L 3 J 5/97

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 2 J 125/96
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 J 5/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21. November 1996 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Berufungsverfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Auswirkungen des Zusammentreffens einer Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit einer solchen aus der gesetzlichen Arbeiterrentenversicherung.

Die Klägerin ist die Witwe des am 15.05.1995 verstorbenen Versicherten K ... B ... Der Versicherte hatte seit dem 01.02.1988 von der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und ab dem 01.07.1993 eine Regelaltersrente bezogen.

Anläßlich ihres am 19.05.1995 bei der Beklagten gestellten Antrages auf Gewährung von Witwenrente gab die Klägerin an, auch Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung beantragt zu haben. Die Beklagte bewilligte ihr durch Bescheid vom 21.07.1995 "Große Witwenrente" ab dem 01.06.1995 in Höhe von DM 1.365,91 monatlich. Die Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft (BG) bewilligte ihr durch Bescheid vom 23.02.1996 eine Hinterbliebenenrente nach dem verstorbenen Versicherten ab dem 15.05.1995 in Höhe von DM 1.624 und ab dem 01.09.1995 in Höhe von DM 974,40 monatlich. Grundlage war die Anerkennung einer Berufskrankheit (4105) bei dem Versicherten. Als Unfalltag wurde der 05.04.1995 angegeben.

Durch Bescheid vom 29.03.1996 teilte die Beklagte der Klägerin mit, aufgrund des Zusammentreffens der Witwenrente mit einer Leistung aus der Unfallversicherung werde der Bescheid vom 21.07.1995 abgeändert. Die Rente werde in dem Umfang nicht geleistet, als die Summe der zusammentreffenden Rentenbeträge den Grenzbetrag von DM 1.470,30 übersteige (§ 93 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches - SGB VI -). Ab 01.05.1996 betrage die monatliche Witwenrente DM 460,69. Für die Zeit vom 01.06.1995 bis zum 30.04.1996 ergebe sich eine Überzahlung in Höhe von DM 11.766,24, aufgrund derer sie einen Erstattungsanspruch auf die Nachzahlung der Unfallrente der BG geltend gemacht habe.

Den von der Klägerin hiergegen am 19.04.1996 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.07.1996 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 26.07.1996 beim Sozialgericht (SG) Dortmund Klage erhoben und beantragt, den Bescheid vom 29.03.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.07.1996 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Ansicht vertreten, daß § 93 Abs. 5 Satz 1 SGB VI auf Hinterbliebenenrenten nicht anzuwenden sei. Der entgegenstehenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 21.06.1995, Az.: 5 RJ 4/95, könne sie nicht folgen. Die Beklagte hat sich in dieser Auffassung durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) vom 25.09.1996 bestätigt gesehen.

Durch Urteil vom 21.11.1996 hat das SG die angefochtenen Bescheide der Beklagten aufgehoben. Auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des Urteil wird Bezug genommen.

Gegen dieses ihr am 19.12.1996 zugestellte Urteil richtet sich die am 08.01.1997 eingegangene Berufung der Beklagten. Sie trägt vor, die Aufhebung des Witwenrentenbescheides vom 21.07.1995 sei nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) erfolgt - auch wenn diese Rechtsgrundlage nicht ausdrücklich in den angefochtenen Bescheiden genannt worden sei - da die BG mit Bescheid vom 23.02.1996 der Klägerin nachträglich eine Rente infolge des Todes des Versicherten bewilligt habe. Die Ergänzung des § 93 Abs. 5 SGB VI durch das WFG sei eine Klarstellung der schon seit der Rentenreform 1992 bestehenden Rechtslage. Einer Anhörung der Klägerin habe es im Hinblick auf § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X nicht bedurft. Auch Ermessenserwägungen seien entbehrlich gewesen, da kein sog. atypischer Fall im Sinne des § 48 SGB X vorliege. Denn der Klägerin sei bekannt gewesen, daß die Nachzahlung aus der Unfallversicherung für sie - die Beklagte - zur Begleichung der Erstattungsansprüche zur Verfügung stehe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 21.11.1996 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den der die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.

