Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 15 AL 684/99
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AL 208/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 27.03.2001 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 08.06.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.1999 abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten die Teil-Aufhebung einer Arbeitslosengeld (Alg)-Bewilligung und die Rückforderung von überzahltem Alg in Höhe von 1.525,55 DM.
Die am 1968 geborene Klägerin war zuletzt vom 01.01.1995 bis 18.06.1995 als Krankenpflegehelferin in W. tätig. Anschließend bezog sie Mutterschaftsgeld. Danach war sie vom 01.08.1995 bis 31.07.1998 in Erziehungsurlaub. Am 09.07.1998 meldete sie sich bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Sie gab an, für eine Tätigkeit von 20 Stunden wöchentlich zur Verfügung zu stehen. In dieser Zeit sei die Kinderbetreuung sichergestellt.
Am 28.08.1998 erklärte die Klägerin, dass sie im Hinblick auf die Kindergartenöffnungszeiten an ihrem Wohnort T. von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr ab dem 01.09.1998 Montag bis Freitag von 8.30 Uhr bis 11.30 Uhr arbeiten könne. Sie sei bereit, alle zumutbaren Tätigkeiten während dieser Zeit anzunehmen.
Mit Bescheid vom 09.10.1998 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab dem 01.09.1998 Alg. In einem dem Bescheid beigefügten Schreiben vom gleichen Tag führte sie aus, dass die Klägerin nach ihren Angaben im Leistungsantrag infolge tatsächlicher Bindungen nicht mehr in der Lage sei, die im Bemessungszeitraum in der Woche geleistete Arbeitszeit weiterhin zu erbringen. Der Bemessung des Alg habe ein wöchentliches Entgelt von 1.070,40 zugrunde gelegen. Dieses Entgelt sei durch die im Bemessungszeitraum geleistete wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden zu dividieren und mit der der Klägerin noch möglichen Arbeitszeit von 20 Stunden zu multiplizieren. Daraus ergebe sich ein Bemessungsentgelt von 556,05 DM.
Mit Bescheid vom 08.06.1999 hob die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Alg ab dem 01.09.1998 teilweise in Höhe von 39,62 wöchentlich auf, da die Klägerin ab dem 01.09.1998 dem Arbeitsmarkt lediglich für 15 nicht jedoch für 20 Stunden pro Woche zur Verfügung gestanden habe.
Hiergegen legte die Klägerin am 18.06.1999 Widerspruch ein. Die Rückforderung verstoße gegen § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Der Beklagten seien sämtliche Fakten bekannt gewesen, falsche Angaben habe die Klägerin nicht gemacht.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.1999 zurück. Die Klägerin habe grob fahrlässig gehandelt, denn sie hätte erkennen müssen, dass bei der Berechnung des Bemessungsentgeltes von einer falschen Berechnungsgrundlage ausgegangen worden sei.
Dagegen hat die Klägerin am 22.07.1999 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben.
Mit Urteil vom 27.03.2001 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Rechtsgrundlage für die teilweise Aufhebung der Alg-Bewilligung bilde § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X. Danach könne eine Begünstigte nicht auf den Bestand eines Verwaltungsaktes vertrauen, wenn sie dessen Rechtswidrigkeit kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Die Klägerin habe jedoch nicht grob fahrlässig im Sinne der Vertrauenstatbestände des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X gehandelt. Grobe Fahrlässigkeit liege nur dann vor, wenn die in der Personengruppe herrschende Sorgfaltspflicht in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden sei, wenn außer Acht gelassen worden wäre, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Die Rechtswidrigkeit müsse sich dabei ohne weitere Nachforschungen aus dem Bescheid selbst ergeben. Es müsse anhand der Umstände und ganz nahe liegender Überlegungen einleuchten und auffallen, dass der Bescheid fehlerhaft sei. Die Klägerin habe die Rechtswidrigkeit der zu hohen Alg-Bemessung weder aus dem Bescheid noch aus dem Hinweis im Schreiben vom 09.10.1998 entnehmen können. Selbst wenn man in dem nicht zur Kenntnis nehmen des Hinweises auf die zugrundelegende wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden einen Sorgfaltsverstoß erblicke, handle es sich dabei keinesfalls um einen ungewöhnlich hohen. Der Fehler sei nicht mit ganz naheliegenden Überlegungen erkennbar gewesen.
Gegen das ihr am 12.04.2001 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit der am 14.05.2001 (einem Montag) beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) eingelegten Berufung.
