L 2 U 100/00

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 9 U 9/95
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 100/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 23.03.2000 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin aufgrund der Folgen eines am 21.10.1991 erlittenen Unfalles auch in der Zeit vom 16.03.1992 bis zum 22.12.1993 arbeitsunfähig erkrankt war und, ob ihr für diesen Zeitraum Verletztengeld zusteht.

Die am ... geborene Klägerin war am 21.10.1991 im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit als Munitionszerlegearbeiterin damit beschäftigt, übereinander gestapelte gefüllte Munitionskisten umzusetzen. Ein Kistenstapel, der aus jeweils vier Kisten bestan, war ca. 1,80 m hoch, eine Kiste wog ca. 33 kg. Als sich die Klägerin bückte, um zusammen mit einer Kollegin die unterste Kiste eines Stapels zu fassen, fiel der daneben stehende Stapel um und streifte sie am Kopf und an der linken Körperhälfte.

Im Durchgangsarztbericht ebenfalls vom 21.10.1991 wurden als Diagnose multiple Prellungen genannt. Der Durchgangsarzt fand ein oberflächliches Hämatom an der linken Stirn, dem linken Oberarm und linken Rücken. Übelkeit, Erbrechen und Bewusstlosigkeit hätten nicht vorgelegen. Es wurden zwei Röntgenbilder des Schädels angefertigt; Frakturzeichen wurden nicht gefunden. Der Klägerin wurde von ihrer Hausärztin Arbeitsunfähigkeit bis 01.11.1991 attestiert.

Wegen fortbestehender Rückenbeschwerden begab sich die Klägerin ab März 1992 wieder in die Behandlung ihrer Hausärztin, die ab dem 16.03.1992 erneut Arbeitsunfähigkeit bescheinigte. Diese Zeit der Arbeitsunfähigkeit dauerte bis zum 22.12.1993.

In einem Bericht über ein am 26.05.1992 gefertigtes Computertomogramm (CT) der Brustwirbelsäule (BWS - Th 9 bis Th 7) wird ausgeführt, dass ein Verdacht auf eine ältere Infraktion im Bereich der Deckplatte von Th 9 sowie der Grundplatte und Deckplatte von Th 8 ohne Fragmentverschiebung und ohne Zusammensinterung der Wirbelsäule bestehe. In einem Arztbrief vom 19.06.1992 nannte die Fachärztin für Orthopädie DM B ... als Diagnose einen Morbus Scheurmann. Wegen dieser Erkrankung sei eine Röntgenkontrolle der BWS erfolgt; hierbei sei ein Deckplatteneinbruch unklarer Genese zur Darstellung gekommen. Ein Zusammenhang zum Arbeitsunfall vom 21.10.1991 könne bestehen.

Der Chefarzt der Chirurgischen Abteilung der Kreiskrankenhauses T ..., Dr. B ..., erstattete daraufhin am 29.06.1992 nach Untersuchung der Klägerin einen Durchgangsarztbericht und führte aus, dass seiner Meinung nach die Infrakturen im Bereich der Deckplatte von Th 9 und der Grund- und Deckplatte von Th 8 auf den Unfall vom 21.10.1991 zurückzuführen seien.

Seitens der Klinik B ... K ... wurde hingegen am 21.09.1992 die Auffassung vertreten, dass ein aktivierter Befund bei einem schweren Morbus Scheuermann im thorakalen Bereich bestehe.

Nach Einholung weiterer medizinischer Unterlagen legte die Beklagte den Vorgang ihrem beratenden Arzt Prof. Dr. S ... vor, der mit Schreiben vom 30.04.1993 mitteilte, dass sich nach eingehendem Studium der Akten und der Röntgenbilder ein ganz anderer Sachverhalt darstelle, als er in den Gutachten immer wieder beschrieben werde. Die Infraktion stelle die harmloseste Verletzung eines spongiösen Knochens dar, die auch hier ohne Deformierung des Wirbelskörpers mit einem feinen Sklerosesaum ausgeheilt sei. Die ihm vorliegenden Röntgenaufnahmen vom 08.04.1992 zeigten einen ausgeprägten schweren Morbus Scheuermann sowohl im thorakalen als auch im lumbalen Bereich. Es sei äußerst unwahrscheinlich, dass durch die retrospektiv diagnostizierten harmlosen Infraktionen von Th 8 und Th 9 eine Verschlimmerung der anlagebedingten Entwicklungsstörung der Wirbelsäule ausgelöst worden sei. Die angegebenen Beschwerden und die häufige Krankschreibung seien allein auf den Morbus Scheuermann zurückzuführen.