Gegenstand des Rechtsstreits ist der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 29.03.1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.07.1996. Der Bescheid enthält zwei Regelungen (Verfügungssätze), nämlich die - teilweise - Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 21.07.1995 und die Rückforderung der für die Zeit vom 01.06.1995 bis zum 30.04.1996 nach Ansicht der Beklagten zu Unrecht ausgezahlten Leistungen. Das SG hat zutreffend unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des BSG (a.a.O.) entschieden, daß diese Regelungen rechtswidrig sind. Das SG hat ebenso zutreffend entschieden, daß sich hieran durch das Inkrafttreten des WFG nichts geändert hat. Der Senat macht sich nach eigener Überprüfung die entsprechenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils vollinhaltlich zu eigen; zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf sie Bezug genommen (§ 153 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Der angefochtene Bescheid ist aber auch aus weiteren Gründen rechtswidrig. Denn die Beklagte hat nicht die Anforderungen des SGB X beachtet, unter denen unanfechtbar zuerkannte Rechte wieder entzogen werden können. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die seinem Erlaß zugrundegelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Nach der Vorschrift des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X, auf die sich die Beklagte erstmals im Berufungsverfahren berufen hat, soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse u.a. dann aufgehoben werden, wenn nach Antragstellung oder Erlaß des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, welches zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt hätte. Grundvoraussetzung der Anwendbarkeit des § 48 SGB X ist mithin, daß sich die rechtserheblichen Verhältnisse nach dem Erlaß des bindend gewordenen Verwaltungsaktes geändert haben müssen. Eine solche Änderung ist im vorliegenden Fall nicht eingetreten, so daß eine Aufhebung des Verwaltungsaktes jedenfalls nicht auf § 48 SGB X gestützt werden kann. Unter Zugrundelegung der von der Beklagten vertretenen Rechtsauffassung hat ein von Anfang an rechtswidriger Verwaltungsakt vorgelegen. Wie sich aus § 93 Abs. 1 SGB VI ausdrücklich ergibt, ist im Rahmen der Anrechnung der Rente aus der Unfallversicherung auf die Rente aus der Rentenversicherung entscheidend, ob entsprechende Ansprüche für denselben Zeitraum bestehen. Der Anspruch auf Witwenrente aus der Unfallversicherung bestand bereits seit dem 15.05.1995 und somit vor Beginn der Anspruchsberechtigung hinsichtlich der "Großen Witwenrente" aus der Rentenversicherung (01.06.1995). Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob zu diesem Zeitpunkt die Rente aus der Unfallversicherung bereits bescheidmäßig bewilligt oder ausgezahlt worden war (vgl. zur früheren Rechtslage: BSG SozR Nr. 5 zu § 1279 RVO; ferner BSG SozR 2 1300 § 45 Nr. 29; Urteil vom 09.09.1993, Az.: 5 RJ 28/93).

Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Beklagten war der Rechtsbewilligungsbescheid vom 21.07.1995 sogleich, als er erlassen wurde, rechtswidrig. Die Möglichkeit, ihn zurückzunehmen, richtete sich dann nach § 45 SGB X. Diese Norm ist bisher einhellig als Ermessensnorm angesehen worden (vgl. u.a. BSGE 55, 250; 59, 157; SozR 2 1300 § 48 Nr. 11; § 45 Nrn. 12, 28, 29; § 43 Nr. 1). Zur Begründung einer solchen Ermessensentscheidung hätte die Beklagte die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe sowie die Gesichtspunkte mitteilen müssen, von denen sie bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB X). Dies hat sie in den angefochtenen Entscheidungen nicht getan. Schon aus diesem Grunde mußte die Klage Erfolg haben. Äußerungen der Beklagten im vorliegenden Streitverfahren sind verspätet (§ 41 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 SGB X).

Die Beklagte hat im Verwaltungsverfahren auch die Vorschrift des § 24 SGB X unbeachtet gelassen. Gemäß § 42 Satz 2 SGB X in Verbindung mit Satz 1 der Vorschrift kann derjenige, gegen den ein Verwaltungsakt erlassen worden ist, der in seine Rechte eingreift, dessen Aufhebung - allein deshalb - beanspruchen, wenn und weil die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung unterblieben und bis zum Abschluß des Vorverfahrens (§§ 78 ff. SGG) nicht nachgeholt worden ist. § 24 Abs. 2 SGB X gestattet der Behörde nur bei Vorliegen der darin abschließend geregelten Voraussetzungen (BSG SozR 2 1200 § 34 Nrn. 2, 3,6, 9, 12, 14) in besonders gelagerten Fällen des weichenden Privatinteresses, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob Belange der Verwaltungspraktikabilität das Anhörungsinteresse des Bürgers derart überwiegen, daß es deswegen sachlich vertretbar ist, die Anhörung nicht durchzuführen. Diese verfahrensrechtliche Ermessensentscheidung unterliegt hinsichtlich der in den Tatbeständen des § 24 Abs. 2 SGB X enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffen der vollen gerichtlichen Nachprüfung (BSG SozR 3-13.00 § 24 Nr. 4). Ein Fall des § 24 Abs. 2 SGB X liegt hier nicht vor. Insbesondere sind die Voraussetzungen der Nr. 5 der Vorschrift nicht gegeben. Denn es geht nicht lediglich um eine Anpassung einkommensabhängiger Leistungen an geänderte Verhältnisse, wie z.B. bei den jährlichen Rentenanpassungsmitteilungen, sondern um einen belastenden Verwaltungsakt, der eine bindend bewilligte Rente mit Wirkung für die Vergangenheit gekürzt hat und damit einen Eingriff in eine Rechtsposition der Klägerin darstellt (vgl. hierzu Schroeder-Printzen/von Wulffen, SGB X, 3. Aufl., Rdn. 3 zu § 24). Die mangelnde Anhörung ist auch im Laufe des Widerspruchsverfahrens nicht wirksam nachgeholt worden, weil der Klägerin die entscheidungserheblichen Tatsachen, insbesondere zu den Ermächtigungsgrundlagen für die Aufhebung des bindend gewordenen Rentenbewilligungsbescheides vom 21.07.1995, nicht bekanntgegeben worden sind und sie sich dementsprechend hierzu auch nicht sachgerecht äußern konnte.

Somit führt auch das Fehlen der erforderlichen Ermessensentscheidung und der notwendigen Anhörung der Klägerin im Verwaltungsverfahren zur Rechtswidrigkeit der angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidung. Die Berufung der Beklagten konnte demnach keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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