L 18 V 47/98

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
18
1. Instanz
SG Bayreuth (FSB)
Aktenzeichen
S 3 V 64/96
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 V 47/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine über einen Zeitraum von 20 Jahren zu Unrecht gewährte
Versorgungsrente kann im Hinblick auf das Rechtsinstitut der Verwirkung nicht
mehr entzogen werden. Für Neufeststellungen ab 01.01.1981 bedarf es des
Rechtsinstituts der Verwirkung im Hinblick auf die Zehn-Jahresfrist des § 48
Abs 4 SGB X nicht mehr.
I. Auf Klage hin wird der Bescheid vom 08.03.2001 aufgehoben und der Bescheid vom 14.01.1976 dahingehend abgeändert, dass für die anerkannten Schädigungsfolgen des Klägers eine MdE von 40 vH festzustellen ist.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Schädigungsfolgen des Klägers im Wege des § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) mit einer MdE um 40 vH zu bewerten sind.

Der am 1925 geborene Kläger stellte erstmals am 26.01.1949 Antrag auf Gewährung von Versorgungsrente. Nach Untersuchung des Klägers durch den Facharzt für Chirurgie Dr.PH.A.K. am 13.02.1950 schlug der Facharzt für innere Krankheiten Dr.R. von der Landesversicherungsanstalt Unterfranken (LVA), KB-Abteilung, mit Prüfvermerk vom 13.05.1950 als anzuerkennende Schädigungsfolge ua vor: "3. Inaktive Lungentuberkulose".

In einem weiteren Gutachten für die LVA vom 17.08.1950 vertrat der Facharzt für innere Medizin Dr.L.U. die Auffassung, dass es sich bei der Tuberkulose des Klägers um eine seit einigen Jahren bestehende Erkrankung handele, die sich schon im Abklingen befinde. Andererseits sei der Prozess nach Rö und Senkung sicherlich noch aktiv und bedürfe der Behandlung, Schonung und Überwachung. Er nahm für die Tuberkulose eine Einzel-MdE von 40 vH an. Im Prüfvermerk - jetzt des Versorgungsamtes (VA) Würzburg - bezeichnete der Facharzt für Röntgenologie Dr.H. die Schädigungsfolge als "Lungentuberkulose in Ausheilung". Entsprechend diesem Vorschlag anerkannte das VA mit Bescheid vom 20.12.1950 nach dem Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KB-Leistungsgesetz) vom 26.03.1947 als Schädigungsfolge "5. Lungentuberkulose in Ausheilung" und gewährte für sämtliche Schädigungsfolgen eine Rente nach einer MdE um 60 vH.

Mit Umanerkennungsbescheid vom 27.04.1953 anerkannte der Beklagte nach Einholung eines internistischen Gutachtens des Dr.J.J. (Medizinische Universitäts-Poliklinik W.) vom 28.05.1952 als Schädigungsfolgen mit einer MdE von 60 vH: 1. Lungentuberkulose (Einzel-MdE 40 vH) 2. Chronische Nierenbecken- und Blasenentzündung (Einzel-MdE 20 vH) 3. Narben nach Splitterverletzung am rechten Oberarm, rechten Bein und Hodensack sowie nach Durchschuss am linken Mittel fuß (Einzel-MdE 10 vH).

Im Nachuntersuchungsgutachten vom 20.09.1956 stellte der Internist Dr.H. bei der Lungentuberkulose keinen schwerwiegenden Verdacht auf Aktivität fest und bewertete die Schädigungsfolge zu 1 weiterin mit 40 vH. Wegen einer Besserung der Schädigungsfolge zu 2 gewährte der Beklagte mit Neufeststellungsbescheid vom 22.09.1956 nur noch eine Rente nach einer MdE von 40 vH.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 04.10.1956 Widerspruch ein und trug vor, die Folgen seiner Lungenverletzung hätten sich in den letzten Jahren in keiner Weise gebessert, sondern verschlechtert. Bei Lungenuntersuchungen hätten ihm Fachärzte in den letzten Jahren immer wieder versichert, dass der Prozess evtl zum Stillstand gekommen sein könne, von einer Heilung könne aber keine Rede sein. Selbst bei völliger Heilung würde die Leistungsfähigkeit seiner Lunge nie der einer gesunden Lunge entsprechen. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.11.1956 mit der Begründung zurück, der Verdacht auf eine Aktivität der Lungenerkrankung - wie bisher angenommen - bestehe nicht mehr. Der Kläger legte hiergegen keine Rechtsbehelf ein.

