L 8 AL 234/01

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 6 AL 284/98 E
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AL 234/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 21.05.2001 aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger die Kosten für Unterkunft und Verpflegung, die von ihm für die Zeit om 11. September 1995 bis 10. September 1997 zu tragen waren, zu erstatten.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung der vom Kläger übernommenen Kosten für Unterkunft und Verpflegung des Beigeladenen in der Zeit vom 11.09.1995 bis 10.09.1997 streitig.

Der am 1974 geborene Beigeladene ist bis auf sprachlich nicht verwertbare Hörreste gehörlos und darüber hinaus lernbehindert. Er besuchte vom September 1982 bis Juli 1993 die staatlich anerkannte private Schule für lernbehinderte Gehörlose der Regens-Wagner-Stiftung in Z. und anschließend die ebenfalls zu diesem Träger gehörende staatlich anerkannte private Berufsschule für lernbehinderte Gehörlose. Hierbei war er in einem zu dieser Stiftung gehörenden Wohnheim untergebracht, seit September 1990 wohnte er in einer Außenwohngruppe zusammen mit neun mehrfach behinderten gehörgeschädigten jungen Männern. In dem Entwicklungsbericht vom 12.07.1995 heißt es, er fahre jedes zweite Wochenende und in den Schulferien zu seinem in Niederbayern wohnenden Vater.

Vom 11.09.1995 bis 10.09.1996 befand sich der Beigeladene im Arbeitstrainingsbereich der Werkstätte für Behinderte (WfB), ebenfalls betrieben von der Regens-Wagner-Stiftung in Z. ; anschließend absolvierte er am 11.09.1996 bis 10.09.1997 die Aufbaustufe. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 12.07.1995 die Förderung dieser Maßnahme mit dem Zusatz, diese sei "nicht mit einer internatsmäßigen Unterbringung verbunden"; mit dem Maßnahmeträger würden die Maßnahmekosten, Lernmittel, Arbeitskleidung, Pendelfahrten (Fahrdienst der WfB) abgerechnet. Für das folgende Jahr erging am 09.07.1996 ein Bescheid gleichen Inhalts; Durchschriften dieser Bescheide wurden dem Kläger zugeleitet. Nach Abschluss der Maßnahme wurde der Beigeladene in die WfB aufgenommen und ist weiterhin in einem zu dieser Einrichtung gehörenden Wohnbereich untergebracht.

Mit Schreiben vom 22.08.1997 machte der Kläger bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch hinsichtlich der von ihm für die Dauer der Arbeitstrainingsmaßnahme übernommenen Kosten für Unterbringung und Verpflegung geltend. Die Beklagte lehnte dies mit Schreiben vom 06.11.1997 mit der Begründung ab, der Beigeladene befinde sich zur allgemeinen Lebensführung, die nicht zur beruflichen Rehabilitation gehöre, in dem Gehörlosenheim. Eine Ablehnung gleichen Inhalts erging mit Schreiben vom 30.04. 1998, nachdem der Kläger eine Bestätigung des Vaters des Beigeladenen vom 25.11.1997 vorgelegt hatte, wonach dieser seinen Sohn in den Haushalt aufnehmen würde, wenn in der Nähe seines Wohnortes eine geeignete Behindertenwerkstätte für Gehörlose vorhanden wäre. Er nehme seinen Sohn regelmäßig 14-tägig sowie zu allen Ferienzeiten in seinen Haushalt auf.

Mit Schreiben vom 07.07.1998, beim Sozialgericht Landshut (SG) eingegangen am 15.07.1998, hat der Kläger Klage auf Erstattung der Kosten für Unterkunft und Verpflegung erhoben. Es treffe nicht zu, dass sich der Beigeladene zur allgemeinen Lebensführung in der Gehörloseneinrichtung befinde. Vielmehr habe er die Schulen an seinem Wohnort wegen seiner Behinderung nicht besuchen können; schon während der gesamten Schulzeit habe er alle 14 Tage das Wochenende sowie die Ferienzeiten im Haus seines Vaters verbracht. Nach der Schulentlassung am 26.07.1995 sei er bis Anfang September im Haushalt der Eltern gewesen. Da in der Nähe des Wohnortes des Vaters zwar eine anerkannte WfB bestehe, diese aber für Hörgeschädigte keine Arbeitstrainingsmaßnahmen durchführen, habe er außerhalb des elterlichen Haushalts in Z. untergebracht werden müssen.

