L 2 U 755/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 3916/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 U 755/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 16. Januar 2006 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Der Streitwert wird für das Klage- und das Berufungsverfahren auf je 136.470,93 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt hinsichtlich der Risikoabsicherung der Arbeitnehmer die Entlassung aus der Pflichtmitgliedschaft zur gesetzlichen Unfallversicherung ab 01.01.2005, soweit der Bereich der Versicherung der Arbeitnehmer gegen Risiken des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheiten betroffen ist.

Die Klägerin ist in der jetzigen Rechtsform seit 01.01.1989 in das Unternehmerverzeichnis bei der Beklagten eingetragen und war für das Jahr 2003 mit einem Beitrag von 43.172,62 EUR belastet worden, wovon 28.595,27 EUR auf den Umlagebeitrag entfielen (Beitragsbescheid vom 22.04.2004, Bl. 98 SG-Akte). Mit Schreiben vom 19.07.2004 kündigte sie ihre Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten zum 31.12.2004, was die Beklagte mit Bescheid vom 13.08.2004 unter Hinweis auf die Zwangszugehörigkeit kraft Gesetzes ablehnte. Den Widerspruch, der mit einem Verstoß gegen das Grundgesetz und den EG-Vertrag durch die Zwangsmitgliedschaft begründet wurde, lehnte die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.10.2004 unter Hinweis auf die dem Antrag entgegenstehende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ab.

Mit der dagegen am 08.11.2004 zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhobenen Klage vertrat die Klägerin - mit Hinweis auf das wissenschaftliche Schrifttum insbesondere von Seewald und ausführlicher Begründung (Bl. 1 bis 90 SG-Akte) - die Auffassung, das Monopol der Berufsgenossenschaften sei im Hinblick auf die gesetzliche Unfallversicherung mit Gemeinschafts- und Verfassungsrecht unvereinbar. Den Unternehmen werde dadurch die Möglichkeit der wirtschaftlich sinnvollen privaten Risikoabsicherung genommen. Unvereinbarkeit mit Art. 49, 50 (Verstoß gegen Wettbewerbs- und Dienstleistungsfreiheit) sowie Art. 81 ff (System der gesetzlichen Unfallversicherung unternehmensgleich oder soziales Sicherungssystem) EGVtr und dem Grundgesetz wurden geltend gemacht. Zumindest sei die Rechtsfrage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Die Beklagte sah durch das Vorbringen die einhellige Rechtsprechung deutscher Gerichte sowie des EuGH nicht entkräftet. Mit Schreiben vom 19.12.2004 beantragte die Klägerin, der Beklagten die Vorlage von Zahlenmaterial für die letzten 10 Jahre über gewährte Beitragsermäßigungen, Beitragsveränderungen durch Annäherungen von Gefahrgemeinschaften an die nächst niedrige bzw. nächst höhere Gefahrklasse und zur Überweisung an andere Berufsgenossenschaften aufzuerlegen, um die Einflussmöglichkeiten auf die Leistungs- und Beitragshöhe und damit die Unternehmereigenschaft der Beklagten zu belegen. Dem ist das SG und die Beklagte nicht nachgekommen. Mit Schreiben vom 16.03.2005 bezweifelte die Beklagte ein Interesse privater Anbieter, Versicherungsschutz im gleichen Umfang anzubieten und dessen wirtschaftliche Durchführbarkeit in privatrechtlicher Organisationsform. In Wahrheit gehe es um die Abschaffung des Unfallversicherungsschutzes der Arbeitnehmer, was eine Aufgabe des Gesetzgebers sei. Eine substantiierte Rechtsverletzung werde nicht vorgebracht. Der nach deutschem Recht unzulässige Austritt aus der gesetzlichen Unfallversicherung könne als Rechtsfolge durch das Gericht nicht ausgesprochen werden, weshalb die darauf gerichtete Klage bereits unzulässig sei. Die Standpunkte zur EuGH- und BSG-Rechtsprechung wurden in weiteren Schriftsätzen ausgetauscht. Mit Schreiben vom 14.06.2005 hat das SG darauf hingewiesen, eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid in Betracht zu ziehen und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Klägerin trat dem mit Schreiben vom 19.07.2005 und 23.11.2005 entgegen und bat um Aufklärung, worin das SG die Voraussetzungen des § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als erfüllt ansähe.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 16.01.2006 als unbegründet abgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Pflichtmitgliedschaft der Klägerin und die daraus resultierende Beitragspflicht auf §§ 121, 150 SGB VII und die Zuständigkeit der gewerblichen Berufsgenossenschaften auf § 121 SGB VII beruhe. Gesetzliche Ausnahmen oder rechtliche Grundlagen für die angestrebte Entlassung aus der Pflichtmitgliedschaft gebe es dagegen nicht, private Versicherung sei nur in Form einer Zusatzversicherung möglich. Ein Verstoß gegen europäisches Recht oder gegen das Grundgesetz liege nicht vor, weshalb eine Vorabentscheidung des EuGH nicht in Betracht komme. Diese Fragen seien durch die Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt, wie das BSG zuletzt in seiner Entscheidung vom 11.11.2003 (Az. B 2 U 16/03 R = BSG 91, 263) festgestellt habe. Das umfangreiche Vorbringen der Klägerin rechtfertige keine andere Beurteilung (unter Hinweis auf mehrere SG-Entscheidungen). Die gesetzliche Unfallversicherung sei entgegen der betonten Ansicht der Klägerin wesentlich vom Solidaritätsprinzip geprägt.

