L 1 SB 48/01

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 2 SB 73/00
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 SB 48/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 16.07.2001 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Der am ... geborene Kläger beantragte am 26.05.1999 unter Benennung von Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen sowie Leistungsschwäche in den Beingefäßen die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises.

Die Versorgungsverwaltung des beklagten Freistaats holte bei dem Facharzt für Pharma- und Toxikologie Dr. B ... einen Befundbericht und weitere ärztliche Unterlagen ein, aus denen hervorgeht, dass die oberen Extremitäten des Klägers altersgerecht beweglich sind; im Bereich der unteren Extremitäten sei der Kläger geringgradig eingeschränkt; bei den Kniegelenken bestehe ein arthrotisches Reiben ohne wesentliche Bewegungseinschränkungen; Seiltänzer- und Zielblindgang seien sicher; der Kläger befinde sich in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand; Zeichen kardiopulmunaler Dekompensation seien nicht registrierbar.

Daraufhin erteilte der Beklagte dem Kläger unter dem 08.09.1999 einen ablehnenden Bescheid; zwar bestehe eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und eine Leistungsschwäche der Beinvenen; allerdings werde hierdurch ein GdB von wenigstens 20 nicht erreicht.

Auf den Widerspruch zog der Beklagte eine radiologische Befundung bei, ließ den Kläger 07.03.2000 versorgungsärztlich untersuchen, und erteilte ihm sodann einen Teil-Abhilfebescheid (vom 28.03.2000) mit Feststellung eines GdB von 20 und folgenden Funktionsbeeinträchtigungen:

1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Nerven- und Muskelreizerscheinungen.
2. Leistungsschwäche der Beinvenen.

Den Widerspruch wies er mit Bescheid vom 15.06.2000 im Übrigen zurück.

Hiergegen hat sich die am 29.06.2000 erhobene Klage gerichtet, die der Kläger auf das Vorliegen einer beruflichen Beeinträchtigung gestützt hat.

Das Sozialgericht (SG) hat bei dem Direktor der orthopädischen Klinik und Poliklinik der Universität L ... Prof. Dr. v ... S ... ein Sachverständigengutachten beigezogen, das der Sachverständige unter dem 14.02.2001 erstattet hat. Auf orthopädischem Fachgebiet lasse sich ausschließlich im Bereich der Lendenwirbelsäule eine Erkrankung feststellen, die als Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz aufzufassen sei, und zwar eine Fehlform und Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule mit Bewegungseinschränkung ohne neurologische Ausfallserscheinungen. An der Lendenwirbelsäule finde sich zum einen eine Fehlform im Sinne einer leichtgradigen Rotation der Lendenwirbelkörper um die Wirbelsäulenlängsachse; dies führe zu einer geringen rechtskonvexen Seitausbiegung. Dazu passend falle in der klinischen Untersuchung ein leichter Lendenwulst rechts auf. Hinzu komme eine Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule, die vor allem die Etage zwischen dem 5. Lendenwirbelkörper und dem 1. Steißbeinwirbelkörper betreffe. Die Bandscheibenschädigung werde computertomographisch bestätigt. Klinisch resultiere hieraus eine mittelgradige Bewegungseinschränkung. Neurologische Ausfallserscheinungen lägen nicht vor. Die geäußerten Beschwerden seien durch die festgestellte Fehlform und Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule hinreichend erklärt. Nach den Anhaltspunkten sei der Grad der Behinderung mit 20 anzunehmen. Unter Mitberücksichtigung der venösen Abflussbehinderung, die mit 10 korrekt bewertet sei, ergebe sich der (Gesamt-)GdB mit 20.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage durch Gerichtsbescheid am 16.07.2001 abgewiesen. Beim Kläger stehe eine Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule im Vordergrund. Der Sachverständige habe festgestellt, an der Lendenwirbelsäule finde sich zum einen eine Fehlform im Sinne einer leichtgradigen Rotation der Lendenwirbelkörper um die Wirbelsäulenlängsachse; hinzu komme eine Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule; klinisch resultiere hieraus eine mittelgradige Bewegungseinschränkung; die geäußerten Beschwerden seien durch die festgestellte Fehlform und Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule hinreichend erklärt. Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit ergebe sich daraus ein Einzel-GdB von 20 (Nr. 26.18 S. 140 AHP). Die Leistungsschwäche der Beinvenen sei als chronisch-venöse Insuffizienz ohne wesentliche Stauungsbeschwerden mit einem GdB von 0 bis 10 einzuschätzen (Nr. 26.9 S. 91 AHP). In der Gesamtschau verbleibe es damit bei einem GdB von 20 (Nr. 19 Abs. 4 S. 35 AHP). Der Einwand des Klägers, es sei nicht berücksichtigt worden, wie sich die Behinderungen auf die berufliche Tätigkeit auswirkten, greife nicht durch, weil der GdB unabhängig davon festzustellen sei.

