Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 V 31/95
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 V 56/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 12.06.1997 und der Bescheid vom 28.06.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.04.1995 aufgehoben.
II. Der Beklagte wird verurteilt, beim Kläger als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen "Dauergesichtsschmerz rechts" und ihm ab 01.11.1989 Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 vH zu gewähren.
III. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob weitere Schädigungsfolgen beim Kläger anzuerkennen sind und ihm eine Versorgungsrente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als 40 vH zusteht.
Bei dem am 1921 geborenen Kläger waren zuletzt mit Bescheid vom 24.02.1987 als Schädigungsfolgen durch einen Autounfall 1945 nach Begutachtung durch den Nervenarzt Dr.K. (Gutachten vom 04.02.1987) mit einer MdE von 40 vH anerkannt: 1. Bewegungseinschränkung im rechten Kniegelenk (Einzel-MdE 30 vH) 2. Trigeminusneuralgie rechts (Nervus ophtalmicus) (Einzel-MdE 10 vH) 3. Chronischer Magenkatarrh (Einzel-MdE 10 vH) 4. verheilter Nasenbeinbruch (Einzel-MdE unter 10 vH) zu 1., 2. und 4. im Sinne der Entstehung zu 3. im Sinne der Verschlimmerung.
Einen Neufeststellungsantrag vom 29.11.1989 lehnte der Beklagte nach Begutachtungen auf internistischem, hno-ärztlichem und orthopädischem Gebiet mit Bescheid vom 28.06.1994 ab. Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, unter häufigen Nervenschmerzanfällen des 5. Hirnnerven rechts zu leiden. Der Beklagte zog einen Befundbericht des behandelnden Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr.D.S. vom 13.09.1994 bei, ließ den Kläger nervenärztlich untersuchen (Gutachten Dr.B. vom 04.04.1995) und wies den Widerspruch mit Bescheid vom 27.04.1995 zurück.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat der Kläger Versorgungsbezüge nach einer MdE um 50 vH ab November 1989 begehrt und eine Verschlimmerung seiner Schädigungsfolgen auf neurologischem Gebiet geltend gemacht. Das SG hat Befundberichte der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dres. W. und S.E. und des Dr.D.S. vom 11.07.1995/ 11.03.1996 beigezogen und ein neurologisches Gutachten des Dr.H.M. vom 27.12.1995/09.04.1996 eingeholt. Dieser hat - wie Dr.B. - eine wesentliche Verschlimmerung der Schmerzsymptomatik bei der Trigeminusneuralgie verneint und diese wie bisher mit einer Einzel-MdE von 10 vH bewertet. Der Beklagte hat eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr.M. vom 20.05.1996 vorgelegt. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 12.06.1997 abgewiesen und ist den Gutachten des Dr.B. und des Dr.H.M. gefolgt.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und die Auffassung vertreten, allein die Schädigungsfolgen auf nervenärztlichem Gebiet seien mit einer Einzel-MdE um 30 vH zu bewerten. Der Senat hat Befundunterlagen des Klägers beigezogen (ua Befundbericht Dres.E. vom 10.11.1997 mit Arztbriefen der Chirurgischen Klinik I vom 16.07.1997 und der Neurologischen Klinik vom 02.06.1997, beide Klinikum A. , des Krankenhauses für Psychiatrie und Neurologie L. vom 06.04.1995, 11.01.1995 und 08.10.1996, des Dr.D.S. vom 28.08.1996 und 08.07.1997) und neurologische Gutachten des Privatdozent (PD) Dr.U.F. vom 11.08.1998/ 25.10.2001 sowie des Prof.Dr.H.D.L. vom 04.11.1999 einschließlich eines röntgenologischen-fachärztlichen Befundberichts des Prof.Dr.J.P.H. vom 27.10.1999 eingeholt. Während PD Dr.U.F. einen "symptomatischen Gesichtsschmerz im Bereich der rechten Schädelhälfte" und eine (rechtsseitige) "Trigeminusneuralgie" als Schädigungsfolgen mit einer (Einzel-) MdE von mindestens 30 vH bis 40 vH bewertete, hat Prof.Dr.H.D.L. diese Leiden lediglich mit einer Einzel-MdE von 10 vH eingeschätzt.
