L 5 P 11/97

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 10 P 4/96
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 P 11/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
3 RP 17/97
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Voraussetzungen der Pflegestufe 2 bei wegen Diabetes mellitus Erblindetem

Bei Beurteilung der Schwerpflegebedürftigkeit (Voraussetzung der Pflegestufe 2 im Sinne des § 15 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 SGB XI) eines wegen insulinpflichtigen Diabetes mellitus I Erblindeten können die Hilfestellungen zur Ausübung seines Berufes (Begleitung zum Arbeitsplatz, An- und Ausziehen der Arbeitskleidung) ebensowenig berücksichtigt werden wie Hilfen beim Blutzuckermessen und bei Insulininjektionen. Denn hinsichtlich der für die Ausübung einer Berufstätigkeit erforderlichen Verrichtungen stehen die Leistungen der Blindenhilfe zur Verfügung (§ 67 Abs. 1 BSHG bzw. § 2 Landesblindengesetz NRW vom 11.1 1.1 992). Blutzuckermessen und lnsulininjektionen gehören zum Bereich der Behandlungspflege (§ 37 Abs. 2 SGB V) und fallen damit in den Zuständigkeitsbereich der Krankenversicherung.
Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger in die Pflegestufe II einzustufen ist.

Der 1937 geborene Kläger ist seit 1974 wegen eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus I erblindet. Er lebt zusammen mit seiner Ehefrau in einem Haushalt und ist als Masseur tätig. Seine Ehefrau bringt ihn täglich zur Arbeit, hilft ihm dort beim Umziehen, spricht ihm Behandlungstermine und -arten auf ein Tonband und holt ihn abends wieder von der Arbeitsstelle ab. Im häuslichen Bereich benötigt der Kläger beim Stehen, Gehen und Treppensteigen keine Hilfe. Auf den Antrag des Klägers auf Pflegeleistungen vom 03.02.1995 veranlaßte die Beklagte eine Begutachtung durch den MDK. Aufgrund eines Hausbesuches am 18.04.1995 stellte der Gutachter Dr. T. fest, Hilfebedarf bestehe beim Zurechtlegen der Kleidung, des Waschzeuges, der Kontrolle des Wascherfolges und des Anziehens, beim Rasieren, der mundgerechten Zubereitung der Nahrung, Insulin spritzen, Blutzucker messen (mindestens vier- bis fünfmal täglich) und der Begleitung zum Arzt (zweimal wöchentlich). Darüber hinaus bestehe Hilfebedarf im gesamten Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Er bejahte das Vorliegen von erheblicher Pflegebedürftigkeit nach Stufe I (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 SGB XI). Mit Bescheid vom 06.06.1995 bewilligte die Beklagte dem Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 01.04.1995.

Mit seinem Widerspruch verlangte der Kläger die Einstufung in die Pflegestufe II. Er wies darauf hin, daß nach dem Gutachten des MDK neben der Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung ein täglicher Hilfebedarf bei mehr als zwei Verrichtungen im Bereich der Grundpflege bestehe. Er machte ferner geltend, daß er nachts nicht ohne Aufsicht schlafen könne, da die Möglichkeit einer Entgleisung des Diabetes bestehe und er dann sofortige fremde Hilfe benötige. Bei der Zubereitung der Speisen müsse beachtet werden, daß er aufgrund seines Diabetes mellitus eine Diät einhalten müsse; dabei sei insbesondere auf das Gewicht der Speisen zu achten. Seine Pflegeperson müsse darüber hinaus das täglich während der Arbeit benötige Essen diätgerecht verpacken. Er benötige die Pflegeperson für die Ausübung seines Berufes, darüber hinaus sei ihre Anwesenheit für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben unabdingbar. Ergänzend trug er vor, daß bei der Verrichtung der Notdurft bei bekannten Toiletten lediglich eine Kontrolle der Sauberkeit der Toilette nach der Verrichtung erforderlich sei; bei unbekannten Toilettenanlagen sei jedoch Hilfe für die gesamte Verrichtung notwendig. In einer Stellungnahme vom 21.11.1995 wies Dr. A. vom MDK darauf hin, daß der vom Kläger angegebene Hilfebedarf im Gutachten berücksichtigt worden sei. Die Diabetesdiät gehöre zum Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung. Nicht berücksichtigt werden könne die Begleitung zur Arbeit sowie eine allgemeine Beaufsichtigung, die über die Sicherung der im Gesetz definierten täglichen Verrichtungen hinausgehe. Im Bereich der Grundpflege bestehe ein Hilfebedarf beim Zurechtlegen von Dingen, z. B. Waschutensilien, Zahnpasta dosieren, Kleidung heraussuchen sowie in der Kontrolle von Kleidung und "Wascherfolg". Aktive Hilfen seien sicherlich nötig für das Rasieren und Kämmen, die Reinigung des Zahnersatzes sowie die mundgerechte Zubereitung der Nahrung. Mehr als maximal 30 bis 45 Minuten für jeden dieser beiden Bereiche seien aber nicht zu veranschlagen. Mit Widerspruchsbescheid vom 20.03.1996 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Zur Begründung seiner am 23.04.1996 erhobenen Klage hat der Kläger die Auffassung vertreten, unter Berücksichtigung der hauswirtschaftlichen Versorgung betrage der tägliche Pflegebedarf mindestens 3 Stunden. Zu der Pflegezeit zähle auch die Zeit, die auf die Hilfen beim An- und Ausziehen auf der Arbeitsstelle sowie die berufsbedingte Körperreinigung entfalle. Tagsüber sei die Bereitschaft der Pflegeperson erforderlich, da aufgrund seiner körperlich anstrengenden Arbeit die Gefahr einer Unterzuckerung bestehe und in diesem Fall seine Ehefrau von den Kollegen gerufen werde, um eine Hinzuziehung eines Notarztes oder eine notfallmäßige Einweisung in ein Krankenhaus zu vermeiden.

Das Sozialgericht hat nach Einholung eines Befundberichtes von dem behandelnden Arzt Dr. J. ein Gutachten von der Pflegefachkraft O. eingeholt. Auf das Gutachten vom 31.10.1996 und die ergänzende Stellungnahme vom 18.02.1997 wird Bezug genommen. Mit Urteil vom 18.04.1997 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, da auch nach dem Gutachten der Sachverständigen O. im Bereich der Grundpflege nur ein Pflegebedarf von durchschnittlich 110 Minuten pro Tag bestehe. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf das Urteil verwiesen.

Der Kläger trägt im Berufungsverfahren vor, da eine Leistung ab 01.04.1995 streitig sei, müsse § 15 Abs. 3 SGB XI in der seinerzeit geltenden Fassung angewandt werden. Insoweit könne nur ein Pflegebedarf von insgesamt drei Stunden gefordert werden, wobei die Hilfe im Bereich der Grundpflege überwiegen müssen. Dies sei nach dem Gutachten der Sachverständigen O. der Fall. Darüber hinaus müßten entgegen der Auffassung des Sozialgerichts auch die Hilfestellungen am Arbeitsplatz bei der Berechnung der benötigten Pflegezeiten berücksichtigt werden.

Der Kläger beantragt,

Die Beklagte beantragt,

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beklagte hat zutreffend nur Pflegegeld nach der Pflegestufe I bewilligt, die Voraussetzungen für die Einstufung in die Pflegestufe II liegen nicht vor.

Nach § 15 Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 SGB XI sind schwerpflegebedürftig (Pflegestufe II) Personen, die über Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung hinaus im Bereich der Grundpflege (Körperpflege, Ernährung, Mobilität) mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen, wobei nach § 15 Abs. 3 Ziff. 2 SGB XI in der Fassung des 1. SGB XI-Änderungsgesetzes vom 14.06.1996 (BGBl. I 830) der auf die Grundpflege entfallende Zeitaufwand mindestens zwei Stunden täglich betragen muß. Dieser jetzt vom Gesetzgeber vorgegebene Mindestzeitaufwand kann auch der Beurteilung der Schwerpflegebedürftigkeit vor Inkrafttreten der Gesetzesregelung zugrundegelegt werden, da die gesetzliche Festlegung die Vorstellung des Gesetzgebers wiedergibt (Kummer, in: Schulin, HS-PV, Anhang § 13 Rdnrn. A 98, 105). Auch die in Ausfüllung des § 15 Abs. 3 SGB XI a.F. erlassenen Pflegerichtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen vom 07.11.1994 haben für die Zuordnung zur Pflegestufe II einen Zeitbedarf von insgesamt täglich durchschnittlich drei Stunden mit einem eindeutigen Übergewicht des pflegerischen Aufwands verlangt (Ziff. 4.1.2 der Richtlinien). Es begegnet keinen Bedenken, ein deutliches Überwiegen nur bei einem Verhältnis von 2:1 zugunsten des auf die Grundpflege entfallenden Zeitaufwandes zu bejahen und demgemäß für die Einstufung in die Pflegestufe II einen Mindestzeitbedarf für die Grundpflege von zwei Stunden täglich im Wochendurchschnitt zu fordern.

Der Kläger benötigt bei den auf die Grundpflege entfallenden Verrichtungen (§ 14 Abs. 4 Ziff. 1 bis 3 SGB XI) nicht in einem Umfang Hilfestellungen, die für eine nicht ausgebildete Pflegeperson einen täglichen Zeitaufwand von zwei Stunden erfordern. Der Senat geht dabei von den Feststellungen der Sachverständigen O. aus. Hinsichtlich des generellen Pflegebedarfs stimmt ihr Gutachten im wesentlichen mit dem Gutachten des MDK (Dr. T.) vom 01.06.1995 überein. Der Kläger kann danach im Bereich der Körperpflege die Bewegungsabläufe selbst vornehmen; er ist im Bereich der Mobilität nur beim Aufsuchen von Orten außerhalb der näheren Umgebung eingeschränkt und kann Nahrung selbst zu sich nehmen. Erforderlich sind das Zurechtlegen von Waschutensilien und die Kontrolle des "Wascherfolges", das Dosieren von Zahnpasta, die Kontrolle der Rasur (ggfls. mit Nachrasur) einschließlich der Reinigung des Rasierapparates, die Kontrolle der Toilette auf Sauberkeit (bei Verrichten der Notdurft im gewohnten Bereich) und das Zurechtlegen der Kleidungsstücke und die Überprüfung ihres Sitzes. Weitergehende aktive Hilfen sind für das Reinigen des Zahnersatzes, das Kämmen, sowie für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung (Zubereiten belegter Brote/Zerkleinern von Nahrungsmitteln) erforderlich. Der von der Sachverständigen insoweit genannte Zeitaufwand (zu diesem hatte sich das Gutachten des MDK nicht geußert) ist für den Kläger, vergleicht man die von ihr genannten Zeitwerte mit den Orientierungswerten zur Pflegebemessung (Anlage 1 der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem 11. Buch des Sozialgesetzbuchs - Begutachtungs-Richtlinien vom 21.03.1997), eher günstig. Der Kläger hat entsprechend das Gutachten auch nicht angegriffen. Somit kann unbedenklich von den von der Sachverständigen O. genannten Zeitwerten ausgegangen werden.

Entgegen der Auffassung des Klägers können die Hilfestellungen zur Ausübung seines Berufes (Begleitung zum Arbeitsplatz, An/Ausziehen der Arbeitskleidung) nicht berücksichtigt werden. Für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit sind allein die in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen maßgebend; die Aufzählung zeigt, daß nur bestimmte elementare Lebensbereiche maßgeblich sind. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich nur Verrichtungen einbeziehen wollen, die für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unumgänglich sind (vgl. BT-Drucks. 12/5262, S. 97). Lebensbereiche wie Erholung, Unterhaltung und Kommunikation sind bewußt ausgeklammert worden (vgl. Udsching, SGB XI, § 14 Rdnr. 3), ebensowenig hat der Gesetzgeber die für die Ausübung einer Berufstätigkeit erforderlichen Verrichtungen berücksichtigen wollen. Insoweit stehen die Leistungen der Blindenhilfe zur Verfügung (§ 67 Abs. 1 BSHG bzw. § 2 Landesblindengeldgesetz NRW vom 11.11.1992). Das Blindengeld soll die durch die Blindheit bedingten Mehraufwendungen ausgleichen und helfen, Blinde beruflich und sozial in die Gesellschaft einzugliedern (vgl. L. Schmitt, BSHG, § 67 Rdnr. 1). Diese Zweckbestimmung des Blindengeldes wird auch in § 67 Abs. 4 BSHG deutlich, denn die Blindenhilfe sollen nur Blinde bekommen, die sich nach Kräften bemühen, mit ihrem Schicksal fertig zu werden und in diesem Zusammenhang auch bereit sind, eine ihnen zumutbare Arbeit zu leisten.

Das für die Diabetesdiät erforderliche Berechnen, Zusammenstellen und Abwiegen der Nahrung zählt nicht zum mundgerechten Zubereiten der Nahrung (§ 14 Abs. 4 Ziff. 2 SGB XI), sondern zu der dem Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung zuzuordnenden Verrichtung Kochen (Ziff. 4 a.a.O.). Das Kochen umfaßt alle Verrichtungen, die dazu dienen, Nahrungsmittel eßbar oder eßfertig zu machen. Das sind beim Fertigstellen einer Mahlzeit das Zusammenstellen und Abwiegen der einzelnen Lebensmittel, das Waschen und ggfls. Schälen von Obst und Gemüse, das Zerkleinern der Lebensmittel, das Garen, Würzen/Abschmecken und Anrichten der Speisen. Demgegenüber betrifft das "mundgerechte Zubereiten" die Aufnahme der fertigen - festen oder flüssigen - Nahrung. Mundgerecht heißt in diesem Zusammenhang, daß die Nahrung so portioniert und temperiert ist, daß sie ohne weiteres in den Mund geführt werden kann. Relevante Hilfeleistungen bei dem "mundgerechten Zubereiten" sind also das Zubereiten belegter Brote, das Zerkleinern von Nahrungsmitteln und die Kontrolle der Temperatur von Speisen und Getränken (s. auch Pflegebedürftigkeits-Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen vom 07.11.1994 (in der Fassung vom 21.12.1995), 3.4.2; Begutachtungs-Richtlinien, C 5.2.8). Die Argumentation des SG Hamburg (Breithaupt 1997, 135, 136; zustimmend Wilde, in: Hauck/Wilde, § 14 Rdnr. 34 b; Wilde/Pilz, SGb 1997, 409, 410), "mundgerecht" sei für den Diabetiker erst das in die jeweiligen Broteinheiten Portionen aufgeteilte Essen, beachtet zum einen nicht den systematischen Zusammenhang, daß es bei den Verrichtungen der Ziff. 2 a.a.O. um die Hilfe bei der Aufnahme der fertigen Nahrung geht, während die Zubereitung der Diät die Fertigstellung der Mahlzeit betrifft und verkennt zum anderen den Wortsinn von "mundgerecht". Dies wird in den weiteren Ausführungen des SG Hamburg deutlich, wonach dem Diabetiker die Mahlzeiten ohne deren umfangreiche Vorbereitungen nicht "munden" würden. "Munden" hat die Bedeutung von (gut) schmecken (Duden, Bedeutungswörterbuch (Bd. 10), Stichwort "munden") und nichts mit dem Begriff mundgerecht zu tun (ablehnend auch LSG NRW, Urteil vom 04.09.1997 - L 16 P 26/97 -).

Ebensowenig können die im Gutachten der Sachverständigen O. genannten Hilfen beim Blutzuckermessen, den Insulininjektionen, dem Blutdruckmessen und der Medikamentenstellung berücksichtigt werden, so daß dahinstehen kann, ob tatsächlich bei den erstgenannten Verrichtungen ein Hilfebedarf im angegebenen zeitlichen Umfang bestehen kann, da der Kläger über ein sprechendes Blutzuckermeßgerät und Insulinpens mit akustischer Zählung verfügt. Die genannten Verrichtungen gehören zum Bereich der Behandlungspflege (§ 37 Abs. 2 SGB V) bzw. die Insulingabe dient der Regulierung des Stoffwechsels und damit der Aufrechterhaltung einer Vitalfunktion. Daß ohne die Insulingabe für den Diabetiker die Aufnahme der Nahrung lebensbedrohend sein könnte, macht entgegen dem SG Hamburg (a.a.O, S. 137) die Insulininjektionen nicht zu einem Teil der Nahrungsaufnahme. Das SG Hamburg überdehnt auch hier den Wortlaut der Vorschrift, denn das Insulin ist kein Teil der Nahrung, sondern ein bei Gesunden im Körper gebildetes Hormon, dessen wichtigste physiologische Wirkung eine drastische Steigerung des Kohlehydratabbaus ist. Die Insulingabe ist nur zur Regulation des Blutzuckerspiegels erforderlich, der zwar maßgebend durch die Nahrungsaufnahme, aber auch andere Faktoren wie körperliche Betätigung, Verdauung und anderes beeinflußt wird. Insulininjektionen sind daher krankheitsspezifische Verrichtungen, die nicht der Nahrungsaufnahme zugeordnet werden können (ebenso LSG NRW, a.a.O.; Wilde/Pilz, a.a.O.).

In der noch zu § 53 SGB V a.F. ergangenen Entscheidung vom 17.04.1996 hat das BSG (SozR 3-2500 § 53 Nr. 10) allerdings die Auffassung vertreten, der Behandlungspflege unterfallende Hilfeleistungen,die keine Fachkunde erforderten, zählten zur Grundpflege, wenn sie im zeitlichen Zusammenhang mit einer der für die Bestimmung der Schwerpflegebedürftigkeit relevanten Katalogtätigkeiten stünden und erst deren Verrichtung ermöglichten. Es kann dahinstehen, ob überhaupt Blutzuckermessungen und Insulingaben in einem solchen Zusammenhang mit der Verrichtung "Nahrungsaufnahme" stehen. Für die Auslegung der §§ 14, 15 SGB XI ist diese Rechtsprechung nicht anwendbar. Maßnahmen der Behandlungspflege können im Rahmen des § 14 SGB XI grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Die Aufzählung der pflegerelevanten Verrichtungen in § 14 Abs. 4 SGB XI ist abschließend (zutreffend Wilde, a.a.O., Rdnr. 4; Wilde/Pilz, a.a.O., S. 410 f.; Bieback, SGb 1995, 569, 575; a.A. Udsching, a.a.O., Rdnrn. 3, 10, 11; Kummer, a.a.O., § 13 Rdnr. 60; differenzierend Trenk-Hinterberger, in: Wannagat, Sozialgesetzbuch, 14 SGB XI, Rdnr. 28: abschließend hinsichtlich der Aufzählung der Bereiche, aber nicht hinsichtlich der einzelnen Verrichtungen innerhalb der Bereiche). Der Gesetzgeber hat im SGB XI anders als früher bei der Regelung der Schwerpflegebedürftigkeit in § 53 SGB V a.F. (und auch anders als in anderen Bereichen, vgl. etwa § 44 Abs. 1 SGB VII) die Pflegebedürftigkeit definiert, um von Anfang an über die Anspruchsvoraussetzungen Rechtssicherheit zu schaffen. Diese gesetzliche Regelung hat er damit begründet, einerseits solle eine Ausuferung der Leistungen, verursacht durch einzelfallorientierte Entscheidungen vermieden und andererseits eine ungerechtfertige Leistungsverweigerung verhindert werden (BT-Drucks. 12/5262, S. 95). Dieses Ziel, die Pflegebedürftigkeit inhaltlich präzise und nach abstrakt-generellen Merkmalen zu konkretisieren, würde verfehlt, wenn es daneben der Rechtsprechung überlassen bleiben sollte, weitere Tätigkeiten zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber hat dementsprechend die nach seiner Auffassung relevanten Verrichtungen genannt, ohne durch eine sonst übliche Formulierung wie "insbesondere" oder "zum Beispiel" auf eine nicht abschließende Aufzählung hinzuweisen. Auch die Tatsache, daß im Gesetzgebungsverfahren die im Entwurf noch erwähnten Verrichtungen Nagelpflege und Haarewaschen gestrichen worden sind, weil sie anders als die anderen täglich erforderlichen Verrichtungen der Körperpflege seltener erforderlich seien (BT-Drucks. 12/5952, S. 35) macht deutlich, wie sehr auf die Aufzählung der maßgeblichen Verrichtungen geachtet worden ist. Das spricht gegen die Annahme, weitere Verrichtungen könnten zusätzlich über die ausdrücklich aufgezählten berücksichtigt werden (zutreffend Wilde/ Pilz, a.a.O., S. 411). Gegen die Berücksichtigung von Maßnahmen, die üblicherweise der Behandlungspflege zugerechnet werden, spricht weiter die systematische Erwägung, daß in § 15 Abs. 3 SGB XI zwischen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung unterschieden und diesen beiden Bereichen in § 12 Abs. 2 Satz 2 SGB XI u.a. die Behandlungspflege gegenübergestellt wird. Dies macht deutlich, daß der Gesetzgeber insoweit einen klaren Trennungsstrich zwischen den verschiedenen Bereichen ziehen will.

Das Argument, es sei mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar, zwar relativ unbedeutende Verrichtungen wie Zähneputzen oder Kämmen als für die Begründung der Pflegebedürftigkeit relevanten Hilfebedarf anzusehen, dagegen Maßnahmen, die für die Lebensführung von elementarer Bedeutung seien, unberücksichtigt zu lassen (so Udsching, a.a.O., Rdnr. 10; ähnlich früher BSG, a.a.O., S. 74), überzeugt nicht. Der Gleichheitssatz ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (BVerfGE 55, 72, 88; 75, 382, 393). Dabei obliegt es grundsätzlich dem Gesetzgeber, diejenigen Merkmale auszuwählen, die er als entscheidend für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung ansieht. Art. 3 Abs. 1 GG verbietet ihm nur, Art und Gewicht der tatsächlichen Unterschiede sachwidrig außer Betracht zu lassen (BVerfGE 87, 1, 36). Der Gegeber genießt insoweit Gestaltungsfreiheit; es ist nicht zu prüfen, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes die zweckmäßigste, vernünftigste und gerechteste Lösung gefunden hat (BVerfGE 3, 162, 182; 84, 348, 359). Der Ausschluß von Maßnahmen der Behandlungspflege wäre demnach nur gleichheitswidrig, wenn der Gesetzgeber die Grenze zwischen anspruchsrelevanten und -irrelevanten Verrichtungen in sachwidriger Weise gezogen hätte. Insoweit sind schon die unterschiedlichen Risikobereiche von Kranken- und Pflegeversicherung zu beachten. Maßnahme der Behandlungspflege dienen, auch wenn sie von fachunkundigen Personen erbracht werden können, der Krankenbehandlung. Von daher leuchtet nicht ein, warum solche Maßnahmen, die grundsätzlich in den Leistungsbereich der Krankenversicherung fallen (§ 37 Abs. 2 SGB V) deshalb zu einer Pflegeleistung werden sollen, weil ein Anspruch gegen die Krankenkasse nach § 37 Abs. 2 SGB V ausscheidet, weil eine im Haushalt lebende Person die Behandlungspflege übernehmen kann. Darüber hinaus weisen Wilde/Pilz (a.a.O., S. 412) zu Recht darauf hin, der Gesetzgeber habe mit den "gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens" nur die Fähigkeit versichern wollen, den Alltag mit den Notwendigkeiten, die gewöhnlich, d. h. ohne die besondere Erkrankung den Tagesablauf ausmachten, selbständig zu bewältigen. Dies sei ein schlüssig abgrenzbarer Teilbereich der Lebenswirklichkeit; Maßnahmen der Behandlungspflege zählten dagegen nicht zu den Verrichtungen, die auch für einen Gesunden zum Alltag zählten. Die vom Gesetzgeber vorgenommene Grenzziehung ist also sachlich begründet. Außerdem ist zu beachten, daß der Gesetzgeber aus finanziellen Gründen eine Vollversorgung der Pflegebedürftigen nicht angestrebt hat; er hat ausdrücklich darauf hingewiesen, Eigenleistungen der Versicherten seien nicht entbehrlich (BT-Drucks. 12/5262, S. 82). Dies wird auch in § 4 Abs. 2 SGB XI deutlich, wonach die Leistungen der Pflegeversicherung bei häuslicher Pflege die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung nur "ergänzen". Gerade bei der Einführung neuer Leistungen darf der Gesetzgeber die finanziellen Aspekte berücksichtigen und von daher Leistungen beschränken (BVerfGE 87, 1, 41, 45; BVerfG SozR 3-2500 § 53 Rdnr. 3).

Für die berücksichtigungsfähigen o.g. Hilfestellungen im Bereich der Grundpflege wird somit folgender Zeitaufwand benötigt: Waschen, Duschen/Baden: zweimal täglich 7 Minuten = 14 Minuten täglich; Zahnpflege: zweimal täglich 4 Minuten = 8 Minuten täglich; Kämmen/Rasieren: wöchentlich zehnmal x 7,5 Minuten = 11 Minuten täglich; Verrichten der Notdurft: viermal 2 Minuten täglich = 8 Minuten täglich; mundgerechtes Zubereiten der Nahrung: maximal 15 Minuten täglich (der Senat geht dabei von sechs Mahlzeiten (drei Haupt-, drei Zwischenmahlzeiten) aus; nach den Orientierungswerten zur Pflegezeitbemessung beträgt der Zeitaugfwand für die mundgerechte Zubereitung einer Hauptmahlzeit zwei bis drei Minuten, so daß ein Zeitaufwand von 15 Minuten ausreichend bemessen ist); An/Auskleiden: zweimal täglich 6 Minuten = 12 Minuten täglich; Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung: 12 Minuten täglich (zweimal pro Woche Arztbesuche und Behördengänge, jeweils 45 Minuten ohne Warte- und Behandlungszeiten). Der erforderliche Zeitaufwand im Bereich der Grundpflege beträgt somit nur 80 Minuten täglich, so daß die Voraussetzungen für die Einstufung in die Pflegestufe II nicht erfüllt sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen, da er dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beimißt (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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