Der Klägerin sei im Begleitschreiben vom 09.10.1998 mitgeteilt worden, dass bei der Bemessung ihres Algs eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden zugrunde gelegt worden war. Aus diesem leicht verständlichen Schreiben und ihrer Erklärung vom 28.08.1998, in der sie ihre Arbeitsbereitschaft auf 15 Stunden wöchentlich beschränkt hatte, hätte sie unter Beachtung ihres Bildungsstandes ohne weitere Überlegungen oder gar Berechnungen die teilweise Rechtswidrigkeit der Alg-Bewilligung erkennen können. Wenn die Klägerin das Schreiben vom 09.10.1998 nicht bzw nicht mit der nötigen Sorgfalt gelesen habe, liege grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X vor, denn wer Hinweise in Bescheiden oder Schreiben des Arbeitsamtes nicht beachte bzw nicht zur Kenntnis nehme, verletze seine Sorgfaltspflichten in besonders schwerem Maße. Die Anhörung der Klägerin nach § 24 SGB X werde hiermit gem § 41 Abs 2 SGB X idF des 4. Euro-Einführungsgesetzes (BGBl 2000, Teil I, S 1983) nachgeholt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 27.03.2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie habe ihre Sorgfaltspflicht nicht in einem ungewöhlich hohen Maße verletzt. Bei ihrer Alg-Berechnung hätten keine evidenten oder auffallend hohen Überzahlungen vorgelegen, die ihr sofort hätten ins Auge springen müssen. Sie habe ihre Sorgfaltspflicht lediglich insoweit verletzt, als sie nicht noch einmal kontrolliert habe, ob die Berechnung von einer wöchentlichen Arbeitszeit von 15 oder 20 Stunden ausgegangen sei.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 02.07.2002 hat die Klägerin ergänzend erklärt, dass die Niederschrift vom 28.08.1998 auf ihren Angaben beruhe und sie dies durch ihre Unterschrift bestätigt habe. Den Bescheid vom 09.10.1998 mit den Anlagen habe sie zwar gelesen. Sie habe die Berechnung aber nicht im Einzelnen überprüft. Insbesondere sei ihr nicht aufgefallen, dass das Arbeitsamt von einer noch möglichen Arbeitszeit von 20 Stunden ausgegangen sei.
Auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakten des SG und des BayLSG wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) ist auch im Übrigen zulässig (§ 144 SGG).
Das Rechtsmittel erweist sich in der Sache auch als begründet, denn das SG hat im angefochtenen Urteil vom 27.03.2001 zu Unrecht den Bescheid der Beklagten vom 08.06.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.07.1999 aufgehoben.
Rechtsgrundlage für die rückwirkende Teil-Aufhebung der Alg-Bewilligung im Bescheid vom 08.06.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.1999 bildet hier § 45 Abs 1 und 2 Satz 3 Nr 3 SGB X. Danach kann ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), wie der Bescheid über die Bewilligung von Alg vom 09.10.1998 auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn das Vertrauen der Begünstigten (= der Klägerin) unter Abwägung mit den öffentlichen Interessen an einer Rücknahme nicht schutzwürdig ist. Auf Vertrauen kann sich eine Begünstigte dann nicht berufen, wenn sie die Rechtwidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X).
Entgegen der Auffassung des SG geht der Senat davon aus, dass bei der Klägerin hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Alg-Bewilligungsbescheides vom 09.10.1998 grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X vorlag, da sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfache, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (BSGE 42, 184, 187 = SozR 4100 § 152 Nr 3; BSGE 62, 32, 35 = SozR 4100 § 71 Nr 2; BSG, Urteil vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R, SozR 3-1300 § 45 Nr 45). Ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt, ist im Wesentlichen eine Frage des Einzelfalles. Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff: BSGE 35, 108, 112; 44, 264, 273 = SozR 5870 § 13 Nr 20). Bezugspunkt für grob fahrlässiges Nichtwissen ist nach dem Wortlaut des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde. Allerdings können Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung, auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grob fahrlässigen Nichtwissens sind (BVerwG Buchholz 436.36 § 20 BAFöG Nr 24; vgl auch BSGE 62, 103, 106 = SozR 1300 § 48 Nr 39), Anhaltspunkt für die Begünstigte sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen der Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind, der Fehler ihr bei ihren subjektiven Erkenntnismöglichkeiten geradezu "in die Augen springt" (BSG vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R, SozR 3-1300 § 45 Nr 45).