Der Beklagte hat sich mit nervenärztlichen Stellungnahmen der Dr.S. vom 28.12.1999, 15.03.2000 und 20.04.2000 sowie einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr.K.P. vom 05.04.2000 gegen das Gutachten des PD Dr.U.F. gewandt. Der vom Beklagten gehörte PD Dr.K. (Stellungnahme vom 05.12.2001) hat - wie PD Dr.U.F. - die andauernden Kopfschmerzen unabhängig von der (anerkannten) Trigeminusneuralgie als eigenständige Schmerzform mit einer MdE von 10 vH angesehen. Die jetzige Schmerzsymptomatik der Trigeminusneuralgie hat er nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall von 1945 zurückgeführt.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
das Urteil des SG Würzburg vom 12.06.1997 und den Bescheid vom 28.06.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.04.1995 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen "Dauergesichtsschmerz rechts" und ihm ab 01.11.1989 Versorgungsrente nach einer MdE von mindestens 50 vH zu gewähren.
Der Vertreter des Beklagten beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 12.06.1997 zurückzuweisen.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Beschädigtenakten des Beklagten, die Akte des Bayer. Oberversicherungsamtes Würzburg KB 6979/1951, die Archivakten des SG Würzburg S 9/V 1129/83, S 9 V 552/86, S 9 V 593/86 und des Bayer. Landessozialgerichts (LSG) L 10 V 52/85 und L 10 V 7/89 sowie die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung der weiteren Schädigungsfolge "Dauergesichtsschmerz rechts" und Gewährung von Versorgungsrente nach einer MdE um 50 vH ab 01.11.1989 (Antragstellung).
Nach § 48 Abs 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch - (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche wesentliche Änderung der Verhältnisse ist ua dann gegeben, wenn ein neues, schädigungsbedingtes Leiden auftritt und daher eine Neufeststellung des Versorgungsanspruches geboten ist. Für die Anerkennung einer weiteren Schädigungsfolge ist erforderlich, dass ein schädigendes Ereignis bzw ein geschützter Tatbestand im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) eine gesundheitliche Schädigung hervorgerufen und diese eine zum Zeitpunkt der Antragstellung noch vorhandene Gesundheitsstörung verursacht hat. Schädigendes Ereignis, gesundheitliche Schädigung und Gesundheitsstörung müssen dabei jeweils für sich nachgewiesen sein. Lediglich für die Anerkennungsfähigkeit der Gesundheitsstörung genügt gem § 1 Abs 3 Satz 1 BVG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs der gesundheitlichen Schädigung. Wahrscheinlichkeit im Sinne dieser Vorschrift bedeutet, dass mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (Wilke/Fehl, Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, 7.Auflage, § 1 RdNr 65).
Die beim Kläger bestehende posttraumatische Gesichtsneuralgie ist nach den Feststellungen der vom Senat gehörten Sachverständigen PD Dr.U.F. und Prof.Dr.H.D.L. zu untergliedern in einen "symptomatischen Dauergesichtsschmerz rechts" und eine "Trigeminusneuralgie rechts". Es handelt sich somit um zwei verschiedene, jeweils eigens zu bewertende Schmerzformen. Dies wird auch vom Beklagten nicht mehr bestritten, wie sich aus der nervenärztlichen Stellungnahme des PD Dr.K. vom 05.12.2001 ergibt. Dieser möchte jedoch die "Trigeminusneuralgie" nicht kausal auf die Verletzung 1945 zurückgeführt wissen, da diese Diagnose erst 1965 gestellt worden sei und die typische Symptomatik einer Trigeminusneuralgie erst über 20 Jahre nach dem schädigenden Ereignis aufgetreten sei.