Ferner erstatteten Prof. Dr. H ... und Prof. Dr. T ... am 30.11.1993 ein Gutachten für die Beklagte. Ihrer Ansicht nach ergab der klinische und radiologische Befund keine Anhaltspunkte für eine Fraktur. Weder lägen eine Verbreiterung der benannten Wirbelkörper noch eine Keilform noch eine Verschmälerung des Zwischenwirbelraumes vor, wie man sie erfahrungsgemäß bei Wirbelfrakturen vorfände. Vielmehr bestünden lediglich Veränderungen, wie sie bei einer Scheuermann schen Erkrankung generell aufträten. Es müsse deshalb von einer Prellung bzw. Distorsion ausgegangen werden. Solche Schädigungen führten oft genug zu lang anhaltenden Beschwerden, noch dazu bei einer vorgeschädigten Wirbelsäule, wie sie hier vorliege. Sie könnten in dieser Verbindung bis zu einem halben Jahr andauern und beeinträchtigten natürlich auch die Arbeitsfähigkeit.

Mit Bescheid vom 27.06.1994 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Bescheid vom 15.12.1994, abgesandt am 16.12.1994, zurückgewiesen. Hiergegen ist am 19.01.1995 Klage vor dem Sozialgericht Leipzig (SG) erhoben worden.

Das SG hat im Rahmen seiner Ermittlungen insbesondere ein Gutachen auf unfallchirurgischem Gebiet vom 19.06.1998 nebst ergänzender Stellungnahme vom 31.03.1999 eingeholt. Der Gutachter Dr. Gahr fand einen Zustand nach abgelaufener Scheuermann-Erkrankung mit teilweise rundlichen Residuen in den Deckplattenbereichen der BWS und LWS und einen Zustand nach Deckplatteneinbrüchen bei Th 8 und 9, welche mechanisch günstig ohne Korrekturverlust knöchern ausgeheilt seien. Als Folge des Unfalles bestehe eine gewisse Minderung der Trage- und Belastungsfähigkeit der mittleren BWS mit schmerzhaften Verspannungen der Rückenmuskulatur in diesem Bereich; ferner seien als Folge des Unfalles vom 21.10.1991 röntgenologische Veränderungen im Bereich der Deckplatten Th 8 und Th 9 festzuhalten. Zum Zeitpunkt des Unfalles vom 21.10.1991 hätten röntgenologische Veränderungen nach abgelaufenem Morbus Scheuermann mit mehr oder weniger stark ausgeprägten Veränderungen in den Deckplatten sämtlicher Brustwirbel bestanden. Die als Folge des Unfalles vom 21.10.1991 eingetretenen Gesundheitsstörungen wären ohne das Unfallereignis ohne einen besonderen äußeren Anlass nicht eingetreten. Der Gutachter führte aus, dass das angeschuldigte Ereignis hinreichend geeignet erscheine, eine substantielle Schädigung der mittleren BWS zu bewirken. Bei Fehlen eines anderen Unfallereignisses in der Anamnese, dem von der Lokalisation und der Schwere her geeigneten Trauma im Rahmen einer versicherten Tätigkeit und den unmittelbar darauf einsetzenden Schmerzzuständen im Bereich der mittleren Brustwirbelsäule sei das angeschuldigte Ereignis als der wesentliche teilursächliche Faktor im Gesamtgeschehen zu betrachten. Die röntgenologischen Veränderungen träten hiergegen in ihrer Wichtigkeit deutlich zurück. Die zunächst 14tägige Arbeitsunfähigkeit sei sicherlich zu kurz gewesen. Üblicherweise gehe man davon aus, dass unkomplizierte Deckplatteneinbrüche nach spätestens 12 Wochen sicher ausgeheilt seien.