Gegen den per Einschreiben am 30.07.2001 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 28.08.2001 eingelegte Berufung. Der Kläger ist der Meinung, das im erstinstanzlichen Verfahren eingeholte Gutachten gebe seinen tatsächlichen Gesundheitszustand nicht genügend wider.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 16.07.2001 und den Teil-Abhilfebescheid vom 28.03.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.06.2000 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm einen höheren GdB als 20 zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er schließt sich der angefochtenen Entscheidung an.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und auf die beigezogene Verwaltungsakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft und sonst zulässig, jedoch unbegründet. Die angefochtene Entscheidung ist nicht zu beanstanden. Der streitbefangene Bescheid ist rechtmäßig. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 20 nicht zu.

Statthafte Klageart für das Klagebegehren ist eine mit der Anfechtung der Verwaltungsakte des Beklagten einhergehende Verpflichtungsklage als Sonderfall der Leistungsklage (vgl. BSG, Urteil vom 12.04.2000, Az.: B 9 SB 3/99 R). Für eine derartige Klage ist der Sach- und Streitstand zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz maßgeblich (Meyer-Ladewig, SGG, 6. Auflage, § 54 Rdnr. 34). Rechtsgrundlage für das Begehren des Klägers sind daher die Bestimmungen des am 01.07.2001 in Kraft getretenen Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) über die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.06.2001 (BGBl. I, S. 1046).

Gem. § 69 Abs. 1 SGB IX stellt die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständige Behörde das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) fest. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Bei mehreren sich gegenseitig beeinflussenden Funktionsbeeinträchtigungen ist deren Gesamtauswirkung maßgeblich (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).

Der Beklagte hat dabei im Verfügungssatz eines Bescheides nach § 69 SGB IX nur das Vorliegen einer unbenannten Behinderung und den GdB festzustellen. Die dieser Feststellung im Einzelfall zu Grunde liegende Gesundheitsstörung und die daraus folgende Funktionsbeeinträchtigungen und deren Auswirkungen sind demgegenüber lediglich in der Begründung des Verwaltungsaktes anzugeben. Insoweit ist in den Bestimmungen des SGB IX keine Änderung der Rechtslage gegenüber dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG), das bis zum 30.06.2001 in Kraft stand (dazu BSG, Urteile vom 24.06.1998, Az.: B 9 SB 18/97 R, B 9 SB 20/97 R, B 9 SB 1/98 R und B 9 SB 17/97 R), eingetreten.

Gem. § 69 Abs. 1 Satz 3 bis 5 SGB IX ist die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung als GdB nach Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen. Für den GdB gelten die im Rahmen des § 30 Abs. 1 BVG normierten Maßstäbe entsprechend. Für die Beurteilung ist danach maßgeblich, in welchem Ausmaß die aus einer Gesundheitsstörung hervorgehenden Beeinträchtigungen den Betroffenen in Arbeit, Beruf und Gesellschaft behindern. Dabei sind einerseits besonders berufliche Beeinträchtigungen zu berücksichtigen, andererseits finden auch Einschränkungen bei der Ausführung von Tätigkeit im Haushalt oder der Freizeit Berücksichtigung. Das SGB IX gilt gleichermaßen für Berufstätige wie für Nichtberufstätige.