Entgegen der Auffassung des PD Dr.K. ist die Trigeminusneuralgie kausal auf das Unfallereignis von 1945 zurückzuführen. Zwar hat der Beklagte von Anfang an eine Trigenimusschädigung unter der Bezeichnung "Nervenschmerzanfälle im Versorgungsgebiet des 5. Hirnnerven rechts" (vgl Umanerkennungsbescheid vom 31.05.1951) mit einer Einzel-MdE von 10 vH anerkannt und hat es sich hierbei richtigerweise um einen "atypischen Gesichtsschmerz" gehandelt, da der Kläger durchgängig über dauernd ziehende Kopfschmerzen geklagt hat, wo hingegen eine Trigeminusneuralgie durch plötzlich einschießende Schmerzen gekennzeichnet ist (vgl Gutachten des Dr.S. vom 04.08.1949; Gutachten des Prof.Dr.S. vom 30.05.1952 Akte des Bayer. Oberversicherungsamtes Würzburg). PD Dr.U. F. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 25.10.2001 darauf hingewiesen, dass der diagnostische Terminus "Trigeminusneuralgie" vorliegend in verschiedenen Gutachten mit unterschiedlicher Bedeutung belegt ist. Er wird vor allem in den (in den Akten enthaltenen) Gutachten älteren Datums und in amtsärztlichen Stellungnahmen auch als Synonym für atypische Gesichtsschmerzen verwendet. Dementsprechend hat der Beklagte zunächst beim Kläger "Nervenschmerzanfälle im Versorgungsgebiet des 5. Hirnnerven rechts" bzw später "Trigeminusneuralgie rechts (Nervus ophtalmicus)" (Bescheid vom 24.02.1987) anerkannt. Die Unterscheidung zwischen chronischem Gesichtsschmerz (andauernder Gesichtsschmerz wechselnder Intensität), der nicht die Charakteristika einer Neuralgie aufweist u n d Gesichtsneuralgien (hier Trigeminusneuralgie) mit blitzartig einschießenden, elektrisierenden, unerträglichen paroxysmalen Schmerzattacken im Versorgungsbereich von Hirnnerven, wobei im Intervall Beschwerde- und Symptomfreiheit bestehen, beruht nach den Ausführungen des PD Dr.U.F. auf einer 1988 getroffenen Klassifikation der internationalen Kopfschmerzgesellschaft.
Nach den überzeugenden Feststellungen des PD Dr.U.F. bestehen vorliegend demnach zwei unterscheidbare Schmerzsymptome, die sich beim Kläger zu unterschiedlichen Zeiten manifestiert haben. Der Kläger leidet seit dem Unfall 1945 bis heute unverändert unter Dauerschmerzen im Bereich der rechten Stirn mit Veränderungen des Berührungsgefühls. Dieser atypische Gesichtsschmerz, den die Gutachter Dres.K./M. irreführend als Trigeminusneuralgie bezeichneten, ist mit einer MdE von 10 vH korrekt bewertet. Zu Recht weist PD Dr.U.F. darauf hin, dass sich offensichtlich zu einem späteren Zeitpunkt in dem bereits erkrankten Schädelbereich beim Kläger zusätzlich eine Trigeminusneuralgie entwickelt hat, für deren Existenz sich in den früher erstellten Gutachten noch keinerlei Hinweise gefunden haben. Der Prüfarzt des Beklagten, PD Dr.K. , leugnet nicht die Existenz einer später aufgetretenen Trigeminusneuralgie in seiner Stellungnahme vom 05.12.2001, meint jedoch eine Anerkennung scheitere an der fehlenden Kausalität. Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Beide vom Senat gehörten Sachverständigen, PD Dr.U.F. und Prof.Dr.H.D.L. , bejahen den ursächlichen Zusammenhang der Trigeminusneuralgie mit dem Unfallereignis von 1945. Prof.Dr.H.D.L. führt die Ätiologie dieser Schmerzsymptomatik lediglich nicht mit letzter Sicherheit auf den Unfall von 1945 zurück. Hierzu bemerkt PD Dr.U.F. zutreffend, dass diese von Prof. Dr.H.D.L. gewählte Formulierung bedeutet, dass das Schmerzsyndrom mit sehr großer Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Ein solcher Grad der Wahrscheinlichkeit ist für die Bejahung des Kausalzusammenhangs im sozialen Entschädigungsrecht aber mehr als ausreichend. Es genügt, dass mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (Wilke/Fehl aaO).
