L 1 SB 2/00

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 10 SB 540/95
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 SB 2/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 14.12.1999 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) mit mindestens 50 sowie die Voraussetzungen für die Merkzeichen "B" und "G".

Die am ... geborene Klägerin beantragte am 23.08.1993 bei dem Beklagten Feststellungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) zu treffen. Als Behinderungen gab sie einen Wirbelsäulenschaden und eine Handverletzung an. Sie falle vor Schmerzen oft um. Auch leide sie an Schlafstörungen und Taubheit in Hand und Fuß und Durchblutungsstörungen. Ohne fremde Hilfe könne sie nicht gehen.

Der Beklagte zog die Epikrise über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 02.08.1988 bis 26.09.1988 im Klinikum K .../C ... bei. Darin ist die Diagnose einer Kompressionsfrakur LWK 2 (nach Sturz vom Apfelbaum) festgehalten und die Therapie mit Lagerungsbehandlung und anschließender Mobilisation beschrieben. Die behandelnde Ärztin der Klägerin Dr. K ..., Fachärztin für Allgemeinmedizin, teilte im Befundbericht vom 28.11.1993 die Diagnose eines chronischen Schmerzzustandes bei Zustand nach Fraktur des 2. Lendenwirbelkörpers sowie den Verdacht einer cerebrovasculären Durchblutungsstörung mit. Die Klägerin habe wiederholt über Taubheitsgefühle in der linken Körperhälfte geklagt. Ein aktueller neurologischer Befund liege ihr nicht vor, weil die Vorstellung beim Facharzt für Neurologie von der Klägerin abgelehnt worden sei. Es liege eine Teilversteifung der BWS und LWS vor. Schober und Finger-Fußboden-Abstand seien nicht prüfbar gewesen. Die Motorik der unteren und oberen Extremitäten sei unauffällig, die Reflexe seitengleich vermindert auslösbar gewesen.

Mit Bescheid vom 14.02.1994 stellte der Beklagte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von 30 unter Berücksichtigung folgender Behinderungen fest:

- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen
- Wirbelbruch

Eine Handverletzung sei den beigezogenen Unterlagen nicht zu entnehmen gewesen.

Hiergegen richtete sich der am 10.03.1994 erhobene Widerspruch, mit dem von der Klägerin neben der Erhöhung des festzustellenden Grades der Behinderung die Merkzeichen "G" und "B" geltend gemacht wurden. Zur Begründung hat die Klägerin vorgetragen, sie sei deutlich gehbehindert. Tageweise könne sie gar nicht aufstehen. Die rechte Hand sei im Gebrauch eingeschränkt. Nahverkehrsmittel könnte sie wegen Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen nicht benutzen. Bei ihr liege eine Funktionseinschränkung der Gelenke vor, weshalb sie "kein Halt im Körper" habe. Hin und wieder habe sie Anfälle von Bewusstlosigkeit. Dr. K ... habe ihr nun Überweisungen zu Fachärzten ausgestellt.

Im vom Beklagten weiterhin beigezogenen Befundbericht von Dr. Sch ..., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 08.04.1994 ist im wesentlichen gleichtlautend wie in seinem Arztbrief an Dr. K ... ausgeführt, im Vordergrund der Beschwerden stünden die Gefühlsstörung der rechten Körperseite, die Kraftminderung der rechten Hand sowie intermittierend auftretende Schmerzen im Bereich der Rückenpartie. Es liege eine klopfempfindliche LWS mit Myogelosen paravertebral vor, aber keine Paresen, Atrophien. Bei der Klägerin liege eine reaktiv-subdepressive Stimmung vor. Sie sei affektlabil, im Antrieb vermindert. Auch nach dem durchgeführten EEG würden sich keine sicheren Hinweise auf einen cerebralen Prozess ergeben. Dr. R ..., Facharzt für Orthopädie, bei dem die Klägerin nur am 28.03.1994 vorstellig geworden war, hat ein chronisches vertebragenes Schmerzsyndrom bei muskulärer Dysbalance angegeben. Auf Nachfrage zur Gehfähigkeit wurde von Dr. K ... unter dem 23.10.1994 berichtet, die Klägerin könne nach ihren eigenen Angaben ausserhalb der Wohnung nur sehr langsam an einem Stützstock gehen. Die Strecke betrage nach ihren Angaben maximal 500 bis 1.000 m, dann hätte sie keine Kraft mehr in den Beinen.

Der Beklagte hat den Widerspruch sodann mit Widerspruchsbescheid vom 15.05.1995 zurückgewiesen. Die eingeholten Befundberichte der Dres. K ... und Sch ... wie auch die Unterlagen des Klinikums K ... sowie die versorgungsärztlichen Stellungnahme hätten die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung bestätigt. Die Behinderungen und der GdB seien in Übereinstimmung mit den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP), herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 SchwbG in Verbindung mit § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und den hierzu ergangenen Verwaltungsvorschriften vollständig erfasst und mit einem GdB von 30 richtig bewertet. Die weiteren im Widerspruch geltend gemachten Behinderungen hätten keine Berücksichtigung finden können, weil sie keinen Einzel-GdB von wenigstens 10 bedingten und damit keine Behinderung im Sinne des SchwbG darstellten. Auch die Vergabe von Merkzeichen komme nicht in Betracht, weil keine Schwerbehinderteneigenschaft mit einen GdB von 50 vorliege.

