L 1 KR 105/04

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 2 KR 874/03
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 105/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. April 2004 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig die Vergütung von Medikamentengaben als Leistung der Behandlungspflege.

Der Kläger ist Träger eines ambulanten Pflegedienstes, der sowohl Leistungen der Behandlungspflege nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) als auch Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung nach dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) erbringt.

Der Kläger versorgte eine bei der Beklagten versicherte und allein lebende Person in der Zeit von Juni 2002 bis Mai 2003 mit ambulanten Pflegeleistungen nach dem SGB V und dem SGB XI. Der behandelnde Arzt verordnete erstmals am 28. Juni 2002 und in den folgenden Quartalen wegen der Diagnose HOPS (hirnorganisches Psychosyndrom) im Rahmen der häuslichen Krankenpflege Medikamentengabe zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung. Die der Beklagten vorgelegte Verordnung zur Genehmigung versah diese mit dem Stempelaufdruck "im Rahmen der vertraglichen Regelungen nicht gesondert abrechnungsfähig." Die von dem Kläger eingereichten Rechnungen wurden von der Beklagten insoweit korrigiert, als sie die Vergütung für die Medikamentengabe an den Tagen ablehnte, an denen der Kläger Pflegeleistungen nach dem SGB XI erbracht hatte. Mit Schreiben vom 20. März 2003 und 22. Juli 2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die Medikamentengabe nur als alleinige Leistung abrechenbar sei.

Am 8. August 2003 hat der Kläger bei dem Sozialgericht Wiesbaden Klage erhoben. Er ist der Auffassung, dass sich die Formulierung in der Leistungsbeschreibung und Vergütungsvereinbarung zum Rahmenvertrag "alleinige Leistung" nur auf Leistungen nach dem SGB V beziehe und daher ein Anspruch auf Vergütung bestehe, wenn Pflegeleistungen nach dem SGB XI erbracht worden seien. Demgegenüber hat die Beklagte vorgetragen, der Zusatz "alleinige Leistung" bedeute, dass auch bei gleichzeitiger Erbringung von SGB XI-Leistungen der Vergütungsanspruch aus dem Versorgungsvertrag entfalle.

Mit Urteil vom 20. April 2004 hat das Sozialgericht Wiesbaden die Beklagte verurteilt, an den Kläger die restliche Vergütung zu bezahlen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt: bei der Medikamentengabe handele es sich um Behandlungspflege als Leistung häuslicher Krankenpflege. Der Anspruch des Klägers sei nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Pflegedienst bei der Versicherten gleichzeitig Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung aufgrund des Versorgungsvertrages nach dem SGB XI erbracht und die Pflegekasse die Leistungen vergütet habe. Die Medikamentengabe sei auch nicht ausnahmsweise zu dem nach § 14 SGB XI zu berücksichtigenden Pflegebedarf bei der Grundpflege zu zählen. Würde man der Argumentation der Beklagten folgern, hätte diese Interpretation zur Folge, dass der Pflegedienst für die erbrachte Leistung keinerlei Vergütung erhalte.

Gegen dieses der Beklagten am 14. Mai 2004 zugestellte Urteil hat sie am 8. Juni 2004 bei dem Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt.

Die Beklagte ist weiterhin der Auffassung, dass eine zusätzliche Vergütung für die Medikamentengabe bei gleichzeitigen Leistungen der Pflegeversicherung nicht möglich sei. Die vertragliche Regelung könne nur so ausgelegt werden. Dies sei auch der Wille der Vertragsparteien gewesen. Hierfür spreche sowohl der eindeutige Wortlaut als auch die Tatsache, dass bei der Vorgängerregelung - Rahmenvertrag vom 4. Februar 1993 - sowohl die Leistungen der Krankenversicherung nach § 37 SGB V geregelt gewesen seien und zusätzlich die Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit gemäß § 55 SGB V a.F. Es habe bereits zu diesem Zeitpunkt dem Willen der Vertragsparteien entsprochen, dass eine Medikamentengabe nicht zu vergüten gewesen sei, wenn gleichzeitig Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit erbracht worden seien.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. April 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Akteninhalt Bezug genommen sowie auf den der Akten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig aber unbegründet (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 20. April 2004 ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten Anspruch auf die geltend gemachte Vergütung für Medikamentengaben. Unstreitig ist dabei zwischen den Beteiligten, dass der Kläger durch die Medikamentengaben der Versicherten der Beklagten Behandlungspflege als Leistung häuslicher Krankenpflege nach § 37 SGB V erbracht hat.

