L 9 AL 221/99

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 5 AL 1638/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AL 221/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 28. Juni 1999 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten des zweiten Rechtszuges sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Anfechtung eines Prozessvergleichs streitig.

Der am 1959 geborene ledige Kläger, der zuletzt vom 03.06.1993 mit 30.11.1995 als Wachmann bei der Firma Wach- und Schutzdienst E. S. , A. , beitragspflichtig beschäftigt war, wandte sich im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) München, Az. S 5 AL 679/96, gegen die Feststellung einer 12-wöchigen Sperrzeit wegen der Lösung seines Beschäftigungsverhältnisses ohne wichtigen Grund.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme vom 19.08.1998 wurde der Prokurist der Arbeitgeberin, E. S. , zu den Umständen der Arbeitnehmerkündigung uneidlich als Zeuge gehört. Auf dessen Bekundungen im Einzelnen wird verwiesen.

Laut Niederschrift schlossen die Beteiligten auf Vorschlag der Kammer einen Prozessvergleich, demzufolge der Sperrzeitbescheid vom 26.03.1996 (Widerspruchsbescheid vom 15.04.1996) insoweit abgeändert wurde, als die Sperrzeit auf 6 Wochen reduziert wurde und die Beteiligten sich darüber einig waren, dass der Rechtsstreit mit Abschluss dieses Vergleichs in vollem Umfang erledigt sei.

Nach Erlass des Ausführungsbescheides vom 28.09.1998 (Widerspruchsbescheid vom 12.10.1998) machte der Kläger gegenüber dem SG geltend, der oben angeführte Vergleich sei weder vorgelesen noch von ihm genehmigt worden.

Die 5. Kammer stellte daraufhin durch Gerichtsbescheid vom 28.06.1999 fest, dass das Klageverfahren S 5 AL 679/96 durch den Prozessvergleich erledigt worden sei.

Im Berufungsverfahren vor dem Senat verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und macht insbesondere geltend, der Prozessvergleich vom 19.08.1998 sei nicht wirksam zustande gekommen. Er habe keine Willenserklärung abgegeben, die als Zustimmung zu einem Vergleich ausgelegt werden könnte. Vielmehr habe er mit der Hand nach hinten gewinkt, was habe bedeuten sollen: "Vergiss es!". Er habe zusätzlich gesagt: "Wenn er nicht einverstanden sei, gehe er vor das LSG".

Der Senat hat zu diesem Vorbringen Beweis erhoben durch die Vernehmung der Zeugen Dr.D. L. , M. B. und B. K. , auf deren Aussagen im Einzelnen verwiesen wird. Er hat neben der Streitakte des 1. Rechtszuges die Leistungsakte der Beklagten beigezogen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des SG München vom 28.06.1999 sowie den Sperrzeitbescheid vom 26.03.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.04.1996 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm auch ab 01.12.1995 für sechs Wochen Alg zu gewähren.

Der Beklagte stellt den Antrag,

die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid vom 28.06.1999 zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Verfahrensakten beider Rechtszüge sowie der Leistungsakte der Beklagten Bezug genommen, insbesondere auf die Niederschrift der Senatssitzung vom 14.02.2002.

Entscheidungsgründe:

Die mangels einer Beschränkung gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) grundsätzlich statthafte, im Übrigen form- und fristgerecht eingelegte, und insgesamt zulässige Berufung des Klägers, §§ 143 ff. SGG, erweist sich als in der Sache nicht begründet. Zu Recht hat das SG festgestellt, dass das Klageverfahren S 5 AL 679/96 durch den Prozessvergleich vom 19.08.1998 erledigt worden ist.

Nach herrschender Meinung kommt dem Prozessvergleich eine Doppelnatur zu, er ist gleichzeitig ein Vertrag im Sinne des § 779 BGB in der Spezialform des öffentlich-rechtlichen Vertrages, §§ 53, 54 SGB X, und Prozesshandlung, vgl. ständige Rechtsprechung des BSG, u.a. vom 27.06.1958 in BSG 7, 272 (281). Damit findet auf ihn sowohl materielles als auch Prozessrecht Anwendung mit der Folge, dass die Unwirksamkeit sowohl aus materiellen als auch prozessualen Gründen geltend gemacht werden kann.

Materiell-rechtlich hat der Prozessvergleich den Anforderungen der §§ 54 SGB X, 779 BGB zu genügen. Die herrschende Meinung fordert daher, dass eine zwischen den Beteiligten bestehende Ungewissheit durch gegenseitiges Nachgeben beseitigt wird, vgl. Thomas Putzo, ZPO, § 794 Anm.1. Insoweit reicht jedes prozessuale Nachgeben aus. Darüber hinaus müssen die sonstigen Voraussetzungen vorgenannter Vorschriften sowie des gesamten materiellen Rechts vorliegen. Weiterhin ist erforderlich, dass die Beteiligten beteiligtenfähig und prozessfähig sind, §§ 70, 71 SGG, BSG vom 26.04.1963 in BSGE 19, 112 (115). Prozessvertreter benötigen eine Vollmacht, § 73 SGG. Darüber hinaus müssen die Voraussetzungen des Prozessrechts wie die Vorschriften des § 122 SGG in Verbindung mit §§ 159 mit 165 ZPO, 160 Abs.3 Nr.1, 172 Abs.1, 163 ZPO erfüllt sein. Ein Prozessvergleich kann ausschließlich von den Beteiligten während eines anhängigen Gerichtsverfahrens geschlossen werden, vgl. Meyer-Ladewig, SGG, § 101 Rdz.6.