Gegen den mit Einschreiben am 17.05.1995 zur Post aufgegebenen Widerspruchsbescheid richtete sich die am 13.06.1995 beim Sozialgericht erhobene Klage. Neben den Problemen mit dem Haus und den Nachbarn schilderte die Klägerin folgende gesundheitliche Beschwerden: Sie habe Leberschmerzen, die vielleicht heute noch aus einer durchgemachten Gelbsucht resultierten. Sie habe zwei Zysten, eine in der Niere, eine in der Leber oder Lunge. Sie leide an Magenbeschwerden wie auch an Blasen- und Darmschwäche, Durchblutungsstörungen vom Zeh bis zum Kopf, oft mit Sehstörungen, sowie Hautausschlag. Wegen eines Bruchs sei eine Zehe steif. Die rechte Hand sei nur noch wenig gebrauchbar. Das Laufen werde immer schmerzhafter. Sie könne nur noch kurze Strecken mit einer Gehhilfe bewältigen. Die Rückenbeschwerden seien oft so stark, dass sie ohnmächtig werde und umfalle. Dadurch habe sie sich schon mehrere Verletzungen zugezogen. Sie habe Gelenk- und Gliederschmerzen, Schweißausbrüche, Kopfschmerzen und Schlafstörungen.

Das Sozialgericht hat zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts Befundberichte eingeholt. Dr. F ..., Facharzt für Chirurgie, hat unter dem 18.06.1996 angegeben, die Klägerin im Zeitraum vom 28.09.1992 bis 19.03.1996 behandelt zu haben. Von ihm wurden folgende Diagnosen gestellt: 29.09.1992: Zehenfraktur, 29.04.1993: Prellung rechte Schulter, 12.06.1995: Zustand nach Sturz mit Prellung rechte Schulter, rechte Hand und rechtes oberes Sprungelenk, 10.11.1995: erneuter Sturz mit Schmerz und Schwellung rechtes Schultergelenk, linker Arm frei beweglich, Prellung rechtes Kniegelenk und linkes Schultergelenk, 15.12.1995: Schultersteife, ab 15.01.1996: Behandlung der Schulterproblematik und rechter Fuß. Es liege eine Verschlechterung des Gesamtbefundes vor. Die Orthopädin Dr. S ... hat am 28.03.1996 die Diagnose einer reflektorischen Schultersteife nach Distorsion gestellt.

Dr. K ... hat im Befundbericht vom 27.06.1996 angegeben, Facharztberichte lägen ihr zur Zeit nicht vor. Das rechte Schultergelenk sei in allen Ebenen in der Beweglichkeit eingeschränkt. Es liege ein chronischer Schmerzzustand bei Osteoporose und degenerativen Veränderungen im Bewegungsapparat und auch eine depressive Verstimmung vor. Auch sei zeitweise Harninkontinenz angegeben worden. Der Allgemeinzustand verschlechtere sich laufend, insbesondere liege eine Verschlechterung der Beweglichkeit im rechten Schultergelenk vor. Von ihr wurden daneben ältere Krankenunterlagen aus den Jahren 1982 bis 1996, insbesondere über Röntgenuntersuchungen vorgelegt, auf die wegen der näheren Einzelheiten verwiesen wird. Beigefügt war weiterhin der an sie gerichtete Arztbrief von Dr. Sch ..., Facharzt für Orthopädie in der Poliklinik M ..., vom 10.07.1995, in dem folgende Diagnosen mitgeteilt wurden: Osteoporose der Wirbelsäule, mittelgradige Veränderungen der BWS, leichte Skoliose der Wirbelsäule, Zustand nach älterem Deckplatteneinbruch, Iliosakralgelenksarthrose beidseits. Wegen der Einzelheiten des Langzeit-EKGs vom 10.11.1994 ohne pathologischen Befund wird auf den ärztlichen Kommentar von Dr. N ... verwiesen. Dr. Sch ... hat in seinem Befundbericht vom 19.07.1996, nach dem die Klägerin letztmalig am 27.04.1994 bei ihm vorstellig geworden war, seine früheren Angaben wiederholt.

Auf Anregung des Beklagten hat das Sozialgericht weiterhin einen Befundbericht der Orthopädin Dr. S ... vom 25.10.1996 eingeholt, die im wesentlichen berichtet hat, die Gelenksteifen sowie der Schulterschmerz hätten sich verstärkt und sich auch die Beweglichkeit der Schultergelenke, insbesondere nach dem Sturz im November 1995, verschlechtert.