Dagegen hat die Klägerin am 16.02.2006 Berufung eingelegt. Sie hält durch die Entscheidung per Gerichtsbescheid den Grundsatz rechtlichen Gehörs für verletzt. Diesen Grundsatz sieht sie ebenfalls dadurch verletzt, dass zu den im Schriftsatz vom 09.12.2004 gestellten Beweisanträgen nicht Stellung genommen werde. Inhaltlich hält sie an ihrer in der Klagebegründung vertretenen Auffassung fest und verweist auf Systemunterschiede zwischen der gesetzlichen Unfallversicherung in Italien - wie sie der Beurteilung des EuGH in der INAIL-Entscheidung zugrunde lag und auf die sich die Rechtsprechung des BSG stützt - und dem deutschen System.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 13. August 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Oktober 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin zum 31. Dezember 2004 aus der Pflichtmitgliedschaft zu entlassen, soweit der Bereich der Versicherung der Arbeitnehmer gegen die Risiken des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheiten betroffen ist.

Hilfsweise beantragt sie,

festzustellen, dass die Klägerin ab dem 1. Januar 2005 nicht mehr Pflichtmitglied der Beklagten ist, soweit der Bereich der Versicherung der Arbeitnehmer gegen die Risiken des Arbeitsunfalls und der Berufskrankheiten betroffen ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die Berufung ist gemäß § 143 SGG statthaft, da die Beschränkungen des §§ 144 Abs. 1 SGG nicht eingreifen; sie ist frist- und formgerecht eingelegt (§ 151 SGG) und somit zulässig. Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. Die Klägerin kann nicht beanspruchen, aus der Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten entlassen zu werden.

Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 13.08.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.10.2004. Ihr Begehren auf Entlassung aus der Pflichtmitgliedschaft macht die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage geltend.