Der Vergütungsanspruch ergibt sich aus Ziffer 2.16 der Vergütungsvereinbarung zu § 12 Abs. 1 des zwischen den Beteiligten geschlossenen Rahmenvertrages über häusliche Krankenpflege gemäß § 132 SGB V vom 29. April 1996.

Ziffer 2.16 der Vergütungsvereinbarung zu dem Rahmenvertrag vom 29. April 1996 hat folgenden Inhalt: "Arzneimittelabgabe und -überwachung als alleinige Leistung bei Patienten, die wegen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage sind, ärztlich verordnete Medikamente nach Weisung des Arztes einzunehmen. Nur einmal pro Besuch abrechnungsfähig."

Vorliegend hat der Kläger entsprechend Ziffer 2.16 der Vergütungsvereinbarung die ärztlich verordneten Medikamentengaben an die Versicherte der Beklagten als "alleinige" Leistung erbracht. Neben der Medikamentengabe sind keine weiteren Leistungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege nach dem SGB V gewährt worden. Die bei gleichem Pflegeeinsatz von dem Kläger erbrachten Leistungen der Grundpflege nach dem Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) stehen der (zusätzlichen) Abrechnung und Vergütung der Medikamentengabe nicht entgegen. Dies ergibt sich aus Wortlaut und systematischem Zusammenhang der Vergütungsregelung.

Vergütungsregelungen, die wie vorliegend für die routinemäßige Abwicklung von zahlreichen Behandlungsfällen bzw. die Abrechnung mit zahlreichen Pflegediensten vorgesehen sind, können ihren Zweck - die Eignung für die tägliche Praxis - nur erfüllen, wenn sie allgemein streng nach ihrem Wortlaut sowie den dazu vereinbarten Anwendungsregeln gehandhabt werden und keinen Spielraum für weitere Bewertungen sowie Abwägungen belassen. Demgemäß sind Vergütungsregelungen stets eng nach ihrem Wortlaut, ergänzend noch nach dem systematischen Zusammenhang, auszulegen. Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht. Soweit es sich in der Praxis erweist, dass es zu Bewertungsunstimmigkeiten und sonstigen Ungereimtheiten kommt, ist es Aufgabe der Vertragspartner, die dafür zuständig sind, dies durch Einigung und gegebenenfalls durch Weiterentwicklung der Abrechnungsbestimmungen zu beheben. Deren Wille ist insoweit auch von den Gerichten zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 13. Dezember 2001 - B 1 KR 1/01 RSozR 3-5565 § 14 Nr. 2 und vom 21. Februar 2002 - B 3 KR 30/01 RSozR 3-5565 § 15 Nr. 1; vgl. auch Hessisches Landesozialgericht, Urteil vom 3. März 2005 - L 1 KR 380/03 - JURIS). Dies gilt indessen nur dann, wenn der Wille der Vertragspartner übereinstimmt und auch dokumentiert ist, sei es im Rahmen einer Protokollnotiz zu der vertraglichen Regelung oder in dem zur Überwindung von Meinungsverschiedenheiten vereinbarten Verfahren (hier dem Einigungsausschuss nach § 9 des Rahmenvertrages).

