übereinstimmung mit denen des Versorgungsärztlichen Dienstes, mit dem arbeitsamtsärztlichen Gutachten und mit dem von Dr. F ..., als in ihnen ebenso wenig eine psychische Störung des Klägers beschrieben wurde. Der Verwertbarkeit des Gutachtens steht im Übrigen nicht entgegen, dass sich Prof. Dr. R ... zur Befunderhebung der Mitarbeit von "Hilfskräften" bedient hat (vgl. § 407 a Abs. 2 Satz 2 ZPO, § 202 SGG). Ausreichend ist, dass Prof. Dr. R ... nach eigenen Angaben, an denen der Senat keine Zweifel hat, die wesentlichen Prüfungen und Beurteilungen, die seine besondere Sachkunde erfordern, selbst vorgenommen und für das Gutachten eindeutig selbst die volle Verantwortung übernommen hat.

Für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule hat der Beklagte seiner Entscheidung in nicht zu beanstandender Weise einen GdB von 30 zugrunde gelegt. Gemäß Ziff. 26.18, S. 140 AHP ist für Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ein GdB von 30, mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ein GdB von 40, mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z.B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70 Grad nach Cobb]) ein GdB von 50 bis 70 und bei schwerster Belastungsinsuffiziens bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB von 80 bis 100 anzusetzen. Bei außergewöhnlichen Schmerzsyndromen kann auch ohne nachweisbare neurologische Ausfallerscheinungen ein GdB über 30 in Betracht kommen.

Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen oder besonders schweren Auswirkungen liegen beim Kläger nicht vor. Aus dem Gutachten von Dr. G ... ergibt sich, dass beim Kläger keine gravierenden degenerativen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule bestehen, die die festgestellten erheblichen Bewegungseinschränkungen im Bereich der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule rechtfertigen. Im unteren HWS-Bereich liegt ebenso wie im mittleren Brustwirbelsäulenbereich eine mäßige Spondylosis deformans ohne statische Auswirkungen vor. Soweit beim Kläger im Bereich der Lendenwirbelsäule eine fast vollständig aufgehobene Bewegung in allen Richtungen bei schwerer muskulärer Abwehrspannung festgestellt wurde, kann diese Funktionseinschränkung ebenso wenig auf die erhobenen pathologischen Befunde zurückgeführt werden. Auch hier wurde "lediglich" eine mäßiggradige Spondylosis deformans festgestellt. Die Fraktur des 4. Lendenwirbels ist eine stabile Fraktur, in der es zu keinerlei Irritationen der Nervenwurzeln bzw. der Rückenmarksnerven im Spinalkanal gekommen ist. Ebenso wenig liegt in diesem Bereich ein enger lumbaler Spinalkanal vor. Radikuläre Ausfälle bestehen auch nicht. Dies wird durch durch das Gutachten von Prof. Dr. R ... bestätigt. Danach ist der neurologische Status beim Kläger regelgerecht.

Nachdem Prof. Dr. R ... beim Kläger auch keine somotoforme Schmerzstörung feststellen konnte, wird die Vermutung von Dr. G ... bestätigt, dass die lautstarken Schmerzangaben des Klägers aggravative Züge hatten. Hinzu kommt, dass sich der Kläger im Rahmen der neurologisch-psychiatrischen Begutachtung flüssig ausgezogen hat. Ausgehend von den von Dr. G ... festgestellten Bewegungseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule wäre dies dem Kläger nicht möglich gewesen. Schließlich ist der Kläger zwar während der orthopädischen Begutachtung gehäuft aufgestanden und hat Entlastungspositionen eingenommen. Im Bereich des Wartezimmers des gerichtlich bestellten Sachverständigen auf orthopädischem Gebiet war dies hingegen nicht beobachtet worden. Aufgrund dessen sprechen nach Auffassung des Senats erhebliche Gründe dafür, dass die Diskrepanz zwischen dem funktionellen Befund und den tatsächlichen morphologischen Veränderungen zumindest auch auf das aggravative Verhalten des Klägers während der orthopädischen Begutachtung zurückzuführen ist. Da beim Kläger nach den schlüssigen und nachvollziehbaren Feststellungen von Prof. Dr. R ... auch keine außergewöhnlichen Schmerzsyndrome vorliegen, kommt daher für die Funktionsbehinderung im Bereich der Wirbelsäule kein höherer Einzel-GdB als 30 in Betracht. Die Feststellungen im Gutachten des Medizinischen Gutachteninstituts Hamburg steht dem nicht entgegen. Der Grad der MdE infolge des Arbeitsunfalls ist dort lediglich mit 10 v. H. eingeschätzt.