Das Sozialgericht hat schließlich ein Gutachten auf orthopädischem Fachgebiet von Dr. H ..., Facharzt für Orthopädie in C ..., eingeholt. Im Gutachten vom 23.04.1997 nach Untersuchung vom 18.04.1997 ist ausgeführt, die Klägerin sei schwer zu untersuchen gewesen, spanne dagegen und sei weinerlich-depressiv gestimmt gewesen. Sie habe das Untersuchungszimmer mit einem Gehstock betreten. Das Schultergelenk links sei frei beweglich gewesen, im Bereich der rechten Schulter eingeschränkt. Bei der Klägerin liege ein vertebragenes Schmerzsyndrom der HWS bei geringen degenerativen Veränderungen und mäßiger Osteoporose, ein vertebragenes Schmerzsyndrom der LWS bei Zustand nach alter Wirbelkörperfraktur L 2 und Osteoporose vor. Weitere ernstliche Befunde von seitens des Bewegungsapparates seien nicht zu erheben gewesen. Hingegen bestehe eine deutliche Störung des seelischen Gleichgewichts mit depressiver Stimmungslage bei ausgesprochen weinerlicher Grundstimmung. Der GdB sei mit 30 zutreffend bewertet.

Die Klägerin habe angegeben, nur wenige hundert Meter laufen zu können und insbesondere Probleme bei der Bewältigung von Stufen zu haben. Aus orthopädischer Sicht sei von seiten der Wirbelsäule, der Gelenke und des neurologischen Zustandes ohne Lähmungszeichen kein Grund für eine Gehminderung zu erkennen. Diese sei vielmehr auf den allgemeinen Körperzustand, insbesondere durch die depressive Stimmungslage bedingt. Auch eine ständige Begleitung sei aus orthopädischer Sicht nicht notwendig. Ein neurologisch-psychiatrischer Befund müsse ggf. fachärztlich geklärt werden.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 20.10.1997 hat die Klägerin sodann vorgebracht, Dr. F ... habe wegen eines Unfalls vor etwa 1 ½ Jahren im Rahmen einer Begutachtung für die Unfallversicherung für das rechte Schultergelenk einen Schaden von 30 v.H. festgestellt. In dem beigezogenen Gutachten von Dr. F ... vom 10.02.1997 wegen des Unfallereignisses vom 10.11.1995, erstellt für die A ... Versicherung nach Untersuchung vom 07.02.1997, sind als verbliebene Unfallfolgen eine Versteifung des rechten Schultergelenkes erheblichen Grades unter Mitbeteiligung der Rotation sowie ein röntgenologisch nachweisbarer, ggf. gering vermehrter Verschleiß im rechten Schultergelenk bezeichnet. Wegen der Werte nach der Neutral-Null-Methode wird auf Bl. 123 der SG-Akte verwiesen.

Der Beklagte hat daraufhin ein Vergleichsangebot mit zusätzlicher Feststellung der Behinderung "Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenks" und einem GdB von 40 ab 01.02.1997 unterbreitet, das die Klägerin nicht angenommen hat. Nach dem Gutachten von Dr. F ... liege eine deutliche Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenkes, aber keine Versteifung erheblichen Grades vor. Für die Bemessung des unfallbedingten Körperschadens im Rahmen der privaten Unfallversicherung seien andere Bewertungsmaßstäbe als nach dem SchwbG zugrunde zu legen. Nach den von Dr. F ... gemessenen Werten, die zum Teil abweichend von Dr. H ... seien, liege eine Einschränkung vor allem in der Abduktion vor und bedingten einen GdB von 20, so dass sich ein Gesamt-GdB von 40 ab 2/97 ergebe.

Im weiteren Verfahren hat sich die Klägerin anwaltlich vertreten lassen. Das Sozialgericht hat sodann mehrfach Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt, so auf den 17.05.1999, auf den 14.07.1999 und auf den 29.09.1999, die jeweils aufgrund von Anträgen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin verlegt wurden. Ausweislich der durch Beschluss vom 24.12.1999 berichtigten Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 14.12.1999 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin gegen den zur Sitzung herangezogenen ehrenamtlicher Richter Ernstberger einen Befangenheitsantrag gestellt. Gegen ihn und seine Ehefrau habe er im Auftrag eines Mandanten einen Rechtsstreit geführt, weshalb er ihn für befangen halte. Das Mandat habe sich auf das Erkenntnisverfahren und die Zwangsvollstreckung bezogen. Vom Vorsitzenden der 10. Kammer wurde darauf hingewiesen, dass im Falle einer Vertagung eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung beabsichtigt sei. Seine Frage wegen eines Befangenheitsantrages zu seiner Person wurde von den Beteiligten verneint. Die Verhandlung wurde sodann vertagt. Zu dem Befangenheitsantrag hat das Sozialgericht keine weiteren Maßnahmen veranlaßt.