Am 29.09.1958 vertrat Dr.A.M. vom ärztlichen Dienst des VA Bayreuth die Auffassung, dass die anerkannten Schädigungsfolgen nicht mehr besserungsfähig und als Dauerzustand anzusehen seien. Bezüglich der Lungentuberkulose könne nochmals eine Nachuntersuchung im Jahre 1962 vorgemerkt werden.

In einer Stellungnahme vom 30.03.1962 zur geplanten Nachuntersuchung beurteilte Dr.A.M. die MdE für die Lungentuberkulose wiederum mit 40 vH und hielt eine Nachuntersuchung in Zukunft nicht mehr für erforderlich. Versorgungsrechtlich bestand hiermit Einverständnis (Aktenverfügung vom 30.03.1962).

Am 09.04.1962 stellte Dr.A.M. fest, dass sich aus der Fürsorgeakte des Gesundheitsamtes Coburg ergebe, dass bei den letzten Untersuchungen am 14.02.1961 und 03.04.1962 unveränderte Befunde der bereits verkalkten, beidseitigen Oberlappentuberkulose festgestellt worden seien, wie sie sich zuletzt bei der versorgungsärztlichen Nachuntersuchung im Jahr 1956 gezeigt hätten.

Mit Abhilfebescheid vom 24.03.1966 gewährte der Beklagte Rente nach einer MdE um 50 vH unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit gem § 30 Abs 2 BVG und bewilligte mit Bescheid vom 15.06.1966 Berufsschadensausgleich (BSA) unter Zugrundelegung des Einkommens der Besoldungsgruppe A 9 (Berufsoffizier) ab 01.04.1964. Die Bescheide wurden bindend.

Mit Neufeststellungsbescheid vom 14.01.1976 entzog der Beklagte nach Einholung eines lungenärztlichen Gutachtens der Dres.R. und E. vom 25.09.1975 (Bezirkskrankenhaus K.) mit Wirkung ab 01.03.1976 die mit Bescheid vom 24.03.1966 nach einer MdE um 50 vH (einschl einer besonderen beruflichen Betroffenheit) gewährte Beschädigtenrente wegen Ausheilung der Lungentuberkulose zur Inaktivität (nunmehr MdE unter 25 vH). Die Dres.R. und E. gingen in ihrem Gutachten von einer erwiesenen 20jährigen Inaktivität der Lungentuberkulose aus. Als Schädigungsfolgen anerkannte der Beklagte nunmehr mit einer MdE von unter 25 vH: 1. Zur Inaktivität ausgeheilte, wenig ausgedehnte Oberlappentuberkulose beidseits 2. ohne Funktionsstörung sicher ausgeheilte, ehemals unspezifische Nierenbecken- und Blasenentzündung 3. Narben nach Splitterverletzung am rechten Oberarm, rechten Bein und Hodensack sowie nach Durchschuss am linken Mittelfuß.

Die Klage gegen diesen Bescheid war erfolglos (Urteil des LSG vom 14.04.1977). Die Zahlung von BSA stellte der Beklagte mit Bescheid vom 26.05.1978 ebenfalls ab 01.03.1976 ein.

Auf den Antrag vom 28.01.1979 anerkannte der Beklagte mit Bescheid vom 31.05.1979 als weitere Schädigungsfolgen 4. Weichteilstecksplitter von Stecknadelkopf- bis Erbsengröße zwischen rechtem Sitzbein und Schenkelhals.