Dies ist hier der Fall. Für das Erkennen der Unrichtigkeit der Alg-Bewilligung durch die Beklagte bedurfte es seitens der Klägerin keiner komplizierten Berechnungen anhand von Merkblättern oder auf der Rückseite des Bewilligungsbescheides mitgeteilter Berechnungsschemas. Die Beklagte hatte der Klägerin vielmehr im Begleitschreiben vom 09.10.1998 erläutert, dass der Berechnung ihres Alg-Anspruches eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden zugrunde lag. Diese leicht verständliche Formulierung ("mit der Ihnen noch möglichen Arbeitszeit von 20 Stunden") stand im Widerspruch zu den eigenen zeitnahen Erklärungen der Klägerin vom 28.08.1998, wonach sie sich ausdrücklich nur für 15 Stunden wöchentlich dem Arbeitsmarkt in T. zur Verfügung gestellt hatte (Montag bis Freitag von 8.30 Uhr bis 11.30 Uhr). Dabei war sie davon in Kenntnis gesetzt worden, dass sie mit einer Minderung der Leistung zu rechnen habe. Es war somit für die Klägerin auch als juristische Laiin ohne weitere rechtliche Überlegungen erkennbar, dass die Alg-Berechnung durch die Beklagte (ausgehend von 20 Stunden wöchentlich) unrichtig war, so dass unter den hier gegebenen Umständen eine Sorgfaltspflichtverletzung der Klägerin in besonders schwerem Maße vorliegt.
Die Klägerin kann sich auch nicht darauf berufen, dass sie nicht kontrolliert habe, ob bei der Berechnung von einer wöchentlichen Arbeitszeit von 15 oder 20 Stunden ausgegangen worden war. Eine Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, besteht auch, wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. In verschiedenen Zusammenhängen hat das BSG aus dem Sozialrechtsverhältnis hergeleitet, dass die Beteiligten "sich gegenseitig vor vermeidbaren, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren" haben (vgl BSGE 34, 124, 127 = SozR Nr 25 zu § 29 RVO; BSGE 77, 175, 180 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2; BSG vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R). In die gleiche Richtung deutet die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr 24; für Beamte vgl BVG-Entscheidung 40, 212, 217). Wäre die Sozialleistungsberechtigte überhaupt nicht gehalten, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, so wären die Vorschriften über Inhalt, Form, Begründung und Bekanntgabe von Verwaltungsakten (vgl §§ 31 ff SGB X) nicht verständlich (vgl dazu BVerwG Buchholz 4336.36 § 20 BAföG Nr 24; BSG vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00, SozR 3-1300 § 45 Nr 45).
Der bloße Glaube, es werde schon alles seine Richtigkeit haben, reicht zur Beseitigung der groben Fahrlässigkeit nicht aus. Dies entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl entsprechende Nachweise bei Schroeder/Printzen, Engelmann, Schmalz, Wiesner, von Wulffen: SGB X, 3.Aufl, § 45 Anm 23 ff; Kasseler Kommentar, Stand Dezember 1998, SGB X, § 45 RdNr 39 ff; Gagel, SGB III - Arbeitsförderung - Stand Juni 1999, § 330 RdNrn 20 ff). Wenn also die Klägerin eine entsprechende Überprüfung des Bescheides vom 09.10.1998 nicht vorgenommen hat, um sich davon zu überzeugen, dass das ihr gezahlte Alg auch der Höhe nach zutreffend festgesetzt worden ist, muss ihr der Vorwurf grober Fahrlässigkeit gemacht werden. Sie kann sich nicht darauf berufen, dass sie die von der Beklagten zu Unrecht erbrachten Leistungen verbraucht hat.
Da somit die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigten Verwaltungsaktes vorliegen, war die Beklagte verpflichtet, diesen mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, ohne dass ihr dabei ein Ermessen eingeräumt war (§ 330 Abs 2 SGB III).
Die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X wurde eingehalten.
Die erforderliche Anhörung wurde im Berufungsverfahren nachgeholt (§ 41 Abs 2 SGB X).
Demzufolge war das Urteil des SG Nürnberg vom 27.03.2001 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 08.06.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.1999 abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Gründe, die Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist zwischen den Beteiligten die Teil-Aufhebung einer Arbeitslosengeld (Alg)-Bewilligung und die Rückforderung von überzahltem Alg in Höhe von 1.525,55 DM.