Der Kausalzusammenhang der Trigeminusneuralgie mit dem Unfallereignis 1945 ist zu bejahen, obwohl diese Schmerzsymptomatik erst ca 20 Jahre nach dem Unfallereignis verifiziert wurde. Nach den Feststellungen des PD Dr.U.F. können auch periphere Nervenschäden nach Gesichtsschädeltrauma eine Trigeminusneuralgie in Gang setzen. PD Dr.U.F. geht folgerichtig davon aus, dass es sich vorliegend um einen solchen Fall der späteren Manifestation handeln muss, da eine typische idiopathische Trigeminusneuralgie, die durch eine Gefäßnervenkompression hervorgerufen wird, nicht vorliegt. Der Kläger hat bei der Untersuchung durch PD Dr.U.F. glaubhaft angegeben, dass die heftigen Schmerzattacken ihren Ausgangspunkt in der rechten Augenbraue haben. Dies stellt eine ganz markante Abweichung von der klassischen idiopathischen Trigeminusneuralgie dar, die in der Regel den Stirnbereich sogar ausspart und bevorzugt den mittleren Gesichtsbereich (Nasenflügel) und den Unterkieferbereich betrifft. Die rechtsseitige Manifestation der Erkrankung bei beidseits ähnlichen anatomischen Abweichungen der Nervengefäße im Kernspinbild und die Tatsache, dass die Schmerzen ihren Schwerpunkt im Bereich der Stirn und Augenbraue haben, sprechen eindeutig dafür, dass sowohl die andauernden Gesichtsschmerzen als auch die Trigeminusneuralgie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Schädeltrauma zurückzuführen sind.
Die Trigeminusneuralgie ist nach der von PD Dr.U.F. durchgeführten Schmerzanalyse als mittelgradig bis schwer einzuordnen. Dies entpricht nach den vom Senat zu beachtenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (AHP) MdE-Graden von 20 bis 30 bzw 40 bis 60 (vgl AHP S 50). Die vom PD Dr.U.F. angenommene MdE-Einschätzung von 30 bis 40 vH bzw mindestens 30 vH begegnet daher keinen Bedenken.
Bei Einzel-MdE-Werten von jeweils 30 auf orthopädischem und neurologischem Gebiet sowie 2 x 10 (für Dauergesichtsschmerz rechts und chronischem Magenkatarrh) ergibt sich bei Außerachtlassung der MdE-Grade von 10 vH (vgl AHP S 35) zwanglos eine Gesamt-MdE von 50 vH.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
II. Der Beklagte wird verurteilt, beim Kläger als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen "Dauergesichtsschmerz rechts" und ihm ab 01.11.1989 Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 vH zu gewähren.
III. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist, ob weitere Schädigungsfolgen beim Kläger anzuerkennen sind und ihm eine Versorgungsrente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als 40 vH zusteht.
Bei dem am 1921 geborenen Kläger waren zuletzt mit Bescheid vom 24.02.1987 als Schädigungsfolgen durch einen Autounfall 1945 nach Begutachtung durch den Nervenarzt Dr.K. (Gutachten vom 04.02.1987) mit einer MdE von 40 vH anerkannt: 1. Bewegungseinschränkung im rechten Kniegelenk (Einzel-MdE 30 vH) 2. Trigeminusneuralgie rechts (Nervus ophtalmicus) (Einzel-MdE 10 vH) 3. Chronischer Magenkatarrh (Einzel-MdE 10 vH) 4. verheilter Nasenbeinbruch (Einzel-MdE unter 10 vH) zu 1., 2. und 4. im Sinne der Entstehung zu 3. im Sinne der Verschlimmerung.