Zutreffend wurde der Rechtsstreit über die Wirksamkeit des vorgenannten Prozessvergleichs vor dem SG München, und zwar vor derselben Kammer fortgesetzt, vor der der Vergleich geschlossen worden ist. Denn in dem Falle der Unwirksamkeit hätte er das anhängige Verfahren nicht beendet, vgl. BSG SozR 1500 § 101 Nr.4. Bereits nach dem klägerischen Vortrag scheidet eine Unwirksamkeit aus prozessualen Gründen aus. Denn der Kläger ist offensichtlich beteiligten- und prozessfähig, §§ 70 f., SGG. Gleiches gilt für die Beklagte, die in der mündlichen Verhandlung wirksam durch eine Generalbevollmächtigte vertreten war, § 73 SGG. Der Vergleich wurde auch vor dem SG München geschlossen, § 118 Abs.1 SGG i.V.m. § 794, Abs.1 ZPO, und in der Niederschrift festgehalten, § 160 Abs.3 Nr.1 ZPO, welche den ausdrücklichen Hinweis darüber enthält, dass der Prozessvergleich vorgelesen und genehmigt worden ist, § 162 Abs.1 ZPO. Insoweit wird auf die weiter unten folgenden Darlegungen verwiesen. Außerdem wurde die Niederschrift von der zuständigen Vorsitzenden der 5. Kammer sowie der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet, § 163 ZPO.

Zur Überzeugung des Senats stehen nach dem Ergebnis der im Berufungsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme auch materiell-rechtliche Gründe nicht entgegen. Insbesondere ist der Vergleich nicht wirksam angefochten worden, §§ 119 ff. BGB. Auf Vorschlag des Gerichts ist von beiden Beteiligten vielmehr übereinstimmend eine gleichlautende, unbedingte, unzweifelhafte und eindeutige Erklärung auf den Abschluss eines gerichtlichen Vergleiches abgegeben worden. Vor allem hat der Kläger dem Vergleich zugestimmt, wie unten dargelegt werden wird, vgl. BSG vom 31.01.1963, SozR Nr.8 § 102.

Der gerichtliche gehörte Zeuge Dr.D. L. , der auf dem von ihm vorgelegten Sitzungsplan der 5. Kammer vom 19.08.1998 seinerzeit neben Abweichungen von im Sitzungsplan genannten Bevollmächtigten jeweils vermerkt hat, ob die einzelnen aufgerufenen Streitsachen zunächst überhaupt und sodann mit welchem Ergebnis erledigt worden sind, hat hinsichtlich des Aktenzeichens des Klägers festgehalten, dass es sich einerseits um eine "Sperrfrist"-Angelegenheit gehandelt hat und dass diese andererseits durch einen Vergleich erledigt worden ist. Nach Einsicht in Bl.40 der Sozialgerichtsakte präzisierte er insoweit, er notiere sich immer den Ausgang des Verfahrens, wie Vergleich, Vertagung oder ähnliches. Darüber hinaus sei ihm in seiner über 10-jährigen Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter kein Fall erinnerlich, in dem ein Abschluss des Verfahrens noch im Raum gestanden hätte, ohne dass eine Erledigung eingetreten wäre. Er könne für sich sagen, dass er das Ergebnis (Erledigung des Verfahrens) nicht mitgetragen hätte, wenn der Kläger tatsächlich seine Einwilligung oder Zustimmung nicht erklärt hätte. Obgleich ihm eine konkrete Zustimmung oder eine abweichende Handbewegung des Klägers nicht in Erinnerung geblieben sei, schloss er für sich absolut aus, dass der Kläger dem Vergleich nicht zugestimmt hätte. Das wäre nämlich vom Verlauf aller erlebten Verhandlungen abgewichen und ihm in Erinnerung geblieben. Auf der Tagesordnung habe er einen Haken am Rand der Angelegenheit des Klägers vermerkt, das habe bedeutet: "abgeschlossen".