Die am 1968 geborene Klägerin war zuletzt vom 01.01.1995 bis 18.06.1995 als Krankenpflegehelferin in W. tätig. Anschließend bezog sie Mutterschaftsgeld. Danach war sie vom 01.08.1995 bis 31.07.1998 in Erziehungsurlaub. Am 09.07.1998 meldete sie sich bei der Beklagten arbeitslos und beantragte die Gewährung von Alg. Sie gab an, für eine Tätigkeit von 20 Stunden wöchentlich zur Verfügung zu stehen. In dieser Zeit sei die Kinderbetreuung sichergestellt.
Am 28.08.1998 erklärte die Klägerin, dass sie im Hinblick auf die Kindergartenöffnungszeiten an ihrem Wohnort T. von 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr ab dem 01.09.1998 Montag bis Freitag von 8.30 Uhr bis 11.30 Uhr arbeiten könne. Sie sei bereit, alle zumutbaren Tätigkeiten während dieser Zeit anzunehmen.
Mit Bescheid vom 09.10.1998 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab dem 01.09.1998 Alg. In einem dem Bescheid beigefügten Schreiben vom gleichen Tag führte sie aus, dass die Klägerin nach ihren Angaben im Leistungsantrag infolge tatsächlicher Bindungen nicht mehr in der Lage sei, die im Bemessungszeitraum in der Woche geleistete Arbeitszeit weiterhin zu erbringen. Der Bemessung des Alg habe ein wöchentliches Entgelt von 1.070,40 zugrunde gelegen. Dieses Entgelt sei durch die im Bemessungszeitraum geleistete wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden zu dividieren und mit der der Klägerin noch möglichen Arbeitszeit von 20 Stunden zu multiplizieren. Daraus ergebe sich ein Bemessungsentgelt von 556,05 DM.
Mit Bescheid vom 08.06.1999 hob die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Alg ab dem 01.09.1998 teilweise in Höhe von 39,62 wöchentlich auf, da die Klägerin ab dem 01.09.1998 dem Arbeitsmarkt lediglich für 15 nicht jedoch für 20 Stunden pro Woche zur Verfügung gestanden habe.
Hiergegen legte die Klägerin am 18.06.1999 Widerspruch ein. Die Rückforderung verstoße gegen § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Der Beklagten seien sämtliche Fakten bekannt gewesen, falsche Angaben habe die Klägerin nicht gemacht.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.1999 zurück. Die Klägerin habe grob fahrlässig gehandelt, denn sie hätte erkennen müssen, dass bei der Berechnung des Bemessungsentgeltes von einer falschen Berechnungsgrundlage ausgegangen worden sei.
Dagegen hat die Klägerin am 22.07.1999 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben.
Mit Urteil vom 27.03.2001 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Rechtsgrundlage für die teilweise Aufhebung der Alg-Bewilligung bilde § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X. Danach könne eine Begünstigte nicht auf den Bestand eines Verwaltungsaktes vertrauen, wenn sie dessen Rechtswidrigkeit kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Die Klägerin habe jedoch nicht grob fahrlässig im Sinne der Vertrauenstatbestände des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X gehandelt. Grobe Fahrlässigkeit liege nur dann vor, wenn die in der Personengruppe herrschende Sorgfaltspflicht in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden sei, wenn außer Acht gelassen worden wäre, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Die Rechtswidrigkeit müsse sich dabei ohne weitere Nachforschungen aus dem Bescheid selbst ergeben. Es müsse anhand der Umstände und ganz nahe liegender Überlegungen einleuchten und auffallen, dass der Bescheid fehlerhaft sei. Die Klägerin habe die Rechtswidrigkeit der zu hohen Alg-Bemessung weder aus dem Bescheid noch aus dem Hinweis im Schreiben vom 09.10.1998 entnehmen können. Selbst wenn man in dem nicht zur Kenntnis nehmen des Hinweises auf die zugrundelegende wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden einen Sorgfaltsverstoß erblicke, handle es sich dabei keinesfalls um einen ungewöhnlich hohen. Der Fehler sei nicht mit ganz naheliegenden Überlegungen erkennbar gewesen.
Gegen das ihr am 12.04.2001 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit der am 14.05.2001 (einem Montag) beim Bayer. Landessozialgericht (BayLSG) eingelegten Berufung.