In der mündlichen Verhandlung am 21.05.2001 hat das SG den Vater des Beigeladenen als Zeugen vernommen; bezüglich seiner Aussage wird auf das Protokoll Bezug genommen.

Mit Urteil vom 21.05.2001 hat es die Klage abgewiesen. Nach Überzeugung der Kammer habe der Beigeladene zwar während der Dauer der von der Beklagten geförderten Maßnahme wegen der Art und Schwere der Behinderung in der Regens-Wagner-Stiftung untergebracht werden müssen, jedoch sei diese auch ansonsten sein Lebensmittelpunkt. Nach Überzeugung des Gerichts sei er nicht mehr im elterlichen Haushalt auf Dauer wohnhaft, er habe auch keinen eigenen Haushalt. Der Zeuge habe glaubwürdig vorgetragen, dass in den beiden wohnortnahen WfB s letzlich keine Möglichkeit der Betreuung gewährleistet gewesen sei; für den Fall, dass der Beigeladene nicht mehr in der WfB arbeiten könnte, müsste er angesichts der Tatsache, dass sowohl er - der Zeuge - als auch seine Ehefrau berufstätig seien, wohl weiterhin in der Einrichtung verbleiben, in der auch eine Art Altenheim bestehe.

Mit seiner Berufung widerspricht der Kläger der Auffassung, der Beigeladene habe seinen Lebensmittelpunkt in Z ... Der Vater habe als Zeuge ausgesagt, dass er sich um die Unterbringung in einer wohnortnahen WfB bemüht habe, um seinen Sohn weiterhin in seinem Haushalt belassen zu können. Auch habe er erklärt, die Berufstätigkeit der Eltern sei kein Hindernis für einen Aufenthalt im Elternhaus während der Arbeitstrainingsmaßnahme, da sein Sohn sich tagsüber in der WfB aufhalte. Lediglich für den Fall einer lang andauernden Erkrankung von ca. 3 Monaten müsse zumindest tagsüber Kurzzeitpflege in Anspruch genommen werden. Auch bei einer vorübergehenden Unterbringung in einer Tagesbetreuungsstätte würde die häusliche Gemeinschaft weiter bestehen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 21.05.2001 aufzuheben und die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen, ihm die Kosten für Unterkunft und Verpflegung, die von ihm für die Zeit vom 11.09.1995 bis 10.09.1997 zu tragen waren, zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Bei der Heimunterbringung handele es sich um einen auf Dauer angelegten Aufenthalt, bei dem das Heim auch den Lebensmittelpunkt darstelle. Der Beigeladene sei damit nicht Angehöriger des elterlichen Haushalts und daher auch während der Trainingsmaßnahme nicht außerhalb des eigenen oder elterlichen Haushalts untergebracht.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), liegt nicht vor.

Das Rechtsmittel erweist sich auch in der Sache als begründet. Die Beklagte ist dem Kläger hinsichtlich der Kosten für Unterkunft und Verpflegung während der Arbeitstrainingsmaßnahme dem Grunde nach erstattungspflichtig.

Gemäß § 104 Abs.1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ist der Leistungsträger, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, dem nachrangig verpflichteten Leistungsträger, der Sozialleistungen erbracht hat, erstattungspflichtig. Nachrangig verpflichtet ist nach Satz 2 ein Leistungsträger, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungspflicht eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der Beigeladene hatte gemäß § 56 Abs.2 Nr.3 a, Abs.3 a des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) gegen die Beklagte Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Kosten für Unterkunft und Verpflegung; bei rechtzeitiger Erfüllung dieser Leistungsverpflichtung wäre der Kläger selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen.