Die weiter gehörte Zeugin M. B. , die seit 01.05.1990 als ehrenamtliche Richterin tätig ist und auf ihrer ebenfalls vorhandenen Terminsliste vom 19.08.1998 allerdings keine Notizen gemacht hat, bekundete, dass es in der Sitzung nichts Auffälliges gegeben habe. Insbesondere könne sie sich an die vom Kläger behauptete Handbewegung nicht erinnern. Es sei ihr noch nicht untergekommen, dass ein Vergleich protokolliert und mit dem Zusatz "vorgelesen und genehmigt" versehen worden sei, wenn dies nicht der Fall gewesen sei. Darüber hinaus gab sie ausdrücklich an, dass sie die Vorsitzende darauf aufmerksam gemacht und eine Klärung versucht hätte, wenn ein Dissens offen geblieben wäre. In einem derartigen Fall hätte sie sich keineswegs gehindert gefühlt, die Vorsitzende darauf anzusprechen, vielmehr hätte sie sicher "ihren Mund aufgemacht". Konkret konnte sich die Zeugin allerdings weder an eine Zustimmung noch an eine Nichtzustimmung des Klägers erinnern.

Demgegenüber hatte die weiter gehörte Protokollführerin der Sitzung vom 19.08.1998 B. K. weder eine eigene Erinnerung an den tatsächlichen Verlauf der Verhandlung noch an eine vom Kläger behauptete Handbewegung.

Die überzeugenden und insgesamt übereinstimmenden Bekundungen der beiden in der Sitzung vom 19.08.1998 herangezogenen ehrenamtlichen Richter, die einerseits auf Vorschlag der Gewerkschaften (Frau B.), andererseits von den Arbeitgeberverbänden (Dr.L.) berufen worden sind, §§ 14, 13 SGG, und dem Kläger gegenüber Benachteiligungstendenzen nicht haben erkennen lassen, lassen zur Überzeugung des Senats keine vernünftigen Zweifel an einer tatsächlich erfolgten Zustimmung des Klägers zum streitgegenständlichen Prozessvergleich offen. Wenngleich Äußerungen darüber nicht bekundet sind, wie die Zustimmung tatsächlich ausgedrückt worden ist, muss der Kläger seine Zustimmung zum Vergleich erklärt haben. Denn die Zeugen hätten es nicht hingenommen, wenn das Verfahren des Klägers als erledigt behandelt, in Wahrheit aber nicht einer Erledigung zugeführt worden wäre. Vielmehr erscheint der in Übereinstimmung mit der vorliegenden Niederschrift der Sitzung vom 19.08.1998 von den Zeugen bekundete Verlauf der mündlichen Verhandlung plausibel, ohne dass Anhaltspunkte für einen atypischen Verlauf wie etwa eine ausdrückliche oder schlüssige Verweigerung der erforderlichen Zustimmung zum Vergleich durch den Kläger oder eine unrichtige Protokollierung ersichtlich wären.

Der Vergleich erscheint nach dem Vortrag der Beteiligten auch nicht sittenwidrig im Sinne des § 138 BGB, er verstößt weiterhin nicht erkennbar gegen ein Gesetz, § 134 BGB. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der nach dem Inhalt des Vergleichs als feststehend zugrunde gelegte Sachverhalt der Wirklichkeit nicht entsprochen hätte bzw. die durch den Vergleich zu beseitigende Ungewissheit im Sinne des § 779 Abs.1 BGB bei Kenntnis der Sachlage nicht entstanden wäre, vgl. BSG vom 01.04.1981, SozSich 81.224. Darüber hinaus ergeben sich nach dem Sachverhalt keine Anhaltspunkte dafür, dass bei Vergleichsschluss gegen die Vorschriften über den öffentlich-rechtlichen Vertrag verstoßen worden wäre, §§ 53 ff. SGB X. Insbesondere ist auszuschließen, dass ein Verwaltungsakt, in dem sich die Beklagte zu demselben Verhalten verpflichtet hätte wie im vorgenannten Vergleich, nichtig wäre, vgl. BSG vom 17.05.1989, SozR 3500 § 101 Nr.8. Es ist schließlich auch keine Bedingung vereinbart worden, unter der der Vergleich widerrufen oder unter der von einem eingeräumten Rücktrittsrecht Gebrauch gemacht werden konnte.

Damit hat der von den Beteiligten geschlossene Prozessvergleich den Rechtsstreit und die Rechtshängigkeit wie vom SG festgestellt unmittelbar beendet, § 101 Abs.1 SGG.

Insgesamt ist der Gerichtsbescheid des SG München nicht zu beanstanden, so dass dem Berufungsbegehren der Erfolg versagt bleiben muss.

Die Kostenfolge ergibt sich aus den Vorschriften der §§ 183, 193 SGG. Im Hinblick auf den Verfahrensausgang konnte die Beklagte, welche für das Berufungsverfahren keine Veranlassung gegeben hat, nicht zur Erstattung der notwendigen Aufwendungen verpflichtet werden, die dem Kläger zu dessen Rechtsverfolgung entstanden sind.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor. Weder wirft dieses Urteil nämlich eine entscheidungserhebliche höchstrichterlich bisher nicht geklärte Rechtsfrage grundsätzlicher Art auf, noch weicht es ab von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts und beruht hierauf.
Rechtskraft
Aus
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