Nach dem Wortlaut und der Systematik der hier einschlägigen Ziffer 2.16 der Vergütungsregelung zu dem Rahmenvertrag vom 29. April 1996 bezieht sich die Einschränkung "alleinige" Leistung ausschließlich auf Leistungen nach dem SGB V.

Die Vergütungsvereinbarung ist Bestandteil des Rahmenvertrages vom 29. April 1996, der nach seiner Überschrift "Rahmenvertrag über häusliche Krankenpflege gemäß § 132 SGB V" allein auf die in der betreffenden Vorschrift geregelte Versorgung mit häuslicher Krankenpflege nach dem SGB V abstellt. In § 2 des Rahmenvertrages werden entsprechend als Gegenstand des Rahmenvertrages genannt die Versorgung von Versicherten mit
a) häuslicher Krankenpflege ( ...) gem. § 37 Abs. 1 SGB V,
b) Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V),
c) häuslicher Krankenpflege gem. § 37 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB V, soweit die Satzung der Krankenkasse dies vorsieht,
d) häusliche Pflege gem. § 198 RVO (d.h. bei Schwangerschaft und Mutterschaft).

Dass die Vergütungsvereinbarung zwischen Leistungen nach dem SGB V und dem SGB XI unterscheidet, zeigen die Ziffern 4.1 – Hausbesuchspauschale für Tagesbesuche und 4.2 – Hausbesuchspauschale für Sonderbesuche. In beiden Fällen heißt es: "Werden ausschließlich Leistungen nach dem SGB XI erbracht, trägt die Pflegekasse die Hausbesuchspauschale allein." Ein solcher Hinweis auf das SGB XI ist in der Ziffer 2.16 der Vergütungsvereinbarung gerade nicht enthalten. Dies lässt angesichts des oben dargestellten Regelungsgehaltes des Rahmenvertrages nur den Schluss zu, dass zeitgleich durch den Pflegedienst erbrachte Leistungen nach dem SGB XI die Abrechnung der Medikamentengabe nach der Vergütungsziffer 2.16 nicht berühren.

Soweit die Beklagte darauf abhebt, dass bereits bei der Vorgängerregelung in dem "Rahmenvertrag über häusliche Krankenpflege und häusliche Pflegehilfe gemäß § 132 SGB V" vom 4. Februar 1993 keine - zusätzliche - Vergütung für die Medikamentenangabe bei zeitgleichen Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit erfolgt sei, überzeugt dies nicht. Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit waren vor Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes am 1. Januar 1995 in § 55 SGB V a.F. geregelt und eine Leistung der Krankenversicherung.

Entgegen dem Vorbringen der Beklagten lässt sich vorliegend auch nicht ein übereinstimmender Wille der Vertragsparteien feststellen, neben Leistungen nach dem SGB XI durch den Pflegedienst bei gleichem Pflegeeinsatz die Medikamentengabe nicht zusätzlich zu vergüten. Unstreitig ist ein solcher Wille auch niemals dokumentiert worden. Vielmehr kam es nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat bereits 1997/1998 zu ersten Meinungsverschiedenheiten über die Vergütung der Medikamentengabe. Dies führte dazu, dass sich der Einigungsausschuss nach § 9 des Rahmenvertrags vom 29. April 1996 mehrmals mit diesem Problem befasste, ohne zu einer Einigung zu kommen. Eine Klärung dieser streitigen Frage ist bis heute nicht erfolgt.

Nach dem klaren Wortlaut des Vertrags und mangels eines dokumentierten anderen übereinstimmenden Willens der Vertragspartner ist mithin neben Leistungen des SGB XI die Medikamentengabe zusätzlich zu vergüten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen. Bei der Auslegung des Rahmenvertrags handelt es sich um Landesrecht. Es ist nicht ersichtlich, dass sich die Geltung des Vertrags über die Grenzen des LSG-Bezirks hinaus erstreckt (vgl. BSG, Beschluss vom 11. Mai 2006 – B 3 KR 11/05 R).
Rechtskraft
Aus
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