Der Klägerin sei im Begleitschreiben vom 09.10.1998 mitgeteilt worden, dass bei der Bemessung ihres Algs eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden zugrunde gelegt worden war. Aus diesem leicht verständlichen Schreiben und ihrer Erklärung vom 28.08.1998, in der sie ihre Arbeitsbereitschaft auf 15 Stunden wöchentlich beschränkt hatte, hätte sie unter Beachtung ihres Bildungsstandes ohne weitere Überlegungen oder gar Berechnungen die teilweise Rechtswidrigkeit der Alg-Bewilligung erkennen können. Wenn die Klägerin das Schreiben vom 09.10.1998 nicht bzw nicht mit der nötigen Sorgfalt gelesen habe, liege grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X vor, denn wer Hinweise in Bescheiden oder Schreiben des Arbeitsamtes nicht beachte bzw nicht zur Kenntnis nehme, verletze seine Sorgfaltspflichten in besonders schwerem Maße. Die Anhörung der Klägerin nach § 24 SGB X werde hiermit gem § 41 Abs 2 SGB X idF des 4. Euro-Einführungsgesetzes (BGBl 2000, Teil I, S 1983) nachgeholt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Nürnberg vom 27.03.2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie habe ihre Sorgfaltspflicht nicht in einem ungewöhlich hohen Maße verletzt. Bei ihrer Alg-Berechnung hätten keine evidenten oder auffallend hohen Überzahlungen vorgelegen, die ihr sofort hätten ins Auge springen müssen. Sie habe ihre Sorgfaltspflicht lediglich insoweit verletzt, als sie nicht noch einmal kontrolliert habe, ob die Berechnung von einer wöchentlichen Arbeitszeit von 15 oder 20 Stunden ausgegangen sei.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 02.07.2002 hat die Klägerin ergänzend erklärt, dass die Niederschrift vom 28.08.1998 auf ihren Angaben beruhe und sie dies durch ihre Unterschrift bestätigt habe. Den Bescheid vom 09.10.1998 mit den Anlagen habe sie zwar gelesen. Sie habe die Berechnung aber nicht im Einzelnen überprüft. Insbesondere sei ihr nicht aufgefallen, dass das Arbeitsamt von einer noch möglichen Arbeitszeit von 20 Stunden ausgegangen sei.
Auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und die Prozessakten des SG und des BayLSG wird ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) ist auch im Übrigen zulässig (§ 144 SGG).
Das Rechtsmittel erweist sich in der Sache auch als begründet, denn das SG hat im angefochtenen Urteil vom 27.03.2001 zu Unrecht den Bescheid der Beklagten vom 08.06.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.07.1999 aufgehoben.
Rechtsgrundlage für die rückwirkende Teil-Aufhebung der Alg-Bewilligung im Bescheid vom 08.06.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.1999 bildet hier § 45 Abs 1 und 2 Satz 3 Nr 3 SGB X. Danach kann ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), wie der Bescheid über die Bewilligung von Alg vom 09.10.1998 auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn das Vertrauen der Begünstigten (= der Klägerin) unter Abwägung mit den öffentlichen Interessen an einer Rücknahme nicht schutzwürdig ist. Auf Vertrauen kann sich eine Begünstigte dann nicht berufen, wenn sie die Rechtwidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X).
Entgegen der Auffassung des SG geht der Senat davon aus, dass bei der Klägerin hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Alg-Bewilligungsbescheides vom 09.10.1998 grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X vorlag, da sie die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat.
Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfache, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (BSGE 42, 184, 187 = SozR 4100 § 152 Nr 3; BSGE 62, 32, 35 = SozR 4100 § 71 Nr 2; BSG, Urteil vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R, SozR 3-1300 § 45 Nr 45). Ob grobe Fahrlässigkeit vorliegt, ist im Wesentlichen eine Frage des Einzelfalles. Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff: BSGE 35, 108, 112; 44, 264, 273 = SozR 5870 § 13 Nr 20). Bezugspunkt für grob fahrlässiges Nichtwissen ist nach dem Wortlaut des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde. Allerdings können Fehler im Bereich der Tatsachenermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung, auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grob fahrlässigen Nichtwissens sind (BVerwG Buchholz 436.36 § 20 BAFöG Nr 24; vgl auch BSGE 62, 103, 106 = SozR 1300 § 48 Nr 39), Anhaltspunkt für die Begünstigte sein, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und für das Einsichtsvermögen der Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind, der Fehler ihr bei ihren subjektiven Erkenntnismöglichkeiten geradezu "in die Augen springt" (BSG vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R, SozR 3-1300 § 45 Nr 45).