Zwischen den Beteiligten ist nicht streitig, dass die Beklagte dem Beigeladenen berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation zu gewähren hatte; dies steht bereits auf Grund der bindenden Bewilligungsbescheide vom 17.07.1995 und 09.07.1996 fest. Weiterhin ist nicht streitig und zweifelhaft, dass der Beigeladene Anspruch auf Förderung der Maßnahme im Arbeitstrainingsbereich der WfB gemäß § 56 Abs.3 a AFG hatte, da Art und Schwere der Behinderung bzw. die Sicherung des Rehabilitationserfolges die besonderen Hilfen dieser Einrichtung erforderlich machten, und sie im Sinne des § 58 Abs.1 a Satz 1 Nr.2 AFG erforderlich waren, die Leistungsfähigkeit des Beigeladenen zu entwickeln, zu erhöhen bzw. wiederzugewinnen.

Zu Unrecht meint die Beklagte, sie sei nicht zur Übernahme der Kosten für Unterkunft und Verpflegung verpflichtet, weil der Beigeladene nicht im Sinne des § 56 Abs.3 Nr.3 a AFG, § 33 Abs.1 der Anordnung des Verwaltungsorts der Bundesanstalt für Arbeit über die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter (A- Reha) vom 31.07.1975 (ANBA S.994) - hier in der Fassung der 15. Änderungsanordnung zur A-Reha vom 06.07.1990 (ANBA 1990 S.1119) - wegen Art und Schwere der Behinderung außerhalb des elterlichen Haushalts untergebracht worden sei. Der Beigeladene wurde in zeitlichem, organisatorischem und unmittelbar räumlichem Zusammenhang mit einer berufsfördernden Bildungsmaßnahme in einer Rehabilitationseinrichtung untergebracht; in diesem Fall zählen gemäß § 29 Abs.3 Satz 1 und 2 A-Reha zu den Maßnahmekosten grundsätzlich u.a. auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung (vgl. BSG SozR 3-4480 § 29 Nr.2). Es kann dahinstehen, ob in einem solchen Fall die in § 33 Abs.1 A - Reha für eine Kostenübernahme aufgestellten Tatbestandsvoraussetzungen bei Maßnahmen in Rehabitationseinrichtungen überhaupt gegeben sein müssen, nachdem § 33 Abs.2 ausdrücklich bestimmt, dass in diesem Fall § 29 Abs.3 Anwendung findet; denn auch die Voraussetzungen des § 33 Abs.1 A-Reha sind hier gegeben.

Der Beklagten kann nicht gefolgt werden, wenn sie meint, die Voraussetzungen für die streitige Kostenübernahme seien nicht gegeben, weil der Beigeladene bereits vorher in der Regens- Wagner-Stiftung internatsmäßig untergebracht war. Denn diese Unterbringung stand in ursächlichem Zusammenhang mit dem Besuch der Schule für lernbehinderte Gehörlose und der entsprechenden Berufsschule. Während der Wochenende und der Ferien hielt sich der Beigeladene im Haushalt des Vaters auf, ebenso während der Zeit zwischen Beendigung der Berufsschule und Beginn der Arbeitstrainingsmaßnahme. Diese auswärtige Unterbringung war auch nur deshalb erforderlich, weil in der Nähe des Wohnorts des Vaters keine behindertengerechten schulischen Einrichtungen vorhanden waren. Dies gilt in gleicher Weise für die auswärtige Unterbringung während des Besuches der Arbeitstrainingsmaßnahme in der WfB. Für den Fall, dass sich in der Nähe des Wohnortes des Vaters eine geeignete WfB befunden hätte, wäre der Beigeladene im Haushalt seines Vaters verblieben. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass während des Zeitraumes des Besuches der Arbeitstrainingsmaßnahme ein eigener bzw. elterlicher Haushalt nicht mehr existierte.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Tatsache, dass sich der Beigeladene nach Abschluss der Trainingsmaßnahme weiterhin in der WfB in Z. befand bzw. befindet und in einer Einrichtung des Trägers internatsmäßig untergebracht ist. Denn auch dies hat seinen Grund darin, dass in der Nähe des Wohnortes des Vaters keine geeignete Einrichtung vorhanden ist. Die theoretische Frage, ob bei Unterbringung im Haushalt des Vaters während des Besuchs einer wohnortnahen WfB auch während einer längeren Erkrankung eine Betreuung gesichert sei, ist in diesem Zusammenhang unerheblich, da es ausschließlich auf die Verhältnisse während der Dauer der Arbeitstrainingsmaßnahme ankommt. Zudem würde die Frage der Unterbringung in diesem Fall von einer noch zu treffenden Entscheidung abhängen, nämlich ob der Vater und/oder seine Ehegattin weiterhin ihrer Berufstätigkeit nachgingen und eine dritte Person für die Betreuung zu Hause gefunden werden könnte. Solche die zukünftige Gestaltung betreffenden theoretischen Fragen können die Beurteilung des hier maßgebenden, in der Vergangenheit liegenden Sachverhaltes, nämlich den Zeitraum der Arbeitstrainingsmaßnahme, nicht beeinflussen.