Einen Neufeststellungsantrag vom 29.11.1989 lehnte der Beklagte nach Begutachtungen auf internistischem, hno-ärztlichem und orthopädischem Gebiet mit Bescheid vom 28.06.1994 ab. Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, unter häufigen Nervenschmerzanfällen des 5. Hirnnerven rechts zu leiden. Der Beklagte zog einen Befundbericht des behandelnden Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr.D.S. vom 13.09.1994 bei, ließ den Kläger nervenärztlich untersuchen (Gutachten Dr.B. vom 04.04.1995) und wies den Widerspruch mit Bescheid vom 27.04.1995 zurück.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat der Kläger Versorgungsbezüge nach einer MdE um 50 vH ab November 1989 begehrt und eine Verschlimmerung seiner Schädigungsfolgen auf neurologischem Gebiet geltend gemacht. Das SG hat Befundberichte der Fachärzte für Allgemeinmedizin Dres. W. und S.E. und des Dr.D.S. vom 11.07.1995/ 11.03.1996 beigezogen und ein neurologisches Gutachten des Dr.H.M. vom 27.12.1995/09.04.1996 eingeholt. Dieser hat - wie Dr.B. - eine wesentliche Verschlimmerung der Schmerzsymptomatik bei der Trigeminusneuralgie verneint und diese wie bisher mit einer Einzel-MdE von 10 vH bewertet. Der Beklagte hat eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr.M. vom 20.05.1996 vorgelegt. Das SG hat die Klage mit Urteil vom 12.06.1997 abgewiesen und ist den Gutachten des Dr.B. und des Dr.H.M. gefolgt.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und die Auffassung vertreten, allein die Schädigungsfolgen auf nervenärztlichem Gebiet seien mit einer Einzel-MdE um 30 vH zu bewerten. Der Senat hat Befundunterlagen des Klägers beigezogen (ua Befundbericht Dres.E. vom 10.11.1997 mit Arztbriefen der Chirurgischen Klinik I vom 16.07.1997 und der Neurologischen Klinik vom 02.06.1997, beide Klinikum A. , des Krankenhauses für Psychiatrie und Neurologie L. vom 06.04.1995, 11.01.1995 und 08.10.1996, des Dr.D.S. vom 28.08.1996 und 08.07.1997) und neurologische Gutachten des Privatdozent (PD) Dr.U.F. vom 11.08.1998/ 25.10.2001 sowie des Prof.Dr.H.D.L. vom 04.11.1999 einschließlich eines röntgenologischen-fachärztlichen Befundberichts des Prof.Dr.J.P.H. vom 27.10.1999 eingeholt. Während PD Dr.U.F. einen "symptomatischen Gesichtsschmerz im Bereich der rechten Schädelhälfte" und eine (rechtsseitige) "Trigeminusneuralgie" als Schädigungsfolgen mit einer (Einzel-) MdE von mindestens 30 vH bis 40 vH bewertete, hat Prof.Dr.H.D.L. diese Leiden lediglich mit einer Einzel-MdE von 10 vH eingeschätzt.
Der Beklagte hat sich mit nervenärztlichen Stellungnahmen der Dr.S. vom 28.12.1999, 15.03.2000 und 20.04.2000 sowie einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Chirurgen Dr.K.P. vom 05.04.2000 gegen das Gutachten des PD Dr.U.F. gewandt. Der vom Beklagten gehörte PD Dr.K. (Stellungnahme vom 05.12.2001) hat - wie PD Dr.U.F. - die andauernden Kopfschmerzen unabhängig von der (anerkannten) Trigeminusneuralgie als eigenständige Schmerzform mit einer MdE von 10 vH angesehen. Die jetzige Schmerzsymptomatik der Trigeminusneuralgie hat er nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall von 1945 zurückgeführt.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
das Urteil des SG Würzburg vom 12.06.1997 und den Bescheid vom 28.06.1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.04.1995 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger als weitere Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung anzuerkennen "Dauergesichtsschmerz rechts" und ihm ab 01.11.1989 Versorgungsrente nach einer MdE von mindestens 50 vH zu gewähren.
Der Vertreter des Beklagten beantragt,
die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 12.06.1997 zurückzuweisen.
Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Beschädigtenakten des Beklagten, die Akte des Bayer. Oberversicherungsamtes Würzburg KB 6979/1951, die Archivakten des SG Würzburg S 9/V 1129/83, S 9 V 552/86, S 9 V 593/86 und des Bayer. Landessozialgerichts (LSG) L 10 V 52/85 und L 10 V 7/89 sowie die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet.
Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung der weiteren Schädigungsfolge "Dauergesichtsschmerz rechts" und Gewährung von Versorgungsrente nach einer MdE um 50 vH ab 01.11.1989 (Antragstellung).
Nach § 48 Abs 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches - Zehntes Buch - (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dann aufzuheben, wenn in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine solche wesentliche Änderung der Verhältnisse ist ua dann gegeben, wenn ein neues, schädigungsbedingtes Leiden auftritt und daher eine Neufeststellung des Versorgungsanspruches geboten ist. Für die Anerkennung einer weiteren Schädigungsfolge ist erforderlich, dass ein schädigendes Ereignis bzw ein geschützter Tatbestand im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) eine gesundheitliche Schädigung hervorgerufen und diese eine zum Zeitpunkt der Antragstellung noch vorhandene Gesundheitsstörung verursacht hat. Schädigendes Ereignis, gesundheitliche Schädigung und Gesundheitsstörung müssen dabei jeweils für sich nachgewiesen sein. Lediglich für die Anerkennungsfähigkeit der Gesundheitsstörung genügt gem § 1 Abs 3 Satz 1 BVG die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs der gesundheitlichen Schädigung. Wahrscheinlichkeit im Sinne dieser Vorschrift bedeutet, dass mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (Wilke/Fehl, Soziales Entschädigungsrecht, Kommentar, 7.Auflage, § 1 RdNr 65).
Die beim Kläger bestehende posttraumatische Gesichtsneuralgie ist nach den Feststellungen der vom Senat gehörten Sachverständigen PD Dr.U.F. und Prof.Dr.H.D.L. zu untergliedern in einen "symptomatischen Dauergesichtsschmerz rechts" und eine "Trigeminusneuralgie rechts". Es handelt sich somit um zwei verschiedene, jeweils eigens zu bewertende Schmerzformen. Dies wird auch vom Beklagten nicht mehr bestritten, wie sich aus der nervenärztlichen Stellungnahme des PD Dr.K. vom 05.12.2001 ergibt. Dieser möchte jedoch die "Trigeminusneuralgie" nicht kausal auf die Verletzung 1945 zurückgeführt wissen, da diese Diagnose erst 1965 gestellt worden sei und die typische Symptomatik einer Trigeminusneuralgie erst über 20 Jahre nach dem schädigenden Ereignis aufgetreten sei.
Entgegen der Auffassung des PD Dr.K. ist die Trigeminusneuralgie kausal auf das Unfallereignis von 1945 zurückzuführen. Zwar hat der Beklagte von Anfang an eine Trigenimusschädigung unter der Bezeichnung "Nervenschmerzanfälle im Versorgungsgebiet des 5. Hirnnerven rechts" (vgl Umanerkennungsbescheid vom 31.05.1951) mit einer Einzel-MdE von 10 vH anerkannt und hat es sich hierbei richtigerweise um einen "atypischen Gesichtsschmerz" gehandelt, da der Kläger durchgängig über dauernd ziehende Kopfschmerzen geklagt hat, wo hingegen eine Trigeminusneuralgie durch plötzlich einschießende Schmerzen gekennzeichnet ist (vgl Gutachten des Dr.S. vom 04.08.1949; Gutachten des Prof.Dr.S. vom 30.05.1952 Akte des Bayer. Oberversicherungsamtes Würzburg). PD Dr.U. F. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 25.10.2001 darauf hingewiesen, dass der diagnostische Terminus "Trigeminusneuralgie" vorliegend in verschiedenen Gutachten mit unterschiedlicher Bedeutung belegt ist. Er wird vor allem in den (in den Akten enthaltenen) Gutachten älteren Datums und in amtsärztlichen Stellungnahmen auch als Synonym für atypische Gesichtsschmerzen verwendet. Dementsprechend hat der Beklagte zunächst beim Kläger "Nervenschmerzanfälle im Versorgungsgebiet des 5. Hirnnerven rechts" bzw später "Trigeminusneuralgie rechts (Nervus ophtalmicus)" (Bescheid vom 24.02.1987) anerkannt. Die Unterscheidung zwischen chronischem Gesichtsschmerz (andauernder Gesichtsschmerz wechselnder Intensität), der nicht die Charakteristika einer Neuralgie aufweist u n d Gesichtsneuralgien (hier Trigeminusneuralgie) mit blitzartig einschießenden, elektrisierenden, unerträglichen paroxysmalen Schmerzattacken im Versorgungsbereich von Hirnnerven, wobei im Intervall Beschwerde- und Symptomfreiheit bestehen, beruht nach den Ausführungen des PD Dr.U.F. auf einer 1988 getroffenen Klassifikation der internationalen Kopfschmerzgesellschaft.
Nach den überzeugenden Feststellungen des PD Dr.U.F. bestehen vorliegend demnach zwei unterscheidbare Schmerzsymptome, die sich beim Kläger zu unterschiedlichen Zeiten manifestiert haben. Der Kläger leidet seit dem Unfall 1945 bis heute unverändert unter Dauerschmerzen im Bereich der rechten Stirn mit Veränderungen des Berührungsgefühls. Dieser atypische Gesichtsschmerz, den die Gutachter Dres.K./M. irreführend als Trigeminusneuralgie bezeichneten, ist mit einer MdE von 10 vH korrekt bewertet. Zu Recht weist PD Dr.U.F. darauf hin, dass sich offensichtlich zu einem späteren Zeitpunkt in dem bereits erkrankten Schädelbereich beim Kläger zusätzlich eine Trigeminusneuralgie entwickelt hat, für deren Existenz sich in den früher erstellten Gutachten noch keinerlei Hinweise gefunden haben. Der Prüfarzt des Beklagten, PD Dr.K. , leugnet nicht die Existenz einer später aufgetretenen Trigeminusneuralgie in seiner Stellungnahme vom 05.12.2001, meint jedoch eine Anerkennung scheitere an der fehlenden Kausalität. Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Beide vom Senat gehörten Sachverständigen, PD Dr.U.F. und Prof.Dr.H.D.L. , bejahen den ursächlichen Zusammenhang der Trigeminusneuralgie mit dem Unfallereignis von 1945. Prof.Dr.H.D.L. führt die Ätiologie dieser Schmerzsymptomatik lediglich nicht mit letzter Sicherheit auf den Unfall von 1945 zurück. Hierzu bemerkt PD Dr.U.F. zutreffend, dass diese von Prof. Dr.H.D.L. gewählte Formulierung bedeutet, dass das Schmerzsyndrom mit sehr großer Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Ein solcher Grad der Wahrscheinlichkeit ist für die Bejahung des Kausalzusammenhangs im sozialen Entschädigungsrecht aber mehr als ausreichend. Es genügt, dass mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (Wilke/Fehl aaO).
Der Kausalzusammenhang der Trigeminusneuralgie mit dem Unfallereignis 1945 ist zu bejahen, obwohl diese Schmerzsymptomatik erst ca 20 Jahre nach dem Unfallereignis verifiziert wurde. Nach den Feststellungen des PD Dr.U.F. können auch periphere Nervenschäden nach Gesichtsschädeltrauma eine Trigeminusneuralgie in Gang setzen. PD Dr.U.F. geht folgerichtig davon aus, dass es sich vorliegend um einen solchen Fall der späteren Manifestation handeln muss, da eine typische idiopathische Trigeminusneuralgie, die durch eine Gefäßnervenkompression hervorgerufen wird, nicht vorliegt. Der Kläger hat bei der Untersuchung durch PD Dr.U.F. glaubhaft angegeben, dass die heftigen Schmerzattacken ihren Ausgangspunkt in der rechten Augenbraue haben. Dies stellt eine ganz markante Abweichung von der klassischen idiopathischen Trigeminusneuralgie dar, die in der Regel den Stirnbereich sogar ausspart und bevorzugt den mittleren Gesichtsbereich (Nasenflügel) und den Unterkieferbereich betrifft. Die rechtsseitige Manifestation der Erkrankung bei beidseits ähnlichen anatomischen Abweichungen der Nervengefäße im Kernspinbild und die Tatsache, dass die Schmerzen ihren Schwerpunkt im Bereich der Stirn und Augenbraue haben, sprechen eindeutig dafür, dass sowohl die andauernden Gesichtsschmerzen als auch die Trigeminusneuralgie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf das Schädeltrauma zurückzuführen sind.
Die Trigeminusneuralgie ist nach der von PD Dr.U.F. durchgeführten Schmerzanalyse als mittelgradig bis schwer einzuordnen. Dies entpricht nach den vom Senat zu beachtenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (AHP) MdE-Graden von 20 bis 30 bzw 40 bis 60 (vgl AHP S 50). Die vom PD Dr.U.F. angenommene MdE-Einschätzung von 30 bis 40 vH bzw mindestens 30 vH begegnet daher keinen Bedenken.
Bei Einzel-MdE-Werten von jeweils 30 auf orthopädischem und neurologischem Gebiet sowie 2 x 10 (für Dauergesichtsschmerz rechts und chronischem Magenkatarrh) ergibt sich bei Außerachtlassung der MdE-Grade von 10 vH (vgl AHP S 35) zwanglos eine Gesamt-MdE von 50 vH.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.
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