Die MdE betrug - wie bisher - unter 25 vH.

Einen Verschlimmerungsantrag vom 21.05.1995 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 21.09.1995 ab. Widerspruch und Klage waren erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 17.04.1996, Urteil des SG Bayreuth vom 24.09.1998). Im Berufungsverfahren hat der Kläger nach Einholung einer Reihe medizinischer Gutachten (Prof. Dr.F. vom 18.05.1999, Dr.T. vom 03.11.1999, Dr.H. vom 11.10.2000) durch den Senat die Feststellung weiterer Schädigungsfolgen nicht mehr begehrt.

Mit Schreiben vom 14.11.2000 hat der Kläger die Wiedergewährung der mit den Bescheiden vom 14.01.1976 und 26.05.1978 aberkannten Beschädigtenversorgung im Wege des § 44 SGB X beantragt. Zur Begründung hat er ausgeführt, ein (etwaiges) Recht des Beklagten auf Feststellung einer Änderung der Verhältnisse iS einer Besserung sei am 14.01.1976 verwirkt gewesen, da nach dem vom Senat eingeholten Gutachten des Prof.Dr.F. vom 18.05.1999 die Lungentuberkulose seit 1954 ausgeheilt gewesen sei.

Der Beklagte hat eine Rücknahme des Bescheides vom 14.01.1976 mit Bescheid vom 08.03.2001 mit der Begründung abgelehnt, eine Nachuntersuchung des Klägers sei jederzeit möglich gewesen. Der Vermerk in den Versorgungsakten, dass eine Nachprüfung nicht mehr erforderlich sei, habe keine Außenwirkung erlangt und den Beklagten daher nicht gebunden. Das Recht, eine Neufeststellung zu treffen, sei nicht verwirkt gewesen.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,

den Bescheid vom 08.03.2001 aufzuheben und unter Abänderung des Bescheides vom 14.01.1976 für die Schädigungsfolgen Nr.1 eine MdE von 40 vH festzustellen mit der Folge, dass ab 01.01.1996 gemäß § 30 Abs 2 BVG die Rente auf 50 vH erhöht wird und Berufsschadensausgleich wieder gewährt wird.

Der Bevollmächtigte des Beklagten beantragt,

die Klage gegen den Bescheid vom 08.03.2001 zurückzuweisen.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Beschädigtenakte des Beklagten, die Akte des Landesamtes Coburg, die Archivakten des SG Bayreuth S 9 V 1059/66, S 5 V 506/79, S 5 V 491/82, S 5 V 578/82, die Archivakten des Bayer.Landessozialgerichts L 15 V 937/71 und L 15 V 203/83 sowie die Gerichtsakten der ersten und zweiten Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte (§§ 143, 151 SGG) Berufung ist zulässig und begründet. Der Klage gegen den Bescheid vom 08.03.2001 war stattzugeben. Dem Kläger steht Beschädigtenversorgung im Wege einer Zugunstenentscheidung ab 01.01.1996 wieder zu. Der Bescheid vom 14.01.1976 war dahingehend abzuändern, dass für die anerkannten Schädigungsfolgen (weiterhin) eine MdE von 40 vH festzustellen ist.

Streitgegenständlich ist nur noch der im Verlauf des Berufungsverfahrens erlassene Bescheid vom 08.03.2001. Der Kläger hat sein ursprüngliches Berufungsbegehren, weitere Schädigungsfolgen festzustellen, nicht mehr weiter verfolgt.

Der vom Beklagten nach § 44 SGB X erlassene Bescheid vom 08.03.2001 ist gem §§ 96, 153 Abs 1 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Dieser Bescheid hat zwar nicht - wie § 96 Abs 1 SGG vorschreibt - den eine Neufeststellung ablehnenden Bescheid vom 21.09.1995 geändert oder ersetzt. Die Vorschrift des § 96 SGG ist aber unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie weit auszulegen. Das BSG wendet § 96 SGG daher entsprechend an, wenn der neue Verwaltungsakt mit dem Streitstoff im Zusammenhang steht und der Grundgedanke des § 96 SGG seine Einbeziehung rechtfertigt. So ist es hier. Der Anspruch auf Neufeststellung der Schädigungsfolgen und der Anspruch auf Rücknahme des belastenden Verwaltungsakts vom 14.01.1976 stehen im Zusammenhang, da beide Ansprüche auf die Gewährung von Beschädigtenversorgung gerichtet sind.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 14.01.1976. Nach § 44 Abs 1 SGB X (in Kraft ab 01.01.1981 gem Art II, Dritter Abschnitt, § 40 Abs 1 Satz 1 SGB X) ist ein Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. § 44 ist auch dann anzuwenden, wenn der aufzuhebende Verwaltungsakt vor dem 01.01.1981 erlassen worden ist (aaO Abs II). Die Bestätigung eines Verwaltungsakts durch ein Urteil - hier Urteil des BayLSG vom 14.04.1977 - steht seiner Aufhebung auch für die Vergangenheit nicht entgegen (Schroeder-Printzen-Wiesner, SGB X, 3.Aufl, Vor-§§ 44 bis 49 RdNr 7 unter Verweisung auf BSG SozR 3900 § 40 VwVfG Nrn 1, 3, 15).

Der Beklagte hat bei der Entziehung der Beschädigtenrente das Recht unrichtig angewandt. Er durfte den bindend gewordenen Bescheid vom 22.09.1956 nicht mehr zum Nachteil des Klägers mit Bescheid vom 14.01.1976 ändern.

Als gesetzliche Grundlage für die Herabsetzung der MdE kam § 62 BVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 16.06.1975 (BGBl I S 1365) in Betracht. § 62 Abs 1 Satz 1 BVG in der bis 31.12.1980 geltenden Fassung bestimmte - wie § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ab 01.01.1981 - dass der Anspruch auf Versorgung entsprechend neu festzustellen ist, wenn in den Verhältnissen, die für die frühere Feststellung des Anspruches maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Dabei ist von den Verhältnissen auszugehen, die bei Erlass des früheren Bescheides objektiv vorgelegen haben und Grundlage dieser Entscheidung gewesen sind. Als Vergleichsgrundlage sind - entgegen der Auffassung des LSG im Urteil vom 14.04.1977 - nicht diejenigen Verhältnisse heranzuziehen, die dem Bescheid vom 22.09.1956 zugrunde gelegen haben, sondern diejenigen bei Erlass des Umanerkennungsbescheides vom 27.04.1953. Der Beklagte hat nämlich im Bescheid vom 22.09.1956 das Lungenleiden unverändert mit einer Einzel-MdE von 40 bewertet und die Herabbemessung der Gesamt-MdE von 60 vH auf 40 vH wegen Besserung der anerkannten Schädigungsfolgen "chronische Nierenbecken- und Blasenentzündung" vorgenommen. Maßgeblicher Vergleichsbescheid ist derjenige, in dem über die jetzt, dh mit Bescheid vom 14.01.1976, geänderte Leistungsvoraussetzung entschieden worden ist, in der Regel somit der erste Anerkennungsbescheid (vgl Schröder-Printzen-Wiesner aaO § 48 RdNr 7 unter Verweisung auf BSG SozR 1300 § 45 Nr 37).

Die tatsächlichen (medizinischen) Voraussetzungen für eine Neufeststellung des Verwaltungsaktes (Herabbemessung der MdE) haben zweifellos vorgelegen, da nach Erlass des Umanerkennungsbescheides vom 27.04.1953 Umstände eingetreten sind, die eine Änderung des Leidenszustandes "Lungentuberkulose" bedeuteten und deshalb auch eine Änderung der ärztlichen Beurteilung des Leidenszustandes begründeten. Der bloße Zeitablauf, etwa das Altern eines Beschädigten genügt hierzu regelmäßig nicht, sofern dadurch das Leiden als solches nicht berührt wird. Bei der Lungentuberkulose spielt indes der Zeitfaktor für die Beurteilung des Leidenszustandes eine wesentliche Rolle, nämlich dann, wenn Aktivitätszeichen der Tuberkulose für längere Zeit ausbleiben (BSGE 17, 63 [64]). Die wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 62 Abs 1 BVG liegt hier in dem jahrelangen Inaktivbleiben einer vorher aktiven und ihrer Natur nach zu Rückfällen neigenden Krankheit. Nach medizinischer Erfahrung erlaubt es der Charakter der Tuberkuloseerkrankung regelmäßig erst bei fünfjähriger Inaktivität, die klinische Heilung, dh das "Zum-Stillstand-Kommen" mit genügender Sicherheit festzustellen (aaO unter Verweisung auf Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Neuausgabe 1958 S 82 zu d und h). Der Beklagte konnte daher ohne Rechtsirrtum in der klinischen Heilung eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 62 BVG erblicken, weil nach dem Übergang der aktiven Lungen-TBC in eine inaktive TBC der Zustand der Inaktivität im Zeitpunkt der Neufeststellung fünf Jahre angedauert hatte.

Gleichwohl ist der Neufeststellungsbescheid vom 14.01.1976 teilweise rechtswidrig und abzuändern. Das Lungenleiden des Klägers ist zwar zum Stillstand gekommen und der Beklagte konnte die Schädigungsfolge neu bezeichnen, die MdE für diese Schädigungsfolge durfte er aber nicht mehr herabbemessen, da er sein Recht hierzu verwirkt hatte.

Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist vorliegend nicht deshalb ausgeschlossen, weil § 62 Abs 3 BVG bestimmt, dass bei Versorgungsberechtigten, die das 55. Lebensjahr vollendet haben, die MdE wegen Besserung des Gesundheitszustandes nicht niedriger festzusetzen ist, wenn sie in den letzten zehn Jahren seit Feststellung nach diesem Gesetz unverändert geblieben ist. Aus dieser Regelung kann nicht geschlossen werden, dass in allen übrigen Fällen eine Neufeststellung ohne zeitliche Begrenzung getroffen werden kann. Auch der bei der Entziehung der Rente erst 51-jährige Kläger muss eine rechtsmissbräuchliche Neufeststellung nicht hinnehmen. Für Neufeststellungen ab 01.01.1981 bedarf es des Rechtsinstitus der Verwirkung im Hinblick auf die Zehn-Jahresfrist des § 48 Abs 4 nicht mehr. § 48 Abs 4 Satz 1 SGB X begrenzt nämlich die Anwendung des § 45 Abs 3 Satz 3 SGB X im Rahmen des § 48 nicht auf bestimmte Fälle, so dass davon auszugehen ist, dass nach zehn Jahren seit einer wesentlichen Änderung der begünstigende Verwaltungsakt in keinem Falle mehr aufgehoben werden kann (aaO § 48 RdNr 28).