Einem Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X steht auch nicht der Passus in den Bewilligungsbescheiden der Beklagten entgegen, wonach "die Teilnahme an der Maßnahme nicht mit einer internatsmäßigen Unterbringung verbunden" sei. Möglicherweise wollte die Beklagte damit eine Übernahme der Kosten für Unterkunft und Verpflegung ablehnen. Jedoch kommt dies mit dieser Formulierung nicht mit der erforderlichen Klarheit zum Ausdruck. Maßstab für die Inhaltsbestimmung einer in einem Bescheid getroffenen Regelung ist der Empfängerhorizont eines verständigen Beteiligten, der in Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge den wirklichen Willen der Behörde (§ 133 BGB) erkennen kann (BSG SozR 3-1300 § 104 Nr.9). Es ist fraglich, ob dem Beigeladenen als Adressaten des Bescheides die Zusammenhänge so bekannt waren bzw. bekannt sein mussten, dass er diese Passage als Ablehnung der Kostenübernahme hinsichtlich Unterkunft und Verpflegung verstehen musste. Für sich genommen stellt diese Passage jedenfalls eine objektiv falsche Feststellung dar, da der Beigeladene ja tatsächlich internatsmäßig untergebracht war. Zudem hat die Beklagte in dem Bescheid weiter ausgeführt, dass u.a. die "Maßnahmekosten", zu denen gemäß § 29 Abs.3 Satz 2 A-Reha auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung zählen, direkt mit dem Träger abgerechnet würden.

Letztlich kann dahinstehen, ob diese Passage in den Bescheiden als Ablehnung der Kostenübernahme gegenüber dem Beigeladenen anzusehen ist. Denn aus den dargelegten Gründen wäre diese Entscheidung rechtswidrig und gemäß § 44 Abs.1 SGB X auf Antrag hin aufzuheben. Auch wenn im Erstattungsverhältnis die beteiligten Träger gemäß § 104 Abs.3 SGB III grundsätzlich an Bescheide gebunden sind, mit denen der erstattungspflichtige Träger dem Sozialleistungsberechtigten gegenüber bindend über Grund und Höhe des Leistungsanspruches entschieden hat (vgl. BSG SozR 3-1300 § 103 Nr.5), so ist eine solche Leistungsentscheidung dennoch unbeachtlich, wenn sie zu Lasten des Sozialleistungsberechtigten und damit auch zu Lasten des Erstattungsberechtigten offenkundig fehlerhaft ist (BSG SozR 1300 § 103 Nr.2; SozR 3-1300 § 103 Nr.4). Im Zeitpunkt der Geltendmachung des Erstattungsanspruches lagen jedenfalls die Voraussetzungen für eine Rücknahme dieser ablehnenden Entscheidung nach § 44 SGB X auch im Hinblick auf Abs.4 dieser Vorschrift vor, so dass eine diesbezügliche Ablehnung dem erstattungsberechtigten Kläger nicht entgegengehalten werden könnte.

Somit war die Beklagte auf die Berufung des Klägers hin dem Grunde nach zu verpflichten, die während der Zeit der Arbeitstrainingsmaßnahme angefallenen Kosten für Unterkunft und Verpflegung des Beigeladenen zu erstatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs.2 Nr.1 SGG zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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