Der Einzel-GdB im Bereich der Kniegelenke des Klägers ist ebenso zutreffend von dem Beklagten mit einem GdB von 20 bewertet worden. Gemäß Ziff. 26.18, S. 151 AHP ist für die Lockerung des Kniebandapparates bei muskulärer Kompensierbarkeit ein GdB von 10, bei unvollständiger Kompensierbarkeit und Gangunsicherheit ein GdB von 20 und bei Versorgung mit einem Stützapparat, je nach Achsenfehlstellung, ein GdB von 30 bis 50 anzusetzen. Für eine einseitige Bewegungseinschränkung im Kniegelenk geringen Grades (z. B. Streckung/Beugung bis 0-0-90) sehen die AHP einen GdB von 0 bis 20, bei beidseitiger Bewegungseinschränkung geringen Grades einen GdB von 10 bis 20, bei einseitiger Bewegungseinschränkung mittleren Grades (z. B. Streckung/Beugung 0-10-90) einen GdB von 20 und bei beidseitiger Bewegungseinschränkung mittleren Grades einen GdB von 40 vor. Beim Kläger besteht im Bereich des linken Kniegelenkes eine leichte bandinstabile Gonarthrose mit einem Streck-/Beugedefizit, einem überdehnbaren Außenband und einem leicht überdehnbaren vorderen Kreuzband. Im Bereich des rechten Kniegelenkes liegt eine deutliche Retropatellararthrose vor. Die Bewegungsmaße betragen nach der so genannten Neutral-Null-Methode am rechten Kniegelenk nach den in diesem Bereich zuletzt von Dr. L ... erhobenen Befunden rechts bei Extension/Flexion 0-5-140 und links 0-10-100. Diese Bewegungsmaße weichen nur gering von den von Dr. G ... festgestellten ab, der rechts bei Extension/Flexion Werte von 0-5-130 und links von 0-10-110 feststellte. Die von Dr. G ... vorgenommene Bewertung eines GdB von 20 für die Funktionsbehinderungen im Bereich der Kniegelenke sieht der Senat daher nach wie vor als angemessen an. Die Lockerung des Kniebandapparates links führt nach den Angaben des Klägers zu einer Gangunsicherheit, die mit einem GdB von 20 zu bewerten ist. Die Bewegungseinschränkung im rechten und linken Kniegelenk ist allenfalls geringen Grades und rechtfertigt keinen höheren GdB als 10. Für die Funktionsbehinderungen in den Kniegelenken ist, da sie Teil des Funktionssystems "Beine" sind, nur ein Einzel-GdB zu bilden (vgl. Ziff. 18 Abs. 4 AHP). Dieser ist aufgrund der geringen Bewegungseinschränkungen nach Auffassung des Senats nicht höher als 20 anzusetzen.

Die Bewegungseinschränkung im linken Hüftgelenk ist entsprechend Ziff. 16.18, S. 150 AHP mit einem Einzel-GdB von 10 zu bemessen. Die von Dr. L ... erhobenen Bewegungsmaße des linken Hüftgelenkes von Extension/Flexion von 0-0-90 entspricht einer Bewegungseinschränkung geringen Grades und bedingt allenfalls einen GdB von 10. Eine Bewegungseinschränkung mittleren Grades setzt Bewegungsmaße im Bereich Streckung/Beugung bis zu 0-30-90 mit entsprechenden Einschränkungen der Dreh- und Spreizfähigkeit voraus. Derartige Bewegungsmaße liegen aber beim Kläger im Bereich des linken Hüftgelenkes nicht vor. Im Bereich des rechten Hüftgelenkes ist bei Bewegungsmaßen von Extension/Flexion 0-0-100 von keiner im Sinne der AHP relevanten Bewegungseinschränkungen auszugehen.

Unter Berücksichtigung der nachgewiesenen Funktionsstörungen beträgt der Gesamt-GdB nicht mehr als 40.

Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB ist gemäß Ziff. 19 der AHP bei Vorliegen mehrerer Funktionsstörungen zwar der jeweilige Einzel-GdB anzugeben. Maßgeblich ist jedoch der Gesamt-GdB, welcher nur für den Gesamtzustand der Behinderung festgestellt wird, nicht für einzelne Funktionsbeeinträchtigungen. Bei den Teil-GdB-Werten handelt es sich lediglich um Einsatzgrößen, mit denen die Einschätzung des Gesamt-GdB einerseits vorbereitet, andererseits nachvollziehbar begründet und damit überprüfbar gemacht wird. Darin erschöpft sich die Bedeutung der Einzel-GdB. Sie gehen als bloße Meßgröße für mehrere zugleich vorliegende Funktionsbeeinträchtigungen restlos im Gesamt-GdB auf und erwachsen nicht in Rechtskraft.

Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsstörungen zusammen dürfen nach Ziff. 19 Abs. 1 der AHP die einzelnen Teil-GdB-Werte nicht einfach addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgeblich sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Dabei führen indes leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamt-Beeinträchtigung, die bei einem Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnte (vgl. BSG, Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R). Auch bei leichten Behinderungen mit einem Teil-GdB von 20 ist es regelmäßig nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist daher in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt. Im Hinblick auf alle weiteren Funktionsstörungen ist zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, um also wegen der weiteren Funktionsstörungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (vgl. Ziff. 19 Abs. 3 der AHP). Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist zu beachten, wie weit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob sich eine Behinderung auf eine andere besonders nachteilig auswirkt, wie weit sich die Auswirkungen der Behinderung überschneiden oder ob das Ausmaß einer Behinderung durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt wird.

Da sich die beim Kläger vorliegenden Behinderungen überschneiden, ist der Gesamt-GdB zwar wesentlich niedriger als die Summe der einzelnen GdB, aber höher als für die Behinderungen mit dem höchsten Einzel-GdB anzusetzen, da zusätzliche Beschwerden und Funktionsbeeinträchtigungen hinzutreten. Dementsprechend hält der Senat unter Berücksichtigung der festgestellten Teil-GdB-Werte einen Gesamt-GdB von 40 für zutreffend und im Einklang stehend mit den AHP.

Nach alledem war das Urteil des SG abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 167 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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