Mit Gerichtsbescheid vom 14.12.1999 (dem Tage der mündlichen Verhandlung) hat das Sozialgericht den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, bei der Klägerin ab Februar 1997 einen Grad der Behinderung von 40 bei folgenden Behinderungen festzustellen: Behinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen, Wirbelbruch, Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenks. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Den GdB wegen einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen habe der Beklagte entsprechend den maßgeblichen AHP bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten zutreffend mit 30 bewertet. Dies ergebe sich insbesondere auch aus dem Gutachten von Dr. H ... Aufgrund des am 10.11.1995 erlittenen Unfalls, welcher als Folge die Bewegungsfähigkeit des rechten Schultergelenks beeinträchtige, sei ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen. Es liege eine Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit vor (Nr. 26.18, S. 144 der AHP). Die weiteren von der Klägerin vorgebrachten Beeinträchtigungen wie Leberschmerzen, Zysten, häufige Magenbeschwerden sowie häufige Blasen- und Darmschwäche, Durchblutungsstörungen, Schweißausbrüche und Schlafstörungen würden keinen Einzel-GdB von 20 bedingen, der überhaupt zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB führen könnte. Eine Addition der Einzel-GdB verbiete sich nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Ausgehend vom höheren GdB von 30 sei eine Erhöhung auf 40 zu treffen gewesen.

Ein Anspruch auf die Feststellung des Merkzeichen "G" sei nicht gegeben. Die Klägerin sei in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich eingeschränkt. Die in Nr. 30 Abs. 3 der AHP geforderten Voraussetzungen eines GdB von 40 bzw. 50 für die unteren Extremitäten bzw. die Lendenwirbelsäule lägen nicht vor. Der Klägerin stehe auch das Merkzeichen "B" nicht zu. Gemäß Nr. 32 der AHP seien die Voraussetzungen für eine ständige Begleitung des Behinderten dann erfüllt, wenn er infolge der Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sei. Da schon die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" nicht gegeben seien und die Klägerin auch keinen desorientierten Eindruck in der mündlichen Verhandlung vom 14.12.1999 gemacht habe, seien die Voraussetzungen nicht erfüllt.

Gegen den am 17.12.1999 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 04.01.2000 eingelegte Berufung der Klägerin. Sie hat eine fehlerhafte Verfahrensweise des Sozialgerichts gerügt, weil ohne die Gewährung rechtlichen Gehörs und ohne Entscheidung über den Befangenheitsantrag noch am Tage der mündlichen Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden worden sei. Zur Sache wurde getragen, aus der Wirbelsäulenschädigung ergebe sich, wie der Gutachter Dr. H ... bestätigt habe, ein GdB von mindestens 30. Aus dem Unfall vom 10.11.1995 resultiere eine Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit des rechten Schultergelenks mit einem GdB von 30. Eine Reduzierung auf 20 sei nicht angezeigt. Auch die von der Klägerin vorgetragenen weiteren Beeinträchtigungen wie Leberschmerzen, Zysten, häufige Magenbeschwerden, häufige Blasen- und Darmschwächung, Durchblutungsstörungen sowie Schweißausbrüche und Schlafstörungen rechtfertigten allemal ein Einzel-GdB von 20. Nach der Legaldefinition des Grades der Behinderung sei nicht auf den regelwidrigen Zustand abzustellen, sondern auf die Auswirkungen der Funktionsstörungen. Die von der Klägerin vorgetragenen Störungen wirkten sich in einer erheblichen gesellschaftlichen Beeinträchtigung aus.

Die Klägerin habe auch Anspruch auf das Merkzeichen "G". Sie sei auf einen Gehstock angewiesen, ohne den sie bewegungsunfähig sei. Die Handhabung des Stockes sei wegen der eingeschränkten Bewegungsfähigkeit des Schultergelenkes beeinflußt. Nur schwer objektivierbare, jedoch nicht in Zweifel zu ziehende weitere Einflüsse wie die Durchblutungs- und Schlafstörungen bedingten eine Einschränkung der Gehfähigkeit mit einem GdB von wenigstens 40. Das Merkzeichen "B" sei der Klägerin ebenso zu Unrecht versagt worden. Aus dem Grad der Behinderung ergebe sich ohne weiteres, dass der Klägerin eine Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel nur mit Hilfspersonen möglich sei, um den erheblichen Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr begegnen zu können.

Zur Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat Befundberichte beigezogen. Dr. F ... hat im dem Befundbericht vom 17.04.2000 angegeben, im Vordergrund stehe die Symptomatik am rechten Schultergelenk. Am 02.03.1999 habe eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung am rechten und am linken Schultergelenk mit erheblich eingeschränktem Rückgriff vorgelegen (Rotation etwa 50 Grad beidseits, Prüfung mit abgespreizten Armen nicht durchführbar und aussagefähig, Abspreizen im Schultergelenk rechts 40 Grad, links 30 Grad, Vorwärtsheben rechts 65 Grad, links 50 Grad, Rückwärtsheben rechts 15 Grad, links 20 Grad. Außerdem habe ein weicher Daumenballen links vorgelegen, Verhärtung im Grundgelenk, Beugung vermindert, Faust nicht möglich, Distanz beidseits zur distalen Hohlhandfalte etwa 1,5 cm. Die Befunde seien wechselnd und inkonstant. Die Frage nach einer Gehstrecke von 2 km in 30 min sei nach den letzten Unterlagen zu verneinen. Bei der Orthopädin Dr. S ... war die Klägerin zuletzt am 12.03.1998 vorstellig geworden, so dass keine aktuelle Befundmitteilung möglich war.