Das SG hat mit Urteil vom 23.03.2000 die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin vom 16.03.1992 bis zum 22.12.1993 keine Folge des Arbeitsunfalles vom 21.10.1991 gewesen sei. Dabei könne dahinstehen, ob die Infraktionen des 8. und und 9. BWK Folge des Arbeitsunfalles oder der Scheuermann schen Erkrankung seien, da die Beschwerden der Klägerin jedenfalls auf die Scheuermann sche Erkrankung zurückzuführen seien. Dies ergebe sich daraus, dass es sich bei den Infraktionen um unkomplizierte Deckplatteneinbrüche gehandelt habe, die in der Regel nach spätestens 12 Wochen folgenlos ausheilten.

Gegen das ihr am 25.05.2000 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 23.06.2000 Berufung einlegen lassen.

Zur Begründung der Berufung ist im Wesentlichen ausgeführt worden, dass davon ausgegangen werde, dass die Deckplatteneinbrüche durch ein traumatisches Ereignis, nämlich den Arbeitsunfall verursacht worden sei und dass die auf dem abgelaufenen M. Sch. beruhenden röntgenologischen Veränderungen hiergegen deutlich zurückträten. Das SG habe zudem nicht berücksichtigt, dass die Klägerin bis zu dem Unfall völlig beschwerdefrei gewesen sei. Auch habe das SG nicht beachtet, dass die Schermann sche Erkrankung zwar möglicherweise auch ursächlich gewesen sei für die Erkrankung, jedoch nicht im Sinne einer rechtlich wesentlichen Ursache.

Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Leipzig und den Bescheid vom 27.06.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.12.1994 aufzuheben, festzustellen, dass die Zeit der Arbeitsunfähigkeit vom 16.03.1992 bis 22.12.1993 Folge des Arbeitsunfalles vom 21.10.1991 war und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin für diesen Zeitraum Verletztengeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat sich im Wesentlichen auf den Akteninhalt und die Gründe der angefochtenen Entscheidung des SG berufen.

Die Beteiligten haben sich mit Schriftsätzen vom 02.10.2001 mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechszügen und die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin gemäß § 155 Abs. 4, 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden, da das hierfür erforderliche Einverständnis der Beteiligten vorliegt.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen, da der geltend gemachte Anspruch nicht besteht. Mögliche in Betracht kommende Anspruchsgrundlage ist allein § 45 Abs. 1 i. V. m. § 214 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII).

§ 214 Abs. 1 Satz 1 SGB VII regelt, dass u. a. die Vorschriften über die Gewährung von Verletztengeld auch für Versicherungfälle gelten, die vor dem Inkrafttreten des SGB VII eingetreten sind. Die Klägerin hat am 21.10.1991 einen Arbeitsunfall erlitten, der einen Versicherungsfall in diesem Sinne darstellt.

Anspruch auf Verletztengeld besteht gemäß § 45 Abs. 1 SGB VII dann, wenn Versicherte infolge des Versicherungsfalls arbeitsunfähig sind oder wegen einer Maßnahme der Heilbehandlung eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben können und unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder der Heilbehandlung Anspruch auf (u. a.) Arbeitsentgelt hatten.

Die Klägerin war jedoch im streitgegenständlichen Zeitraum nicht infolge des am 21.10.1991 eingetretenen Versicherungsfalles arbeitsunfähig erkrankt. Insoweit wäre erforderlich, dass der Versicherungsfall rechtlich wesentliche Ursache für die eingetretene Arbeitsunfähigkeit war (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Stand 12/01, § 45 SGB VII, Rn. 4). Dies setzt zunächst eine Ursächlichkeit in naturwissenschaftlichem Sinne voraus. In einem weiteren Schritt wäre dann zu prüfen, ob auch die jeweilige Ursache auch als rechtlich wesentlich anzusehen ist.