Das Rechtsinstitut der Verwirkung ist in Rechtslehre und Rechtsprechung seit langem anerkannt. Es wird aus dem Grundsatz des § 242 BGB über Treu und Glauben abgeleitet und hat im Wesentlichen zum Inhalt, dass es als eine unzulässige Rechtsausübung angesehen werden muss, wenn ein Recht im Widerspruch zu eigenem früheren Verhalten geltend gemacht wird. Dieser Grundsatz ist allgemein im öffentlichen Recht, insbesondere aber auch im Sozialrecht anerkannt (vgl BSGE 35,91 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen). Als wesentliche Kriterien dafür, ob die Geltendmachung eines Rechts im Zivilrecht wegen Verwirkung unzulässig ist, sind folgende Umstände anzusehen: Es muss zunächst einmal ein längerer Zeitablauf vorliegen; hierzu müssen jedoch noch weitere Umstände hinzutreten, die nach den jeweiligen Besonderheiten des einzelnen Falles und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts nach Treu und Glauben dem Verpflichteten gegenüber als illoyal erscheinen lassen, dh als pflicht- und gesetzwidrig. Ferner muss der Schuldner auf ein dem bisherigen Verhalten entsprechendes Verhalten des Gläubigers vertraut und daraus den Schluss gezogen haben dürfen, dass der andere sein Recht nicht mehr gegen ihn ausüben werde. Ein solches Vertrauen und eine solche Annahme müssen auch tatsächlich vorliegen; ferner muss sich der Schuldner darauf eingerichtet und entsprechende Maßnahmen für seine Lebensführung getroffen haben. Dabei haben mehr oder weniger deutlich stets die Besonderheiten des konkreten Einzelfalles ein überragendes Gewicht (BSG aaO mwN).

Der Senat sieht den entscheidenden Grund für die Annahme der Verwirkung in der außerordentlich langen Dauer des unbehelligten Rentenbezugs durch den Kläger. Dieser hat 20 Jahre lang wegen eines inaktiven Lungenleidens Versorgungsleistungen erhalten. Es wird zwar allgemein die bloße Zeitdauer nicht als ausreichend angesehen, um den Tatbestand einer Verwirkung eines Rechts anzunehmen. Vielmehr müssen besondere Umstände hinzutreten, die das (verspätete) geltendmachendes Recht als missbräuchlich erscheinen lassen. Andererseits ist die Zeitdauer aber ein wesentliches Element für die Frage des Eintritts der Verwirkung, weil sich nach ihr das Maß und der Grad der sozialrechtlichen Verpflichtung der Versorgungsverwaltung zum Festhalten an der einmal getroffenen begünstigenden Regelung bemisst. Selbst wenn man aber grundsätzlich nicht so weit gehen will, einen bestimmten Zeitablauf für sich allein schon ausreichend sein zu lassen, um der Beseitigung einer so lange zu Unrecht innegehabte Rechtsstellung den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung entgegensetzen zu können, so muss jedenfalls davon ausgegangen werden, dass die Anforderung an Art und Ausmaß jener sonstiger Umstände umso geringer ist und umso weiter sinkt, je länger der Zeitablauf angedauert hat bzw andauert (aaO). Vorliegend kann ferner nicht unbeachtet bleiben, dass der Grund für die unrichtige Rentenbewilligung ausschließlich im Verantwortungsbereich des Beklagten gelegen hat.

Der Senat erachtet folgende besondere Umstände für geeignet, beim Kläger eine gesicherte Rechtsposition auf der Grundlage von Treu und Glauben entstehen zu lassen: Der Beklagte wusste auf Grund der Begutachtungsergebnisse seit 1950, dass sich die Lungentuberkulose des Klägers in Ausheilung befand. Die erste Anerkennung der Schädigungsfolge mit Bescheid vom 20.12.1950 nach dem KB-Leistungsgesetz lautete bereits "Lungentuberkulose in Ausheilung". Die Begutachtung durch die Medizinische Universitätsklinik W. , die dem Umanerkennungsbescheid vom 27.04.1953 vorausging, erbrachte keinen Nachweis einer Aktivität des Leidens, ebensowenig das Nachuntersuchungsgutachten des Dr.H. vom 20.09.1956. Einen Widerspruch des Klägers vom 14.10.1956 wies der Beklagte mit der Begründung zurück, der Verdacht auf eine Aktivität der Lungenerkrankung bestehe nicht mehr. Bereits zu diesem Zeitpunkt war ein rückfallfreier Zeitraum von fünf Jahren gegeben und lagen die Voraussetzungen für eine Neufeststellung vor. Die 1958 von Dr.A.M. vorgesehene Nachuntersuchung für das Jahr 1962 hat dieser Arzt am 30.03.1962 nicht mehr für erforderlich gehalten und für die Zukunft eine Nachuntersuchung ausgeschlossen. Es mag zutreffen, dass aus dem internen Aktenvermerk keine Bindungswirkung der Beklagten dergestalt folgt, dass eine Nachuntersuchung nicht mehr zulässig ist. Dies schließt aber nicht aus, dass jedenfalls im Jahr 1976 Verwirkung eingetreten ist. Das vom Beklagten eingeholte lungenärztliche Gutachten der Dres.R. und E. vom 25.09.1975 hat lediglich die medizinische Sachlage bestätigt, die den Beklagten nach den Untersuchungsergebnissen und nach Lage der Akten seit 1956 bekannt war. Auch das vom Senat eingeholte Gutachten des Prof.Dr.F. vom 18.05.1999 hat diesen medizinischen Sachverhalt lediglich bestätigt.

Hinzukommt, dass der Kläger am 18.04.1963 Einsicht in seine Versorgungsakten genommen hat und deshalb ohne Weiteres zu der Annahme gelangen konnte, dass die Bewertung des Lungenleidens mit einer Einzel-MdE von 40 vH künftig nicht mehr in Zweifel gezogen werden würde. Schließlich hat der Beklagte in der Zeit nach 1956 zahlreiche Umstellungen und Neufeststellungen der Rente auf Grund der verschiedenen Änderungen im Versorgungsrecht vorgenommen. Auch soweit es sich hierbei im internen Verfahren der Verwaltung nur um Rechenwerk gehandelt hat, um die neue Höhe der Rente zu ermitteln, kann ein solches Wissen dem Staatsbürger nicht zugemutet werden; schon gar nicht können ihm aus dem Nichtwissen über solche Zusammenhänge nachteilige Folgen angelastet werden. Das wäre aber der Fall, wollte man es zum Nachteil des Rentenempfängers unbeachtet lassen, dass er in seiner Rentenangelegenheit über Jahrzehnte hinweg immer wieder neue Bescheide regelmäßig rentenerhöhender Art erhalten hat, ohne ihm zugutezuhalten, dass er auch aus diesem Verhalten der Behörde auf das Anerkennen des Bestandes seines Rentenrechts schließen durfte (aaO). Es kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass dem Kläger auf der Grundlage der anerkannten Schädigungsfolge "Lungentuberkulose" mit Bescheid vom 24.03.1966 eine besondere berufliche Betroffenheit zuerkannt worden ist und ihm auch mit Bescheid vom 15.06.1966 wegen der Schädigungsfolgen BSA gewährt worden ist.

Diese besonderen Umstände des Einzelfalles treten zur langen Zeitdauer des Rentenbezuges hinzu. Sie ergeben gleichzeitig, dass sich der Kläger auf die Weitergewährung der Rente einstellen, er also darauf vertrauen durfte, dass der Beklagte seine früher offenbar einmal vorhandenen Bedenken verloren hatte und die Zahlungen an ihn nicht mehr einstellen würde. Es unterliegt keinem Zweifel, dass sich der Kläger auch darauf eingestellt hat.

Nach alledem steht dem Kläger auf Grund seines Antrags vom 14.11.2000 Versorgungsrente ab 01.01.1996 nach einer MdE von 50 vH zu (§ 44 Abs 4 SGB X). Da der Kläger entsprechend dem bindenden Bescheid vom 24.03.1966 Schwerbeschädigter ist, ist auch dem Bescheid vom 15.06.1966 nicht die Grundlage entzogen, mit welchem dem Kläger ab 01.04.1964 BSA unter Zugrundelegung des Endgrundgehalts der Besoldungsgruppe A 9 des Bundesbesoldungsgesetzes bewilligt worden war. Einer Aufhebung des Bescheides vom 26.05.1978 (Einstellung der Gewährung von BSA) bedurfte es nicht, da der Beklagte BSA von Amts wegen (wieder) zu gewähren hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision iS des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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