Bei Dr. K ... war die Klägerin ausweislich des Befundberichts vom 20.04.2001 zuletzt am 09.03.1999 in Behandlung. Ihre Mitteilungen entsprechen im wesentlichen den Angaben in den von ihr zuvor abgegebenen Befundberichten. Nach den Angaben der Klägerin könne sie 2 km nicht in 30 min zurücklegen und auch keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Dr. V ..., Fachärztin für Allgemeinmedizin, hat im Befundbericht vom 01.05.2000 mitgeteilt, die Klägerin im Zeitraum vom 04.05.1999 bis 20.03.2000 behandelt zu haben. Die Klägerin habe über starke Beschwerden im Bereich der HWS, BWS und LWS geklagt. Sie könne ohne Gehilfe auf der Straße nicht mehr laufen. Auch habe sie über ein Taubheitsgefühl im Bereich beider Arme, von der Schulter ausgehend bis in die Fingerspitzen berichtet. Von der Ärztin wurden folgende Diagnosen gestellt: Osteoporose der LWS, Zustand nach Fraktur Mittelfuß rechts 1998, Zustand nach Fraktur LWK 2, Harninkontinenz, schwere Gonarthrose, Coxarthrose beidseits, Hypercholesterinämie. Der GdB sei mit 50 bis 70 einzuschätzen, weil alle drei Wirbelsäulenabschnitte betroffen seien und eine zunehmende Hinderung aufgrund der Osteoporose vorhanden sei. Die Gehstrecke betrage maximal 500 m mit intermittierendem Halten. Wegen der Haltlosigkeit aufgrund der Deformierungen der LWS und im Bereich beider Beine und auch, weil die Klägerin keinen sicheren Auftritt infolge der ausgeprägten Gefühllosigkeit habe, sei eine Gleichstellung der Behinderung mit einer Hüft-, Knie-, oder Fußgelenksversteifung in ungünstiger Stellung gerechtfertigt. Die Klägerin benötige beim Einsteigen in öffentliche Verkehrsmittel sowie beim Aussteigen der Hilfe.

Im weiterhin eingeholten Befundbericht von Dr. Sch ... vom 25.04.2000 sind als Diagnosen eine reaktiv-depressive Verstimmung und ein polyradikuläres Wurzelreizsyndrom angegeben. In dem von der Klägerin vorgelegten Arztbrief von Dr. S ... vom 22.05.2000 wird über eine von der Klägerin angegebene Haltlosigkeit im linken Bein berichtet, auch knicke sie häufig bei unebenen Strecken mit dem Kniegelenk nach vorne um. Es sei eine auffällige Quadricepsatrophie links wie auch eine deutliche muskuläre Schwäche ohne radikuläre Symptomatik zu erkennen. Beide Hüftgelenke seien endphasisch bewegungseingeschränkt gewesen, eine sichere radikuläre Symptomatik habe nicht vorgelegen.

Der Senat hat Dr. G ..., Facharzt für Orthopädie/Chirotherapie/Spezielle Schmerztherapie mit Sitz in C ..., mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 14.09.2000 ist ausgeführt, die Klägerin habe mit Gehstock bei leidendem Gangbild und demonstrativ erschwert, die Praxis betreten. Eine normale Untersuchung sei wegen der erheblichen Abwehrspannung der Klägerin nicht möglich gewesen. In Bezug auf den Bereich der Lendenwirbelsäule hat der Sachverständige folgende Beweglichkeiten festgestellt: Fingerbodenabstand: 32 cm, Zeichen nach Schober: 10/13 cm, Seitneigung rechts/links: 10/0/10 Grad, Rückneigung: 10 Grad. Im Bereich der Brustwirbelsäule wurden folgende Befunde erhoben: Zeichen nach Ott: 30/30 cm, Rotation rechts/links: 20/0/40 Grad, Seitneige rechts/links: 20/0/20 Grad, Atembreite im 4. Intercostalraum: 2 cm. Während den Entkleidens seien die Bewegungsausmaße besser als bei der Untersuchung gewesen. Bezüglich der Halswirbelsäule ist die Bewegung wie folgt gemessen: Drehen rechts/links: 60/0/60 Grad, Seitneigen rechts/links: 30/0/30 Grad, Vorneigen/Rückneigen: 40/0/30 Grad, Kinnsternumabstand: 1 cm.