Insoweit ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) die hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichend (z. B. BSG, Urteil vom 01.02.1996 - 2 RU 10/95 m. w. N.). Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei vernünftiger Abwägung alle Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSG, aaO.). Daran fehlt es vorliegend.

Es ist schon nicht ausreichend wahrscheinlich, dass der Arbeitsunfall vom 21.10.1991 für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin vom 16.03.1992 bis 22.12.1993 ursächlich in naturwissenschaftlichem Sinne war.

Dabei kann, wie schon das SG ausgeführt hat, dahinstehen, ob die diagnostizierten Infraktionen der Deckplatten des 8. und 9. BWK und der Grundplatte des 8. BWK durch den Arbeitsunfall vom 21.10.1991 verursacht worden sind oder ob diese Veränderungen der Brustwirbelkörper aufgrund des Morbus Scheuermann entstanden sind. Selbst dann, wenn man (entgegen dem Gutachten Prof. Dr. T ... und Prof. Dr. H ... vom 30.11.1993) davon ausgeht, dass die Infraktionen durch den Arbeitsunfall verursacht worden sind und es hierbei nicht um durch den Morbus Scherumann verursachte Veränderungen handelt, ist nicht überwiegend wahrscheinlich, dass die Beschwerden, unter denen die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum litt und wegen derer sie arbeitsunfähig erkrankt war, auf diese Infraktionen zurückzuführen sind:

Aufgrund des CT vom 26.05.1992 wurde der Verdacht auf eine ältere Infrakion in den genannte Bereichen geäußert, jedoch ohne Fragmentverschiebung bei glatter Wirbelkörperrandkonturierung und ohne Zusammensinterung der Wirbelkörper. Hierzu gab Dr. B ... im Schreiben vom 04.09.1992 zwar an, er halte einen Zusammenhang zwischen den fortbestehenden Beschwerden und dem Arbeitsunfall für möglich. Dies wurde jedoch bereits von den Ärzten der Klinik B ... K ... bezweifelt, die am 21.09.1992 die Ansicht vertreten, es bestehe ein aktivierter Befund bei einem ausgeprägten schweren Morbus Scheuermann. Prof. Dr. S ... wies in seiner Stellungnahme vom 30.04.1993 des Weiteren darauf hin, dass es sich bei der diagnostizierten Fraktur um die harmloseste Verletzung eines spongiösen Knochens handele, die ohne Deformierung ausgeheilt sei, so dass die Beschwerden, unter denen die Klägerin leide, auf den ausgeprägten und schweren Morbus Scheuermann zurückzuführen seien.

Auch der im sozialgerichtlichen Verfahren beauftragte Gutachter Dr. G ... hat im Gutachten vom 19.08.1998 ausgeführt, dass die Deckplatteneinbrüche bei Th 8 und 9 mechanisch günstig ohne Korrekturverlust knöchern ausgeheilt seien und darauf hingewiesen, dass unkomplizierte Deckplatteneinbrüche üblicherweise nach spätestens 12 Wochen ausgeheit seien.

Hiernach kann nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die ab dem 16.03.1992 vorhandenen Beschwerden der Klägerin auf die Infraktionen des 8. und 9. BWK zurückzuführen sind. Es ist nicht ausreichend wahrscheinlich, dass die - wie sich aus allen ärztlichen Stellungnahmen ergibt - gut ausgeheilten Infraktionen in der Lage waren, noch mehr als vier Monate nach dem Unfallereignis Beschwerden zu verursachen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der bis zu diesem Zeitpunkt klinisch stumme Morbus Scheuermann die Beschwerden verursachte.

Dass die Klägerin durchgehend Beschwerden im Bereich der BWS hatte, steht dem nicht entgegen, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass in dem sich über mehrere Monate erstreckenden Zeitraum, in dem die anlässlich des Arbeitsunfalles erlittenen Prellungen bzw. ggf. Deckplatteneinbrüche ausheilten, auch der Beginn der aufgrund des Morbus Scheuermann eingetretenen Beschwerden lag.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved