L 1 U 753/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 3815/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 753/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 11. Oktober 2005 und der Bescheid der Beklagten vom 6. Dezember 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Dezember 2002 abgeändert und die Beklagte verurteilt eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (Allodynie, Hyperalgesie) in einem handtellergroßen Areal paravertebral zum Schulterblatt reichend als weitere Unfallfolge anzuerkennen.

Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt höhere Rente.

Der 1975 geborene Kläger fuhr am 9. April 1999 mit seinem Motorrad von seiner Arbeitsstelle nach Hause und kam dabei zu Sturz. Der Durchgangsarzt Dr. S. diagnostizierte Frakturen des 7. Halswirbelkörpers, der 1. bis 4. Brustwirbelkörper, eine Bennet-Fraktur (Luxationsfraktur an der Basis des ersten Mittelhandknochens) rechts, eine Fraktur im 5. Metacarpale (Mittelhandknochen) links sowie eine Sternumprellung (Durchgangsarztbericht vom 9. April 1999). Stationäre Behandlung erfolgte bis 28. Mai 1999. Dr. S. bescheinigte Arbeitsfähigkeit ab 24. August 1999. Im Gutachten vom 31. August 1999 führte er aus, der Kläger klage vor allem über Beschwerden in der Wirbelsäule. Als Unfallfolge sei hier noch eine leichte Bewegungseinschränkung nachweisbar, vor allem bei der Drehbewegung. Auffällig sei die Hypersensibilität der Rückenhaut. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde vom 1. September 1999 bis 31. Dezember 1999 mit 20 vH eingeschätzt.

In dem Gutachten vom 25. Januar 2000 fand Prof. Dr. E. hinsichtlich der Frakturen im Bereich der Hände keine wesentliche Funktionseinschränkungen. Im Bereich der Wirbelsäule bestünden als Unfallfolgen ein Zustand nach einer Querfortsatzfraktur des 7. Halswirbelkörpers mit Gelenkbeteiligung und Frakturen des 1. bis 4. Brustwirbelkörpers mit Höhenminderung des 3. Brustwirbelkörpers, eine Bewegungseinschränkung der unteren Halswirbelsäule sowie ein Schmerzsyndrom. Im Vergleich zum Vorgutachten ergebe sich bei objektivierbaren Befunden eine Einschränkung der Beweglichkeit der Halswirbelsäule in Rotation nach rechts. Auf orthopädischem Fachgebiet betrage die MdE 20 vH. Die schmerztherapeutische Behandlung sei fortzuführen. Dr. J. erstattete das neurologische Zusatzgutachten vom 10. März 2000 unter Berücksichtigung eines neuroradiologischen Zusatzgutachtens des Dr. G. vom 28. Februar 2000. Dr. G. kam in Auswertung der von ihm durchgeführten Kernspintomographie sowie von Voraufnahmen zum Ergebnis, eine frakturbedingte Kompression des Myelon bzw. von Nervenwurzeln im Bereich der unteren Halswirbelsäule und der oberen Brustwirbelsäule ließen sich bildgebend nicht nachweisen. Eine traumatische intramedulläre Höhlenbildung könne ausgeschlossen werden. Dr. J. bezeichnete als Unfallfolgen auf neurologischem Gebiet ein pseudo-radikuläres Schulter-Arm-Schmerzsyndrom links, eine leichtgradige Bewegungseinschränkung der unteren Halswirbelsäule und eine Insomnie (Schlafstörung). Der psychische Befund zeige keine Auffälligkeiten, wobei die Schlafstörungen dennoch an eine larvierte depressive Symptomatik im Kontext mit einer noch unzureichenden Krankheitsbearbeitung denken ließen. Sie schätzte die MdE auf neurologischem Gebiet für Veränderungen der Wirbelsäule mit anhaltender Funktionsbehinderung und häufig rezidivierenden stärkeren lang anhaltenden Nerven- und Muskelreizerscheinungen ohne Paresen auf 20 vH. Prof. Dr. R. schätzte die Gesamt-MdE auf 20 vH ein, da die Unfallfolgen auf neurologischem und orthopädischem Fachgebiet sich im Wesentlichen deckten (Bericht vom 31. März 2000). Da der Beratungsarzt der Beklagten dem neurologischen Gutachten nicht zu folgen vermochte, veranlasste die Beklagte die Stellungnahme des Neurologen und Psychiater Dr. F. vom 26. Juni 2000. Eigentliche neurologische Unfallfolgen seien nicht objektiviert worden. Die geklagten Schlafstörungen seien als unspezifisches Phänomen aufzufassen und der Unfallzusammenhang sei nicht geklärt. Es bestehe eine Gesamt-MdE von 20 vH.

Die Beklagte erkannte den Unfall als Arbeitsunfall an und bewilligte dem Kläger eine Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 vH ab 24. August 1999 (Bescheid vom 20. Juli 2000). Als Folgen des Arbeitsunfalls erkannte sie an: "Nach operativ versorgtem, knöchern fest verheiltem Daumengrundgelenksbruch rechts: reizlose Narben, noch einliegendes Fremdmaterial; der Bruch des 5. Mittelhandknochens links ist verheilt und hat keine Folgen hinterlassen; nach Querfortsatzbruch mit Gelenkbeteiligung des 7. Halswirbelkörpers, Bruch des 1. bis 4. Brustwirbelkörpers: Höhenminderung des 3. Brustwirbelkörpers, Bewegungseinschränkung der unteren Halswirbelsäule; die Brustbeinprellung ist folgenlos ausgeheilt."

Eine Kernspintomographie der Schulter ergab ein Impingementsyndrom mit Tendinopathie der Supraspinatussehne (Bericht des Radiologen Dr. T. vom 12. Dezember 2000). Der behandelnde Chirurg Dr. K. hielt es für denkbar, dass der Kläger eine Schulterkontusion erlitten habe, aus deren Folgen das Impingement resultiere (Schreiben vom 30. Januar 2001). Auch sei der Kläger in schmerztherapeutischer Behandlung gewesen, die weiter erforderlich sei (Nachschaubericht vom 7. Juni 2001). Nach Rücksprache mit ihrem Beratungsarzt teilte die Beklagte ihm mit, dass das Impingementsyndrom nicht auf dem Arbeitsunfall zurückzuführen sei.

Zur Feststellung der Rente auf unbestimmte Zeit erstattete der Orthopäde Dr. P. das Gutachten vom 14. August 2001. Auf orthopädischem Gebiet bestünden als Unfallfolgen jetzt radiologisch ausgeheilte Wirbelkörperfrakturen mit deutlicher Höhenminderung des 3. Brustwirbelkörpers, ohne Rückenmarkskompression und Spinalkanalstenose, mit endgradig eingeschränkter Funktion der Halswirbelsäule, ohne periphere neurologische Ausfälle. Die Brüche der Hände seien ohne nennenswerte Funktionseinschränkung ausgeheilt. Die MdE betrage 20 vH. Im neurologischen Zusatzgutachten vom 16. Oktober 2001 führte Dr. K. aus, mittlerweile bestünden noch belastungsabhängige Schmerzbeschwerden im unteren Halswirbelsäulen- und mittleren Brustwirbelsäulenbereich und insbesondere eine Hyperalgesie - Hyperpathie paravertebral links streifenförmig (vom Schulterblattoberrand bis Schulteroberkante) über die laterale Schulter bis zum mittleren Oberarm reichend. Abgesehen von den sensiblen Beschwerden sei der neurologische Untersuchungsbefund in allen Anteilen unauffällig. Anzunehmen sei ein pseudoradikuläres Schmerzsyndrom, verursacht durch oberhalb der Fraktur gelegene, möglicherweise blockierte Wirbelkörpergelenke. Aus rein neurologischer Sicht sei ein kausalgieformes linksseitiges Schmerzsyndrom im Bereich der linken Schulter festzuhalten, welches für sich gesehen allenfalls eine MdE von 10 bis 20 vH beinhalte. Dieses könne ohne weiteres in die orthopädische Begutachtungsbewertung mit einfließen. Aus neurologischer Sicht ergebe sich bezüglich der Schmerzsymptomatik eine MdE von 10 vH, die als Stütz-MdE im Sinne des Hauptgutachtens Berücksichtigung finden solle. Dr. P. bewertete die Gesamt-MdE mit 20 vH (Schreiben vom 24. Oktober 2001).

An Stelle der Rente als vorläufige Entschädigung stellte die Beklagte eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 vH fest (Bescheid vom 6. Dezember 2001). Sie sah als Folgen des Arbeitsunfalls an: "Nach Querfortsatzbruch mit Gelenkbeteiligung des 7. Halswirbelkörpers und Bruch des 1. bis 4. Brustwirbelkörpers: Höhenminderung des 3. Brustwirbelkörpers, Bewegungseinschränkung der unteren Halswirbelsäule; nach operativ versorgtem, knöchern fest verheiltem Daumengrundgelenksbruch rechts: reizlose Narben, noch einliegendes Fremdmaterial". Der Kläger erhob Widerspruch. Gegenüber seinen behandelnden Ärzten klagte der Kläger über Rückenschmerzen, insbesondere nach längerem Sitzen sowie Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule und der Schulter. Die behandelnden Ärzte verordneten wegen des Schmerzsyndroms Schmerzmittel. Vom 1. Juli 2002 bis 25. Juli 2002 erfolgte eine stationäres Heilverfahren, in dem eine Beschwerdelinderung erreicht werden konnte (Entlassungsberichte des Dr. P. und Dr. G. vom 25. Juli 2002 und 22. August 2002).

Die Beklagte veranlasste weitere Gutachten bei Dr. B. und Prof. Dr. H ... Im neurologischen Gutachten vom 17. Juli 2002 kam Dr. B. zum Ergebnis, als Unfallfolge auf neurologischem Gebiet finde sich eine Sensibilitätsstörung Hyperalgesie und Hyperpathie paravertebral links zwischen der unteren Halswirbelsäule und der oberen Brustwirbelsäule bis zum linken Oberarmkopf und eine eingeschränkte Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Ansonsten sei der neurologische Status unauffällig. Die MdE auf neurologischem Gebiet sei mit 10 vH ab Rentenbeginn anzusetzen. Prof. Dr. H. führte im orthopädisch-chirurgischen Gutachten vom 27. September 2002 aus, die Brüche an den beiden Händen und den Wirbeln C 7 bis T 4 seien mit Ausnahme des Kompressionsbruchs des 3. Brustwirbels regelmäßig und ohne funktionelle Folgen ausgeheilt. Als wesentliche objektivierbare Unfallfolge bleibe die Höhenminderung und die keilförmige Deformierung des 3. Brustwirbelkörpers. Diese bedinge ausschließlich im Bereich der oberen Brustwirbelsäule eine mäßige statische und eine auf die gesamten Wirbelsäule bezogene geringfügige funktionelle Einschränkung. Diese werde wegen der lokalen Bewegungseinschränkung ab Rentenbeginn mit einer MdE von 20 vH, eher im unteren Bereich liegend, eingeschätzt. Nicht unfallbedingt seien die großbogige kyphotische Deformität der Brustwirbelsäule und die auch wesentlich später aufgetretene Tendopathie an der linken Schulter. Nicht eindeutig unfallbedingt seien die geklagten Spontan- und Druckschmerzen im inneren hinteren Schultergürtelbereich, deren Genese unklar bleibe. Funktionelle Störungen seien hierdurch nicht bedingt. Nach Erhalt früher angefertigter Computer- und Kernspintomographieaufnahmen bezeichnete er in der Stellungnahme vom 16. Oktober 2002 als Unfallfolgen: mittelgradige Deformierung des 3. Brustwirbelkörpers mit Höhenminderung und ventrolateraler Keilform, geringfügige Deformierung des 2. und des 4. Brustwirbelkörpers, geringfügige Höhenminderung der Bandscheiben zwischen dem 2. und dem 3. sowie dem 3. und dem 4. Brustwirbel und geringfügige Verkalkung des vorderen Längsbandes im Bereich des 6. Halswirbels. Die zusätzlichen Veränderungen seien geringfügig, weshalb er die MdE weiterhin und auf Dauer mit 20 vH einschätze.

Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 2002). Prof. Dr. H. habe auf chirurgisch-orthopädischem Gebiet die MdE zutreffend mit 20 vH beurteilt. Da auf neurologischem Gebiet keine nachweisbaren unfallbedingten Funktionseinbußen vorlägen, sei auch die Erwerbsfähigkeit nicht gemindert. Selbst wenn man von einer (zusätzlichen) MdE von 10 vH auf neurologischem Gebiet ausgehe, ergäbe sich eine Gesamt-MdE von 20 vH, da beide Werte nicht zu einer Gesamt-MdE addiert werden könnten. Die Schlafstörungen und die Schulterarmschmerzen seien unfallunabhängige Beschwerden.

Der Kläger hat am 30. Dezember 2002 Klage bei dem Sozialgericht Freiburg erhoben. Er leide unfallbedingt unter einem Schmerzsyndrom im Bereich der Brustwirbelsäule und der linken Schulter, das auch zu erheblichen Schlafstörungen führe. Da er nicht belastbar sei, arbeite er nur noch mit 70% der betriebsüblichen Arbeitszeit. Sowohl auf orthopädischem als auch auf neurologischem Gebiet sei jeweils eine MdE von 20 vH anzunehmen, mithin eine Gesamt-MdE von 30 vH.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat der Neurochirurg Dr. W. das Gutachten vom 7. Juni 2004 erstattet. Die vom Kläger geklagten Schmerzen sowie die intermittierend auftretende Dysregulation der Temperatur im Bereich der linken Schulter und die Temperaturempfindsamkeit seien Folge einer lokalen Läsion des dem Querfortsatz sehr eng benachbarten Grenzstrangsystems. Eine Läsion des Grenzstrangs müsse nicht zwangsläufig auch eine Läsion der entsprechenden Nervenwurzel an der Wirbelsäule in der betroffenen Höhe implementieren. Aus der schmerzbedingten Fehl- und Entlastungshaltung resultiere die heute bestehende Verbiegung der Wirbelsäule mit Bewegungsbeschwerden im Bereich des thorakolumbalen Übergangs und der lumbosacralen Areale mit Fehlbelastung der kleinen Wirbelgelenke entlang der gesamten Wirbelsäule. Die chronischen Schmerzen mit sympathischer Komponente seien mit einer MdE von 30 vH, die funktionelle Einschränkung der Wirbelsäule als Ganzes mit einer MdE von 10 vH, die Bewegungseinschränkung der unteren Halswirbelsäule mit Dreh- und Neigungsdefizit des Kopfes mit einer MdE von 20 vH sowie die algetisch bedingte reaktive Depression mit einer MdE von 20 vH einzuschätzen, sodass die unfallbedingte Gesamt-MdE 50 vH seit dem 24. August 1999 betrage.

Im Auftrag des Sozialgerichts hat Dr. B. das nervenärztliche Gutachten vom 30. Dezember 2004 erstattet. Auf neurologischem Gebiet bestehe als Unfallfolge eine Allodynie - Hyperalgesie in einem handtellergroßen Gebiet links paravertebral zum Schulterblatt. Es liege eine Schädigung sensibler Nervenäste zu Grunde. Die genaue Schädigungsursache könne nicht angegeben werden. Da die Schädigung mit einer Latenz von mehreren Wochen nach dem Unfall aufgetreten sei, müsse man am ehesten von einer Kompression, z.B. durch narbenbedingte Veränderungen in der Umgebung der Frakturen der Brustwirbelkörper ausgehen. Es bestünden keine objektivierbaren Hinweise für eine Grenzstrangschädigung. Der neurologische Befund sei ansonsten in allen Teilen regelrecht, wie auch der psychische Befund. Die MdE auf neurologischem Gebiet betrage 10 vH, unter Berücksichtigung der MdE auf orthopädischem Gebiet von 20 vH betrage die Gesamt-MdE 25 vH ab 24. August 1999.

Die Beklagte hat die Stellungnahmen des Dr. F. vom 14. Juni 2004 und des Dr. K. vom 3. August 2004 und vom 18. Februar 2005 vorgelegt. Dr. F. hat ausgeführt, bei den Ausführungen des Dr. W. handele es sich schlichtweg um Behauptungen bzw. Übernahme des subjektiven Erlebens des Klägers. Dr. K. hat die Ausführungen des Dr. W., wonach die Unfallfolgen im Bereich der unteren Hals- bzw. oberen Brustwirbelsäule zu einer Funktionsstörung der gesamten Wirbelsäule geführt haben solle, als nicht nachvollziehbar und unbegründet bezeichnet. Nach dem Segmentprinzip zur Beurteilung der MdE bei Verletzungen der Wirbelsäule ergebe sich eine MdE von 10 vH. Die orthopädische MdE liege eher unter als bei 20 vH, sodass eine Rente nach einer MdE in Höhe von 25 vH nicht gewährt werden könne.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. Oktober 2005). Das Sozialgericht hat sich auf die von der Beklagten eingeholten Gutachten und das Gutachten des Dr. B. gestützt. Die von Dr. W. geschätzte MdE um 50 vH erscheine deutlich überhöht.

Gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 24. Januar 2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16. Februar 2006 Berufung eingelegt. Dr. W., mit dessen Ausführungen sich das Sozialgericht nicht auseinandergesetzt habe, habe detailliert beschrieben, wie das Schmerzsyndrom entstanden und erklärbar sei. Es bestehe ein unfallbedingtes Schmerzsyndrom, welches bereits eine Einzel-MdE von 30 vH verursache.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 11. Oktober 2005 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 6. Dezember 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Dezember 2002 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von mindestens 30 vH zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte, die Akte des Sozialgerichts sowie die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerechte Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis beider Beteiligter gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, insoweit begründet, als eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (Allodynie, Hyperalgesie) in einem handtellergroßen Areal paravertebral zum Schulterblatt reichend als weitere Unfallfolge festzustellen ist, im Übrigen aber unbegründet. Die Beklagte hat zu Recht eine Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von 20 vH festgestellt.

Nach § 56 des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeiten sind nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Das Unfallereignis am 9. April 1999 war ein Arbeitsunfall. Denn der Kläger war auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle, was zwischen den Beteiligten nicht umstritten und auch mit dem Bescheid vom 20. Juli 2000 bestandskräftig anerkannt ist.

Voraussetzung für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalls ist u.a. ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der eingetretenen bzw. bestehenden Gesundheitsstörung (haftungsausfüllende Kausalität). Für die Beurteilung der haftungsausfüllenden Kausalität gilt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG, der der Senat folgt, die Theorie der wesentlichen Bedingung. Danach genügt abweichend von einer naturwissenschaftlich-philosophischen Kausalitätsbetrachtung nach der Bedingungs- oder Äquivalenztheorie ("conditio sine qua non") nicht jedes Glied in einer Ursachenkette, um die Verursachung zu bejahen, weil dies zu einem unendlichen Ursachenzusammenhang führt. Als kausal und im Sozialrecht erheblich werden vielmehr nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Gesundheitsschaden zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt des Gesundheitsschadens abgeleitet werden. Haben mehrere Bedingungen zu einem Erfolg beigetragen, so sind nur solche Bedingungen wesentlich, die gegenüber anderen von überragender Bedeutung sind (ständige Rechtsprechung, vgl. zum Ganzen: z.B. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 - B 2 U 22/03 R -; Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 34/03 R - m.w.N.). Was den anzuwendenden Beweismaßstab anbelangt, gelten für das Vorliegen des Ursachenzusammenhangs verminderte Anforderungen. Während die Grundlagen der Ursachenbeurteilung - versicherte Tätigkeit, Einwirkung, Erkrankung - mit einem der Gewissheit nahe kommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein müssen, genügt für den Zusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung aufgrund der mit der zumeist medizinischen Beurteilung dieses Zusammenhangs bestehenden tatsächlichen Schwierigkeiten eine hinreichende Wahrscheinlichkeit. Diese liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände, die für den wesentlichen Ursachenzusammenhang sprechenden so stark überwiegen, dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann und ernste Zweifel ausscheiden. Die bloße Möglichkeit einer wesentlichen Verursachung genügt nicht (BSG, Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 34/03 R - m.w.N.).

Der Kläger erlitt bei dem Arbeitsunfall Frakturen des 7. Halswirbelkörpers, der 1. bis 4. Brustwirbelkörper, sowie der Mittelhandknochen an der rechten und linken Hand und eine Sternumprellung. Die Frakturen an den Händen sowie die Sternumprellung sind ohne funktionelle Einschränkungen verheilt. Die Brüche der Wirbelkörper verheilten mit einer mittelgradigen Deformierung des 3. Brustwirbelkörpers mit Höhenminderung und ventrolateraler Keilform, einer geringfügigen Deformierung des 2. und des 4. Brustwirbelkörpers, einer geringfügigen Höhenminderung der Bandscheiben zwischen dem 2. und dem 3. sowie dem 3. und dem 4. Brustwirbel und einer geringfügigen Verkalkung des vorderen Längsbandes im Bereich des 6. Halswirbels. Es besteht eine ausschließlich im Bereich der oberen Brustwirbelsäule mäßige statische und eine auf die gesamten Wirbelsäule bezogene geringfügige funktionelle Einschränkung. Dies ergibt sich aus dem orthopädisch-chirurgischen Gutachten des Prof. Dr. Hehne vom 27. September 2002 sowie seiner ergänzenden Stellungnahme vom 16. Oktober 2002, die der Senat urkundenbeweislich verwerten kann. Diese gutachterliche Beurteilung steht im Wesentlichen in Übereinstimmung mit den weiteren, in den Akten der Beklagten enthaltenen orthopädischen bzw. unfallchirurgischen Stellungnahmen.

Als weitere Unfallfolge besteht eine gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (Allodynie, Hyperalgesie) in einem handtellergroßen Areal paravertebral zum Schulterblatt reichend. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des Dr. Berger vom 30. Dezember 2004. Auch Dr. Bussinger, dessen Gutachten vom 17. Juli 2002 der Senat urkundenbeweislich verwertet, sah als Unfallfolge eine Sensibilitätsstörung mit Hyperalgesie und Hyperpathie paravertebral links zwischen der unteren Halswirbelsäule und der oberen Brustwirbelsäule bis zum linken Oberarmkopf reichend an. Dr. Berger hat dargelegt, dass die gesteigerte Schmerzempfindlichkeit auf einer Schädigung der Nervenäste aus der Nervenwurzel des 2. und 3. Brustwirbelkörpers beruht.

Die Annahme einer Gesamt-MdE von 20 vH für die Unfallfolgen ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die MdE richtet sich nach § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Bemessung der MdE hängt von zwei Faktoren ab, den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (BSG SozR Nr. 25 zu § 128 SGG; SozR 2200 § 581 Nr. 6). Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG SozR 2200 § 581 Nrn. 22, 23; SozR 3-2200 § 581 Nr. 5 mwN). Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden (BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG aaO; zum Ganzen: SozR 4-2700 § 56 Nr. 1 mwN).

Die MdE auf chirurgisch-orthopädischem Gebiet beträgt höchstens 20 vH. Die Einschätzung der MdE durch Prof. Dr. H. - und auch der weiteren chirurgisch-orthopädischen Gutachter - mit 20 vH liegt im oberen Bereich. Unter Berücksichtigung der Erfahrungswerte ist die Beurteilung der MdE auf orthopädischem Gebiet durch Prof. Dr. H. schlüssig, insbesondere auch seine Ausführungen, die MdE liege eher bei 15 vH. Die MdE bei Wirbelsäulenverletzungen ist nach den Erfahrungswerten einzuschätzen mit unter 10 vH bei einem isolierten Wirbelkörperbruch ohne Bandscheibenbeteiligung und bei einem stabil verheilten Wirbelkörperbruch mit Bandscheibenbeteiligung, mit 10 bis 20 vH bei einem stabil verheilten Wirbelkörperbruch mit Bandscheibenbeteiligung und mit einem statisch wirksamen Achsenknick, mit 20 vH bei einem instabil verheilten Wirbelkörperbruch mit Bandscheibenbeteiligung, mit 20 bis 30 vH bei einem instabil verheilten Wirbelkörperbruch mit Bandscheibenbeteiligung mit statisch wirksamem Achsenknick (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage, 8.3.2.8, S. 536). Da die Wirbelkörperbrüche stabil verheilt sind sowie ein wirksamer Achsenknick und auch neurologische Ausfallerscheinungen nicht vorliegen, ist eine Bewertung der MdE mit 15 vH angemessen. Dies wird bestätigt durch die Ausführungen des Dr. K. in seiner Stellungnahme vom 3. August 2004, die der Senat als Parteivorbringen der Beklagten berücksichtigt, mit der weiteren Differenzierung nach dem Segmentprinzip (vgl. dazu Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO). Dr. K. kommt bei der Berechnung nach dem Segmentprinzip auf einen Wert von 8,8%, aufgerundet 10 vH. Er geht allerdings nur von einer Beteiligung der Segmente C 6/C 7 (6,1%) und T 2/T 3 (2,2%) aus, sodass sich an sich ein Wert von 8,3% ergibt, der aufgerundet aber ebenfalls 10 vH ergibt. Durch den Unfall betroffen war auch der 4. Brustwirbelkörper, der unter geringfügiger Deformierung verheilt ist, sodass auch das Segmenten T 3/T 4 zusätzlich mit 2,2% zu berücksichtigen wäre und sich damit ein Wert von 10,5%, abgerundet 10 vH ergibt. Selbst wenn man die Werte für die Brustwirbelkörper verdoppelte, weil die einfachen Segmentwerte nur bei stabil ausgeheilten Frakturen ohne Deformierung zur Anwendung kommen, ergebe sich ein Wert von 14,9%, aufgerundet eine MdE von 15 vH.

Die MdE auf neurologischem Gebiet beträgt unter 10 vH. Neurologische Funktionsausfälle konnten bei allen Untersuchungen - auch der des Dr. W. - nicht festgestellt werden. Die von Dr. B. angenommene Schädigung der Nervenäste und die gesteigerte Schmerzempfindlichkeit (Allodynie, Hyperalgesie) in einem handtellergroßen Areal paravertebral zum Schulterblatt reichend haben damit keine oder allenfalls nur sehr geringe funktionelle Auswirkungen. Zu dem von Dr. B. herangezogenen Erfahrungswert einer Schädigung des Nervus cuteanus femoris lateralis (Hautnerv im Oberschenkel) weist Dr. K. in seiner Stellungnahme vom 18. Februar 2005 zutreffend auf Schönberger/Mehrtens/Valentin (aaO, S. 321) hin, dass insoweit die MdE mit 0 bis 10 vH bewertet wird. Angesichts der fehlenden neurologischen Defizite ist damit eher von einer MdE von unter 10 vH auszugehen.

Unter Berücksichtigung der Teil-MdE von höchstens 20 vH, eher 15 vH auf chirurgisch-orthopädischem und von unter 10 vH auf neurologischem Gebiet ist die Gesamt-MdE mit 20 vH zutreffend eingeschätzt.

Dem Gutachten des Dr. W. folgt der Senat nicht. Für die von ihm angenommenen Unfallfolgen hat er keine objektiven Befunde erhoben, worauf Dr. F. und Dr. B. zutreffend hinweisen. Der neurologische Status war bei allen entsprechenden Untersuchungen unauffällig. Dies erkennt wohl auch Dr. W., wenn er ausführt, dass die motorischen oder sensiblen Funktionen voll erhalten sein können, jedoch die sympathisch regulierten Funktionen gestört seien. Die von ihm behauptete Temperaturstörung im Bereich der linken Schulter konnte Dr. B. nicht feststellen. Insbesondere auch die von Dr. W. gestellte Diagnose einer algetisch bedingten reaktiven Depression mit der Annahme einer Teil-MdE von 20 vH ist nicht erklärbar. Dr. W. fand zum Zeitpunkt der Untersuchung keinen Hinweis für depressive Einschränkungen. Eine Depressivität bzw. Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Gebiet sind von keinem anderen Gutachter beschrieben worden. Des Weiteren ist die Beurteilung psychiatrischer Erkrankungen für Dr. W. als Neurochirurgen fachfremd.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG. Da der Kläger mit seinem im Vordergrund stehenden Begehren auf höhere Rente nicht erfolgreich war, ist es nicht angemessen, die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger einen Teil seiner außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen vor.
Rechtskraft
Aus
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