Im Bereich der Schultergelenke liege eine Schultersteife mit Einschränkung der Beweglichkeit in allen Ebenen und DS der Kapselstrukturen und des subacromiellen Raumes beidseits vor. Die Bewegungsmaße der Ellenbogengelenke, der Handgelenke, der Hüftgelenke sowie des oberen und unteren Sprungelenks wie auch der Zehen seien im Normbereich. Lähmungen, Sensibilitätsstörungen seien nicht vorhanden, die Durchblutungsverhältnisse unauffällig gewesen. Als Diagnosen wurden angegeben: Funktionsstörung der Brustwirbelsäule, Lendenwirbelsäule leichten bis mäßigen Grades bei Osteoporose, Schultersteife beidseits mit Funktionseinschränkungen leichten bis mäßigen Grades, Verdacht auf psychogene Gangstörung mit massiver Sturzneigung und Unsicherheitsgefühl, Verdacht auf endogene Depression.

Eine schwere Skoliose oder Kyphoskoliose liege überhaupt nicht vor. Die dargestellten Funktionsstörungen der Wirbelsäule seien demonstrativ vorgeführt worden und durch eine psychische Erkrankung gefärbt. Eine schwere Arthrose, wie von der Hausärztin angegeben, liege nicht vor. Die von der Klägerin beschriebenen Symptome gründeten sich nicht in orthopädischen Erkrankungen. Die Benutzung der Unterarmstütze sei aus orthopädischer Sicht nicht erklärbar. Auch die Voraussetzungen der Merkzeichen "G" und "B" seien insofern nicht erfüllt. Die Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten seien mit einem GdB von 30 und die Bewegungseinschränkungen beider Schultergelenke mäßigen Grades bei noch erhaltender Dreh- und Spreizfähigkeit mit einem GdB von 20 zu bewerten. Ob eine psychogene Gangstörung mit schweren Gleichgewichtsstörungen eine anzuerkennende Behinderung sei, könne er als Orthopäde nicht einschätzen.

Der Senat hat weiterhin ein Gutachten auf psychiatrischem Fachgebiet bei Dr. W ..., Kreiskrankenhaus M ..., Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, eingeholt. Der Sachverständige hat im Gutachten vom 28.03.2001 nach Untersuchung vom 12.02.2001 die Diagnose einer psychogenen Gangstörung im Sinne einer dissoziativen Bewegungsstörung mit massiver Sturzneigung, Unsicherheitsgefühl bei histrionischer Persönlichkeitsstörung gestellt. Diese psychiatrische Symptomatik bestehe seit 1997. Eine endogene Depression liege nicht vor. Eine dissoziative Bewegungsstörung bedeute ein vollständiger oder teilweiser Verlust der Bewegungsfähigkeit eines Körpergliedes. Die Lähmung sei im vorliegenden Fall partiell. Es könne zu übertriebenen Schütteln und anderen übertriebenen Verhaltensweisen kommen. Bezüglich der histrionischen Persönlichkeitsstörung sei von folgenden Aspekten auszugehen: Dramatisierung der eigenen Person, theatralisches Verhalten, übertriebener Ausdruck von Gefühlen, leichte Beeinflußbarkeit, oberflächliche und labile Affektivität, Verlangen nach Anerkennung. Die Behinderung sei entsprechend den Anhaltspunkten den Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen einzuordnen (S. 60 der AHP). Der Einzel-GdB sei wegen der stärker behindernden Störungen hiernach mit 40 anzunehmen. Mit einem GdB von insgesamt 40 seien die Funktionsbeeinträchtigungen angemessen bewertet.

Die Vergabe des Merkzeichen "G" sei zu befürworten. Die psychogene Störung sei den sog. "Anfällen" gleichzusetzen. Aus psychiatrischer Sicht könne der Klägerin eine Gehstrecke von 2 km in 30 min nicht zugemutet werden. Diese sei vielmehr mit 500 m in 30 min mit häufigem Anhalten zu bewerten. Hinsichtlich der orthopädischen Beurteilung habe Dr. G ... sicherlich Recht. Wegstrecken im Ortsverkehr könnte die Klägerin ohne erhebliche Gefahr für sich und andere nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten zurücklegen. Es bestünde die Gefahr, dass sich die Klägerin aus Gründen der Demonstration ihrer seelischen Beschwerden aufgrund eines aufmerksamkeitssuchenden Verhaltens häufiger demonstrativ hinstürzen lasse. Es könne daher durchaus sein, dass sich die Klägerin ernsthaft verletze. Gleichwohl sei die Klägerin nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen. Dies würde zu einem weitergehend regressivem Verhalten der Klägerin führen. Sie sei durchaus in der Lage, sich selbst alleine zu versorgen und sich selbst mit einem öffentlichen Verkehrsmittel zu bewegen. Sie benötige insofern die Anerkennung, dass sie gehbehindert sei, weshalb das Merkzeichen "G" indiziert sei, jedoch nicht das Merkzeichen "B".

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 14.12.1999 abzuändern sowie den Bescheid des Beklagten 14.02.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.05.1995 teilweise aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihr als Behinderungen festzustellen: Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen, Wirbelbruch, Bewegungseinschränkung des rechten Schultergelenks sowie einen Grad der Behinderung von 50 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B".

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Auch nach den eingeholten Gutachten sei der Gesamt-GdB mit 40 zutreffend festgestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen sowie auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft und zulässig, erweist sich jedoch als unbegründet. Der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 14.12.1999 ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Klägerin steht weder ein Anspruch auf die Zuerkennung eines GdB von mindestens 50 noch auf die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B" zu.