Grundlage für die inhaltliche Bemessung und den Umfang einer Behinderung sowie die konkrete Bestimmung des GdB sind im Hinblick auf die Gleichbehandlung aller behinderten Menschen die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP), die das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung aktualisiert im Jahr 1996 herausgegeben hat. Die Rechtsprechung der Sozialgerichte erkennt die AHP als eine der Entscheidungsfindung dienende Grundlage der Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft zur Bemessung sowohl des Umfangs als auch der Schwere der Beeinträchtigung an. In den AHP ist der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen jeweils aktualisiert wiedergegeben und ermöglicht auf diese Weise eine nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Rechtsprechung sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch der Schwere der Beeinträchtigungen, die dem Gleichbehandlungsgrundsatz genügt. Eine Abweichung von den AHP kann daher nur in medizinisch begründeten Ausnahmefällen in Betracht kommen. Ansonsten ist es nicht zulässig, eine vom Gutachter festgestellte Behinderung mit einem GdB-Wert zu bemessen, der nicht im Einklang mit den Richtlinien der AHP steht. Das Bundessozialgericht hat mehrfach die Bedeutung der AHP auf das Gerichtsverfahren herausgestellt und den AHP den Charakter antizipierter Sachverständigengutachten beigemessen (vgl. insoweit BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1, 5 und 6). Vorliegend hat der Senat keine Bedenken, die AHP seiner Entscheidung zu Grunde zu legen. Sie sind gerade auch für die Rechtsanwendung im Rahmen des SGB IX maßgeblich.

Gemessen an diesen rechtlichen Kriterien sind weder die angefochtene Entscheidung des SG noch der angefochtene Bescheid zu beanstanden.

Ausweislich der sachverständigen Feststellungen besteht allein im Bereich der Lendenwirbelsäule eine Fehlform und Verschleißerkrankung mit Bewegungseinschränkung, die allerdings keine neurologischen Ausfallserscheinungen nach sich zieht. Der Sachverständige führt aus, dass beim Kläger an der Lendenwirbelsäule eine Fehlform im Sinne einer leichtgradigen Rotation der Lendenwirbelkörper um die Wirbelsäulenlängsachse besteht, die zu einer geringen rechtskonvexen Seitausbiegung führt. Hinzu kommt eine Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule, die vor allem die Etage zwischen dem 5. Lendenwirbelkörper und dem 1. Steißbeinwirbelkörper betrifft. Klinisch resultiert hieraus eine "mittelgradige" Bewegungseinschränkung ohne neurologische Ausfallserscheinungen, die im Bereich der Seitneigung vom Sachverständigen lediglich "seitengleich mäßiggradig" (20-0-20) qualifiziert wird. Weitere Funktionsbeeinträchtigungen liegen nach den Feststellungen des Sachverständigen aus orthopädischer Sicht nicht vor. Angesichts dieser Feststellungen ist es auch für den Senat nachvollziehbar und steht mit den AHP in Einklang, dass der Sachverständige wegen der Fehlform und Verschleißerkrankung der Lendenwirbelsäule einen Einzel-GdB von 20 und wegen der venösen Abflussbehinderung einen Einzel-GdB von 10 annimmt und nachfolgend zu einem GdB von 20 gelangt. Dies steht mit den AHP in Einklang, nach denen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen (vgl. Nr. 19 Abs. 4 S. 35 AHP).

Der Senat sieht sich zur Erhebung weiterer Ermittlungen nicht veranlasst. Das im erstinstanzlichen Verfahren eingeholte Sachverständigengutachten ist in sich schlüssig, zweifelsfrei und auch für den Senat nachvollziehbar. Entgegen der Meinung des Klägers bestehen Widersprüche zu dem im Verwaltungsverfahren beigezogenen Befundbericht und den dazu vorgelegten Anlagen nicht. Ausweislich der Befundmitteilungen des Facharztes für Pharma- und Toxikologie Dr. B ... sind die oberen Extremitäten des Klägers "altersgerecht beweglich". Bei den unteren Extremitäten ist der Kläger "geringgradig" eingeschränkt. Das arthrotische Reiben bei den Kniegelenken zieht keine wesentlichen Bewegungseinschränkungen nach sich. Wie der Sachverständige festgestellt hat und wie auch im genannten Befundbericht ausgeführt wird, befindet sich der Kläger in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand. Zeichen kardiopulmunaler Dekompensation sind nicht registrierbar.

Aus den genannten Gründen hatte die Berufung keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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