Die von der Klägerin aufgeworfenen Rechtsfragen zur Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Unfallversicherung, zur Monopolstellung der Berufsgenossenschaften, Europarechts- und Grundgesetzkonformität, Vorabentscheidung durch den EuGH sind hinreichend in der Rechtsprechung behandelt worden und geklärt (BSG vom 11.11.2003, a. a. O.; LSG Baden-Württemberg vom 27.03.2006 Az. L 1 U 1430/05, vom 29.09.2005 Az. L 6 U 4639/03; LSG Nordrhein-Westfalen vom 14.09.2005 Az. L 17 U 138/05). Diese Rechtsprechung, wonach die deutsche gesetzliche Unfallversicherung nicht gegen höherrangiges Recht verstößt und die Rechtsfragen geklärt sind, der sich der Senat aufgrund eigener Prüfung anschließt, ist unlängst durch die Entscheidung des BSG vom 09.05.2006 (Az. B 2 U 34/05 R) bestätigt worden. Neue Argumente sind hierzu nicht vorgetragen worden. Das BSG hat erneut an der in der Entscheidung vom 11.11.2003 ausführlich dargelegten Auffassung festgehalten, dass das System der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung mit den gemeinschaftlichen Grundsätzen der Wettbewerbs- und Dienstleistungsfreiheit vereinbar ist. Der Senat sieht deshalb keine Veranlassung diese im Einzelnen erneut darzulegen und nimmt auf die Entscheidungen des BSG Bezug. Weiter wird auf die Entscheidungsgründe des Gerichtsbescheids des SG Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör geht ins Leere, zumal eine Zurückverweisung an das SG nicht beantragt ist und eine Verletzung rechtlichen Gehörs durch die zweite Tatsacheninstanz im Berufungsverfahren geheilt wäre. Im übrigen kann ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht erkannt werden. Zum einen ist der Klägerin die Möglichkeit zur Stellungnahme (§ 105 Abs. 1 Satz 2 SGG) eingeräumt worden und sie hat auch davon Gebrauch gemacht. Zum anderen besteht keine Pflicht des Gerichts zur Begründung der Absicht durch Gerichtsbescheid entscheiden zu wollen ( vgl. Meyer-Ladewig, SGG, § 105 Rn. 10 a m.w.Nw.), wie dies die Klägerin verlangt hat. Im übrigen beruht darauf nicht die ablehnende Entscheidung, so dass eine Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits als Rechtsfolge nicht in Betracht kommt. Hinsichtlich der "Beweisanträge" im Schriftsatz vom 9.12.2004 hat das SG durch seinen zeitlich späteren Hinweis auf eine beabsichtigte Entscheidung durch Gerichtsbescheid bereits zu erkennen gegeben, dass es dem nicht nachgehen wolle. Im übrigen erfüllen diese Anträge nicht die Anforderungen, die an einen Beweisantrag zu stellen sind, nämlich Benennung des Beweisthemas und des Beweismittels. Unsubstantiierten Beweisanträgen, die das Beweisthema nicht ausreichend konkretisieren, braucht das Gericht nicht zu folgen (Meyer-Ladewig aaO, § 160 Rn. 18 a). Auch beruht hierauf nicht die Entscheidung des SG, da die Ablehnung der Unternehmenseigenschaft der gesetzlichen Unfallversicherungsträger durch die Rechtsprechung bereits hinreichend geklärt ist.

Deshalb ist sowohl der Haupt- als auch der Hilfsantrag unbegründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs.1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Der Streitwert wird in Abänderung des Beschlusses des SG vom 09.03.2006 Az. S 9 U 769/06 W-A auf 136.470,93 EUR festgesetzt (§ 197a Abs. 1 SGG, § 63 Abs. 3 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG)). In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Danach ergibt sich der Wert aus dem Jahres-Umlagebeitrag in Höhe von 28.595,27 EUR abzüglich 4,55 v.H. für nicht streitige Präventionsaufwendungen, der in entsprechender Anwendung des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Ziffer II. 2.1., zum Abgabenrecht, Abgabe: Betrag der streitigen Abgabe; bei wiederkehrenden Leistungen: 5-facher Jahresbetrag) auf fünf Jahre hochgerechnet wurde. Entgegen der Ansicht des SG wird § 42 Abs. 3 GKG nicht für anwendbar gehalten, da sich die Vorschrift nur auf wiederkehrende Leistungen wie Sozialleistungen aller Art bezieht. Der Argumentation der Beklagten, wonach die hypothetischen Aufwendungen der Klägerin für eine private Vorsorge in Abzug zu bringen seien, wird nicht gefolgt, da sich der Streitwert nur auf das zwischen den Beteiligten konkret in Streit befindliche Rechtsverhältnis beziehen kann. Dies ist allein die Entlassung aus der Pflichtmitgliedschaft.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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