In der Berufungsinstanz fortwirkende Verfahrensverstöße des Sozialgerichts, insbesondere wegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs oder aber wegen der unterbliebenen Bearbeitung des gegen den ehrenamtlichen Richter gestellten Befangenheitsantrages, die eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht beim dem gegebenen Verfahrensstand zwingend erforderlich machen könnten, liegen nicht vor. Gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) steht die Entscheidung des Landessozialgerichts das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an die Sozialgericht zurückzuverweisen oder in der Sache selbst zu entscheiden im pflichtgemäßen Ermessen des Senats. Mit Blick auf die vom Senat durchgeführten Ermittlungen und die Dauer des Rechtsstreits erscheint eine Zurückverweisung an das Sozialgericht, ohne dass es einer eingehender Erörterung der geltend gemachten Verfahrensverstöße bedarf, nicht tunlich.

Statthafte Klageart für das Klagebegehren ist eine mit der Anfechtung des Verwaltungsaktes des Beklagten einhergehende Verpflichtungsklage als Sonderfall der Leistungsklage (vgl. BSG, Urteil vom 12.04.2000, Az.: B 9 SB 3/99 R). Für eine derartige Klage ist der Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz maßgeblich (Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl., § 54 Rdnr. 34). Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin sind daher die Bestimmungen des am 01.07.2001 in Kraft getretenen Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) über die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.06.2001 (BGBl. I 1046).

Gemäß § 69 Abs. 1 und 4 SGB IX stellt die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständige Behörde das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Ebenso trifft sie diejenigen Feststellungen, die, neben dem Vorliegen einer Behinderung, für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen maßgeblich sind. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Bei mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Funktionsbeeinträchtigungen ist deren Gesamtauswirkung maßgeblich (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).

Der Beklagte hat dabei im Verfügungssatz eines Bescheides nach § 69 SGB IX nur das Vorliegen einer unbenannten Behinderung und den GdB festzustellen. Die dieser Feststellung im Einzelfall zu Grunde liegende Gesundheitsstörung und die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen sind demgegenüber lediglich in der Begründung des Verwaltungsaktes anzugeben. Insoweit ist in den Bestimmungen des SGB IX keine Änderung der Rechtslage gegenüber dem Schwerbehindertengesetz, das bis zum 30.06.2001 galt (vgl. dazu BSG, Urteile vom 24.06.1998, Az.: B 9 SB 18/97 R, B 9 SB 20/97 R, B 9 SB 1/98 R und B 9 SB 17/97 R), eingetreten.

Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 3 bis 5 SGB IX ist die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung als GdB nach Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen. Für den GdB gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG normierten Maßstäbe entsprechend. Für die Beurteilung ist danach maßgeblich, in welchem Ausmaß die aus einer Gesundheitsstörung hervorgehenden Beeinträchtigungen den Betroffenen in Arbeit, Beruf und Gesellschaft behindern. Dabei sind einerseits besonders berufliche Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, andererseits finden auch Einschränkungen bei der Ausführung von Tätigkeit im Haushalt oder der Freizeit Berücksichtigung. Das SGB IX gilt gleichermaßen für Berufstätige wie für Nichtberufstätige.

Grundlage für die inhaltliche Bemessung und den Umfang einer Behinderung sowie die konkrete Bestimmung des GdB sind im Hinblick auf die Gleichbehandlung aller behinderten Menschen die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP), die das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung aktualisiert im Jahr 1996 herausgegeben hat. Die Rechtsprechung der Sozialgerichte erkennt die AHP als eine der Entscheidungsfindung dienende Grundlage der Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft zur Bemessung sowohl des Umfangs als auch der Schwere der Beeinträchtigung an. In den AHP ist der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung der Behinderungen jeweils aktualisiert wiedergegeben und ermöglicht auf diese Weise eine nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Rechtsprechung sowohl des Umfangs als auch der Schwere der Beeinträchtigungen, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz genügt. Eine Abweichung von den AHP kann daher nur in medizinisch begründeten Ausnahmefällen in Betracht kommen. Ansonsten ist es nicht zulässig, eine vom Gutachter festgestellte Behinderung mit einem GdB-Wert zu bemessen, der nicht im Einklang mit den Richtlinien der AHP steht. Das Bundessozialgericht hat mehrfach die Bedeutung der AHP auf das Gerichtsverfahren herausgestellt und den AHP den Charakter antizipierter Sachverständigengutachten beigemessen (vgl. insoweit BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1, 5 und 6). Vorliegend hat der Senat keine Bedenken, die AHP seiner Entscheidung zu Grunde zu legen. Sie sind gerade auch für die Rechtsanwendung im Rahmen des SGB IX maßgeblich.