Dies ist hier der Fall. Für das Erkennen der Unrichtigkeit der Alg-Bewilligung durch die Beklagte bedurfte es seitens der Klägerin keiner komplizierten Berechnungen anhand von Merkblättern oder auf der Rückseite des Bewilligungsbescheides mitgeteilter Berechnungsschemas. Die Beklagte hatte der Klägerin vielmehr im Begleitschreiben vom 09.10.1998 erläutert, dass der Berechnung ihres Alg-Anspruches eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 Stunden zugrunde lag. Diese leicht verständliche Formulierung ("mit der Ihnen noch möglichen Arbeitszeit von 20 Stunden") stand im Widerspruch zu den eigenen zeitnahen Erklärungen der Klägerin vom 28.08.1998, wonach sie sich ausdrücklich nur für 15 Stunden wöchentlich dem Arbeitsmarkt in T. zur Verfügung gestellt hatte (Montag bis Freitag von 8.30 Uhr bis 11.30 Uhr). Dabei war sie davon in Kenntnis gesetzt worden, dass sie mit einer Minderung der Leistung zu rechnen habe. Es war somit für die Klägerin auch als juristische Laiin ohne weitere rechtliche Überlegungen erkennbar, dass die Alg-Berechnung durch die Beklagte (ausgehend von 20 Stunden wöchentlich) unrichtig war, so dass unter den hier gegebenen Umständen eine Sorgfaltspflichtverletzung der Klägerin in besonders schwerem Maße vorliegt.
Die Klägerin kann sich auch nicht darauf berufen, dass sie nicht kontrolliert habe, ob bei der Berechnung von einer wöchentlichen Arbeitszeit von 15 oder 20 Stunden ausgegangen worden war. Eine Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, besteht auch, wenn sie nicht ausdrücklich gesetzlich geregelt ist. In verschiedenen Zusammenhängen hat das BSG aus dem Sozialrechtsverhältnis hergeleitet, dass die Beteiligten "sich gegenseitig vor vermeidbaren, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren" haben (vgl BSGE 34, 124, 127 = SozR Nr 25 zu § 29 RVO; BSGE 77, 175, 180 = SozR 3-4100 § 105 Nr 2; BSG vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00 R). In die gleiche Richtung deutet die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (Buchholz 436.36 § 20 BAföG Nr 24; für Beamte vgl BVG-Entscheidung 40, 212, 217). Wäre die Sozialleistungsberechtigte überhaupt nicht gehalten, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen, so wären die Vorschriften über Inhalt, Form, Begründung und Bekanntgabe von Verwaltungsakten (vgl §§ 31 ff SGB X) nicht verständlich (vgl dazu BVerwG Buchholz 4336.36 § 20 BAföG Nr 24; BSG vom 08.02.2001 - B 11 AL 21/00, SozR 3-1300 § 45 Nr 45).
Der bloße Glaube, es werde schon alles seine Richtigkeit haben, reicht zur Beseitigung der groben Fahrlässigkeit nicht aus. Dies entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl entsprechende Nachweise bei Schroeder/Printzen, Engelmann, Schmalz, Wiesner, von Wulffen: SGB X, 3.Aufl, § 45 Anm 23 ff; Kasseler Kommentar, Stand Dezember 1998, SGB X, § 45 RdNr 39 ff; Gagel, SGB III - Arbeitsförderung - Stand Juni 1999, § 330 RdNrn 20 ff). Wenn also die Klägerin eine entsprechende Überprüfung des Bescheides vom 09.10.1998 nicht vorgenommen hat, um sich davon zu überzeugen, dass das ihr gezahlte Alg auch der Höhe nach zutreffend festgesetzt worden ist, muss ihr der Vorwurf grober Fahrlässigkeit gemacht werden. Sie kann sich nicht darauf berufen, dass sie die von der Beklagten zu Unrecht erbrachten Leistungen verbraucht hat.
Da somit die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigten Verwaltungsaktes vorliegen, war die Beklagte verpflichtet, diesen mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, ohne dass ihr dabei ein Ermessen eingeräumt war (§ 330 Abs 2 SGB III).
Die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X wurde eingehalten.
Die erforderliche Anhörung wurde im Berufungsverfahren nachgeholt (§ 41 Abs 2 SGB X).
Demzufolge war das Urteil des SG Nürnberg vom 27.03.2001 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 08.06.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.1999 abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Gründe, die Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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