Nach dem Gesamtergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere nach den Gutachten von Dr. G ... und Dr. W ... ist nachgewiesen, daß die Klägerin an folgenden, im Sinne der AHP relevanten Gesundheitsstörungen, leidet: Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten und Bewegungseinschränkungen beider Schultergelenke mäßigen Grades bei noch erhaltener Dreh- und Spreizfähigkeit, die mit einem Einzel-GdB von 30 und 20 zu bewerten sind (vgl. AHP Nr. 26.18 S. 140 und Nr. 26.18 S. 144). Die psychogene Gangstörung im Sinne einer dissoziativen Bewegungsstörung bei histrionischer Persönlichkeitsstörung (ICD 10 Diagnose) ist entsprechend den AHP Nr. 26.3, Seite 60, als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähgikeit mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten. Der Senat schließt sich insoweit den Ausführungen der Sachverständigen Dr. G ... im Gutachten vom 14.09.2000 und von Dr. W ... im Gutachten vom 28.03.2001 an. Die Gutachten sind in der Erhebung der Befunde, in der würdigenden Bewertung der Vorbefunde sowie in der Beantwortung der Beweisfragen sachkundig erstellt, nachvollziehbar und im Ganzen schlüssig.

Die benannten Funktionsstörungen bedingen einen Gesamt-GdB von 40. Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB ist gemäß Nr. 19 der AHP bei Vorliegen mehrerer Funktionsstörungen zwar der jeweilige Einzel-GdB anzugeben. Maßgeblich ist jedoch der Gesamt-GdB, welcher nur für den Gesamtzustand der Behinderung festgestellt wird, nicht für Einzelfunktionsbeeinträchtigungen. Bei den Einzel-GdB-Werten handelt sich lediglich um Einsatzgrößen, bei denen die Einschätzung des Gesamt-GdB vorbereitet, andererseits nachvollziehbar begründet und damit überprüfbar gemacht wird. Darin erschöpft sich die Bedeutung der Einzel- GdB. Sie gehen als bloße Meßgrößen für mehrere zugleich vorliegende Funktionsbeeinträchtigungen restlos im Gesamt-GdB auf und erwachsen nicht in Rechtskraft.

Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsstörungen zusammen dürfen nach Nr. 19 Abs. 1 AHP die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtschau unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Auch ist es bei leichten Behinderungen mit einem Teil-GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist daher in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt. Im Hinblick auf alle weiteren Funktionsstörungen ist zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsstörungen mehrere Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist zu beachten, wie weit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob sich eine Behinderung auf eine andere nachteilig auswirkt, wie weit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden und ob das Ausmaß einer Behinderung durch eine hinzutretende Gesundheitsstörung nicht verstärkt wird. Vor diesem Hintergrund folgt der Senat der gutachterlichen Einschätzung von Dr. W ... mit einem Gesamt-GdB von 40, da sich die Wirbelsäulen- und Schultergelenksfunktionsbeeinträchtigungen mit der psychogenen Gangstörung überschneiden.

Der von der Klägerin begehrte GdB von 50, mit dem die Stufe zur Schwerbehinderung überschritten wird, ist nicht gerechtfertigt. Denn hierzu sind bei der Gesamtwürdigung der verschiedenen Behinderungen Vergleiche mit Gesundheitsschäden anzustellen, zu denen in der GdB-Tabelle feste GdB-Werte angegeben sind. Ein Gesamt-GdB von 50 kann beispielsweise nur dann angenommen werden, wenn die Gesamtauswirkung der verschiedenen Behinderungen so erheblich sind wie etwa beim Verlust einer Hand oder eines Beines im Unterschenkel, bei einer vollständigen Versteifung großer Abschnitte der Wirbelsäule, bei Herz- und Kreislaufschäden oder Einschränkungen der Lungenfunktion mit nachgewiesener Leistungsbeeinträchtigung bereits bei leichter Belastung, bei Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung. Eine behinderungsbedingte Gesamtbeeinträchtigung von diesem Ausmaß liegt bei der Klägerin indes nicht vor.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B". Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos sind oder gehörlos sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekenntzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 unentgeltlich zu befördern. Das Gleiche gilt im Nah- und Fernverkehr im Sinne des § 147 für die Beförderung einer Begleitperson eines schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 145 Abs. 1, sofern eine ständige Begleitung notwendig und dies im Ausweis des schwerbehinderten Menschen eingetragen ist (§ 145 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX). Gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt und hat damit Anspruch auf unentgeltliche Beförderung nach Maßgabe des § 145 SGB IX, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Beschwerden oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Ständige Begleitung ist bei schwerbehinderten Menschen notwendig, die bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind (§ 146 Abs. 2 SGB IX). Diese für die Feststellung der Merkzeichen "G" und "B" in § 146 Abs. 1 und 2 SGB IX normierten Voraussetzungen, die in den Nrn. 30 und 32 der AHP eine nähere Ausgestaltung erfahren haben, sind indes nicht mehr zu prüfen. Einem Anspruch der Klägerin auf Feststellung der begehrten Merkzeichen steht schon entgegen, daß sie nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis der Schwerbehinderten gehört, weil bei ihr ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 nicht vorliegt (§ 2 Abs. 2 SGB IX).

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved