L 1 U 6121/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 4009/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 6121/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 28. Juli 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Frage, ob die Beklagte zur Rücknahme des Bescheids vom 13. Februar 2003 sowie die Gewährung einer Rente verpflichtet ist.

Der 1946 geborene Kläger erlitt am 19. Juni 2001 einen Arbeitsunfall, als bei der Montage einer 6 x 1,05 m großen "Sandwichplatte" im Deckenbereich eines Kühlraums diese Platte aus der Verankerung rutschte und vom Kläger mit dem Kopf bzw. dem Nacken aufgefangen wurde. Den Unfall teilte der Arbeitgeber mit Unfallanzeige vom 27. Mai 2002 mit. Nach Inhalt des Durchgangsarztberichts des Chirurgen Dr. B. vom 23. Juni 2001 zog sich der Kläger eine Stauchung und Bänderzerrung der unteren Hals- und oberen Brustwirbelsäule zu. Im Röntgenbild waren keine Zeichen einer frischen knöchernen Verletzung zu erkennen. Der Kläger war danach nicht arbeitsunfähig. Seit Oktober 2002 bezieht der Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Im Arztbrief vom 26. März 2002 führte der Arzt für Chirurgie Dr. W. aus, vor 5 Wochen seien beim Kläger wieder Schmerzen aufgetreten. Klinisch sei eine deutliche Bewegungseinschränkung, vor allem für Inklination und Reklination/Seitneigung erkennbar, selbst die Rotationsbewegung sei nunmehr fast hälftig eingeschränkt. Dr. W. übersandte auch den Bericht über die MRT-Untersuchung vom 12. April 2002 (Diagnose: Zustand nach Halswirbelsäulen[HWS-]Distorsion). Beschrieben wurde darin auch eine mäßig ausgeprägte, zirkumferente Bandscheibenprotrusion HWK 6/7 ohne radikuläre Kompression bei ansonsten regelrechtem Befund der HWS (keine knöcherne Verletzung, keine nachweisbare Fehlstellung).

Die Beklagte zog das Vorerkrankungsverzeichnis von der Krankenkasse sowie den Entlassungsbericht aus der stationären Rehabilitationsmaßnahme des Rentenversicherungsträgers vom 27. Juni bis 25. Juli 2002 bei und nahm Ermittlungen zum genauen Unfallhergang auf. Im Entlassungsbericht waren als Diagnosen chronisch rezidivierende Cervicocephalgien mit schmerzhaft eingeschränkter Halswirbelsäulenrotation und Seitneigung nach links, eine mäßige zirkumferente Bandscheibenprotrusion C 6/7 sowie eine Chronifizierung der Beschwerden im Rahmen einer Krankheitsfehlverarbeitung aufgeführt.

Im Auftrag der Beklagten erstellte unter dem 4. Dezember 2002 Prof. Dr. S. ein neurologisches Gutachten. Dieser führte zusammenfassend aus, dass auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet keine Auffälligkeiten, insbesondere keine Hinweise für eine Unfallfehlverarbeitung bestünden. Im unfallchirurgischen Gutachten vom 12. Januar 2003 kam Prof. Dr. W. zur Diagnose einer stattgehabten HWS-Distorsion bei vorbestehenden degenerativen Veränderungen im Bereich der HWS. Für die übrigen Krankheitserscheinungen (insbesondere Bandscheibenprotrusion Halswirbelkörper [HWK] 6/7, degenerative Veränderungen HWK 4-6, Blockwirbelbildung HWK 4 und 5) sei kein ursächlicher Zusammenhang mit dem angeschuldigten Unfallgeschehen anzunehmen. Insbesondere infolge der vom Kläger geschilderten Beschwerdesymptomatik und seinem Verhalten nach dem Unfall sei eine durch den Unfall verursachte strukturelle Störung im Bereich der HWS (Bandscheibenprotrusion) ausgeschlossen. Die typische klinische Beschwerdesymptomatik bei einer traumatisch bedingten Bandscheibenprotrusion wäre ein erhebliches Schmerzsyndrom mit konsekutiver radikulärer Symptomatik sowie eine erhebliche Kopfhalteinsuffizienz gewesen. Eine entsprechende Symptomatik sei allerdings nicht dokumentiert. Darüber hinaus seien in den Röntgenaufnahmen zum Unfallzeitpunkt bereits degenerative Veränderungen erkennbar. Im Vergleich mit den Aufnahmen zum Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung seien im Zeitverlauf keine degenerativen vorauseilenden Veränderungen feststellbar, so dass damit eine deutlich richtunggebende Verschlimmerung der vorbestehenden degenerativen Veränderungen durch den Unfall ausgeschlossen sei. Eine unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) liege nicht vor. Die bestehende Arbeitsunfähigkeit gehe auf die degenerativen HWS-Veränderungen zurück.

Mit Bescheid vom 13. Februar 2003 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente ab und erkannte als Unfallfolge eine folgenlos verheilte Distorsion der HWS an.

Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 2003 zurückgewiesen wurde.

Am 8. Juli 2003 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG, Az.: S 9 U 2039/03), die mit Schriftsatz des damaligen Bevollmächtigten vom 5. September 2003 zurückgenommen wurde.

Am 8. September 2003 wandte sich der Kläger erneut an das SG und führte aus, die Klage ohne Anwalt alleine weiter betreiben zu wollen. Er habe den Entschluss, die Klage zurückzunehmen, inzwischen bereut. Ihm wurde der Hinweis erteilt, dass er bei der Beklagten Antrag nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) stellen könne, was unter dem 10. September 2003 erfolgte.

Mit Bescheid vom 17. Oktober 2003 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheids vom 13. Februar 2003 ab, der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 14. November 2003 zurückgewiesen.

Dagegen erhob der Kläger am 9. Dezember 2003 Klage zum SG und führte aus, er sei seit seinem Unfall falsch behandelt worden und leide unter Beschwerden im Bereich der HWS, die vor dem Unfallereignis nicht vorhanden gewesen seien. Das SG befragte den behandelnden Arzt für Allgemeinmedizin Dr. W. schriftlich als sachverständigen Zeugen. Dieser führte unter dem 17. März 2004 aus, er stimme aus fachneurologischer und unfallchirurgischer Sicht der Beurteilung durch Prof. Dr. S. und Prof. Dr. W. zu. Unter schmerztherapeutischen Gesichtspunkten sei jedoch eine Chronifizierung entsprechender Beschwerden über Jahre hinweg denkbar. Am Anfang habe beim Kläger das Unfallereignis gestanden, das jedoch bei einer anderen Persönlichkeit keine weiteren Chronifizierungsmomente induziert hätte.

Im Auftrag des SG erstellte unter dem 12. September 2005 Dr. K. ein fachneurologisches Gutachten. Dieser führte aus, auf den Arbeitsunfall sei eine HWS-Distorsion Grad I nach Erdmann zurückzuführen. Zum Unfallzeitpunkt hätten schon degenerative Veränderungen im Bereich der HWS bestanden, die aber als altersentsprechend eingeschätzt werden müssten. Strukturelle Veränderungen seien durch die Distorsion nicht hervorgerufen worden. Wäre der Versatz des HWK 3 gegenüber HWK 4 durch den Unfall bedingt, wäre die Symptomatik massiver gewesen. Es sei vielmehr in der Folge eine somatoforme Schmerzstörung aufgetreten, die auf den Unfall zurückgeführt werden könnte. Eine bewusstseinsnahe Komponente bei der Beschwerdeschilderung sei wahrscheinlich. Die vom Kläger geklagten Beschwerden stünden in keiner Relation zu dem demonstrierten körperlichen Befund und zu der praktisch unauffälligen Kernspintomographie mit einem kleinen medialen Bandscheibenvorfall HWK 6/7 sowie den leichten degenerativen Veränderungen.

Daraufhin gab das SG bei Dr. L., Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, ein psychosomatisches Gutachten in Auftrag. In seinem Gutachten vom 24. Januar 2006 führte Dr. L. eine somatoforme Schmerzstörung, eine mittelgradige depressive Reaktion und Nikotinabusus als Diagnosen auf psychosomatischem/psychiatrischem Fachgebiet auf. Er vertrat die Auffassung, dass die somatoforme Schmerzstörung und die depressive Reaktion offenbar im Gefolge des Unfallereignisses entstanden seien. Allerdings habe der Unfall diese Wirkung nur deshalb entfalten können, weil der Kläger eine erhebliche Vulnerabilität gegenüber Situationen besitze, die seine soziale Verankerung in einer Gruppe bedrohten, unabhängig davon, ob diese Bedrohung real oder fiktiv sei. Die beim Kläger vorliegenden Anlagen hätten potentiell auch durch andere Auslöser zu einer ähnlichen Symptomatik führen können. Die Störungen und Beschwerden könnten durch eine entsprechende Behandlung in 3 bis 6 Monaten stabilisiert werden. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) habe Anfang 2002 bei insgesamt 40 v.H. gelegen (30 v.H. für die Depressivität, 20 v.H. für die somatoforme Schmerzstörung) und habe sich bis auf kleinere Schwankungen auf diesem Niveau stabilisiert.

Mit Urteil vom 28. Juli 2006 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, beim Kläger bestünden, ausgehend von den Gutachten von Dr. K. und Dr. L., keine Unfallfolgen mehr. Soweit Dr. L. eine somatoforme Schmerzstörung sowie eine mittelgradige depressive Reaktion diagnostiziert habe, die eine dauernde MdE zur Folgen habe, sei zu beachten, dass Dr. L. erhebliche unfallfremde Mitursachen der Erkrankung beschrieben habe. Auch das objektive Missverhältnis zwischen der geringen Schwere des angeschuldigten Unfallereignisses und den behaupteten erheblichen psychischen Folgen lasse eine rechtlich wesentliche Verursachung der Beschwerden für den Unfall nicht begründen.

Gegen das ihm am 7. November 2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 28. November 2006 Berufung eingelegt, mit der er im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen wiederholt.

Der Kläger beantragt, sinngemäß gefasst,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 28. Juli 2006 sowie den Bescheid vom 17. Oktober 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. November 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 13. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Juni 2003 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 19. Juni 2001 Verletztenrente nach einer MdE um wenigstens 20 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Der Senat hat den Beteiligten mitgeteilt, es komme die Möglichkeit in Betracht, die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Die Beteiligten haben Gelegenheit erhalten, zu dieser Verfahrensweise Stellung zu nehmen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte über die Berufung des Klägers gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss entscheiden, weil er eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, nachdem die Beteiligten Gelegenheit erhalten hatten, sich hierzu zu äußern und die Entscheidung einstimmig ergeht.

Die gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte und nach § 151 SGG zulässige Berufung ist unbegründet.

Dem Kläger steht wegen seines Arbeitsunfalls vom 19. Juni 2001 keine Verletztenrente zu.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem der unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X).

Anhaltspunkte dafür, dass der Bescheid vom 13. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. November 2003 rechtswidrig gewesen wäre, liegen nicht vor. Die Beklagte hat vielmehr zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Verletztenrente abgelehnt.

Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeiten (versicherte Tätigkeiten). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 SGB VII).

Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente, wobei die Folgen eines Versicherungsfalls nur zu berücksichtigen sind, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um mindestens 10 v.H. mindern (§ 56 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB VII). Dabei richtet sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), d.h. auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (BSGE 1, 174, 178; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22). Als Folge eines Unfalls sind Gesundheitsstörungen nur zu berücksichtigen, wenn das Unfallereignis wie auch das Vorliegen der konkreten Beeinträchtigung bzw. Gesundheitsstörung jeweils bewiesen und die Beeinträchtigung mit Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen ist. Für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der hierbei eingetretenen Schädigung und der Gesundheitsstörung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die versicherte Tätigkeit, die Schädigung und die eingetretene Gesundheitsstörung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht, welcher nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit ausreicht (BSGE 58, 80, 82; 61, 127, 129; BSG, Urt. v. 27. Juni 2000 - B 2 U 29/99 R - m.w.N.). Hinreichende Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 45, 285, 286). Kommen mehrere Ursachen in Betracht, so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSGE 63, 277, 278). Daran fehlt es, wenn die Krankheitsanlage so leicht ansprechbar gewesen ist, dass die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte (vgl. BSGE 62, 220, 222; BSG, Urt. v. 2. Mai 2001 - B 2 U 18/00 R -, in: HVBG-Info 2001, 1713). Lässt sich ein Zusammenhang nicht wahrscheinlich machen, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der materiellen Beweislast zu Lasten des Versicherten (vgl. BSGE 6, 70, 72; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 11 S. 33).

Die genannten Grundlagen der Theorie der wesentlichen Bedingung gelten für alle als Unfallfolgen geltend gemachten Gesundheitsstörungen und damit auch für psychische Störungen (so zuletzt ausdrücklich BSG vom 9.5.2005 - B 2 U 1/05 R mit zahlreichen Nachweisen). Die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente für sie ist ebenso wie für andere Gesundheitsstörungen möglich. Denn auch psychische Reaktionen können rechtlich wesentlich durch ein Unfallereignis verursacht werden.

Auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet bestehen keine Unfallfolgen mehr, die die Erwerbsfähigkeit des Klägers in rentenberechtigendem Umfang mindern würden. Die Beklagte ist insoweit nicht von einem falschen Sachverhalt ausgegangen bzw. hat das Recht nicht unrichtig angewandt, noch hat der Kläger neue Tatsachen vorgebracht, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten.

Der Kläger hat sich beim Arbeitsunfall am 19. Juni 2001 lediglich eine Zerrung der HWS zugezogen, die folgenlos verheilt ist. Die weiteren, überwiegend altersentsprechenden Veränderungen im Bereich der HWS, insbesondere die Bandscheibenprotrusion HWK 6/7, degenerative Veränderungen HWK 4-6 und eine Blockwirbelbildung im Bereich der HWK 4 und 5, sind rein degenerativer Natur und durch das Unfallgeschehen weder verursacht noch im Rechtssinne richtunggebend verschlimmert worden. Dies hat neben Dr. K. bereits Prof. Dr. W. in seinem Gutachten im Verwaltungsverfahren, das im Wege des Urkundsbeweises vom Senat verwertet wird, widerspruchsfrei und schlüssig dargelegt. Wären bei dem Arbeitsunfall tatsächlich strukturelle Schäden im Bereich der HWS eingetreten, hätte der Kläger schon aufgrund der dann zu erwartenden Symptome (erhebliches Schmerzsyndrom mit konsekutiver radikulärer Symptomatik sowie eine erhebliche Kopfhalteinsuffizienz) seine Arbeit nicht weiterführen können. Auch der Vergleich der Röntgendiagnostik im Unfallzeitpunkt und bei der Begutachtung durch Dr. K. zeigt, dass die vorbestehenden degenerativen Veränderungen nach dem Unfall nicht wesentlich fortgeschritten sind, somit auch eine richtunggebende Verschlimmerung der vorbestehenden degenerativen Erkrankung durch den Unfall nicht eingetreten ist.

Soweit der Kläger - auch - im Berufungsverfahren vorgetragen hat, er sei nicht richtig behandelt worden und würde deshalb noch unter Schmerzen leiden, konnte der Senat offen lassen, ob dieser Auffassung beizutreten ist. Denn jedenfalls liegen nach dem oben Ausgeführten keine medizinischen Anhaltspunkte für eine durch den Unfall verursachte oder richtunggebend verschlimmerte, fortbestehende Gesundheitsstörung vor.

Aber auch auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet sind keine Unfallfolgen verblieben, die eine rentenberechtigende MdE begründen.

Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund von ihnen ist die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die bei dem Verletzten vorliegen und die seine Erwerbsfähigkeit mindern (BSG vom 9.5.2005 a.a.O unter Verweis auf BSG vom 29. Januar 1986 - 9b RU 56/84 und BSG vom 19. August 2003 - B 2 U 50/02 R -). Angesichts der zahlreichen in Betracht kommenden Erkrankungen und möglicher Schulenstreite sollte diese Feststellung nicht nur begründet sein, sondern aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (z.B. ICD-10 = Zehnte Revision der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO aus dem Jahre 1989, vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) ins Deutsche übertragen, herausgegeben und weiterentwickelt; DSM-IV = Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen der Amerikanischen psychiatrischen Vereinigung aus dem Jahre 1994, deutsche Bearbeitung herausgegeben von Saß/Wittchen/Zaudig, 3. Aufl 2001).

Beim Kläger liegt nach dem Gutachten von Dr. L. auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet eine (anhaltende) somatoforme Schmerzstörung (F45.4. ICD 10) sowie eine mittelgradige depressive Reaktion vor.

Bei einer somatoformen Schmerzstörung handelt es sich nach der nach dem ICD 10 zugrunde liegenden Definition um einen andauernden, schweren und quälenden Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf, die schwerwiegend genug sein sollen, um als entscheidende ursächliche Faktoren gelten zu können. Die Folge ist meist eine beträchtlich gesteigerte persönliche und medizinische Hilfe und Unterstützung. Schmerzzustände mit vermutlich psychogenem Ursprung, die im Verlauf depressiver Störungen oder einer Schizophrenie auftauchen, sollte nicht berücksichtigt werden.

Der Senat geht in Übereinstimmung mit Dr. L. und den Ausführungen des SG in der angefochtenen Entscheidung davon aus, dass der Kläger unter einer somatoformen Schmerzstörung bzw. einer mittelgradigen Depression leidet. Der Unfallzusammenhang ist jedoch nicht hinreichend wahrscheinlich, so dass die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheitserstschaden (HWS-Distorsion) und der psychischen Erkrankung nicht bejaht werden kann und deshalb auch insoweit die Zahlung einer Verletztenrente nicht zu erfolgen hat. Auch insoweit hat die Beklagte das Recht zutreffend angewendet und der Kläger nichts vorgetragen, was eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte.

Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache (umfassend dazu BSG vom 9. Mai 2006 a.a.O.) ist davon auszugehen, dass es mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben kann. Sozialrechtlich ist aber allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. "Wesentlich" ist dabei nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere Ursache keine überragende Bedeutung hat (BSG SozR Nr. 69 zu § 542 aF RVO; BSG SozR Nr. 6 zu § 589 RVO; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage 2003, Kap 1.3.6.1, S 80 f). Ist jedoch eine Ursache gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist nur die erstgenannte Ursache "wesentlich" und damit Ursache im Sinne des Sozialrechts ( BSGE 12, 242 , 245 = SozR Nr. 27 zu § 542 RVO; BSG SozR Nr. 6 zu § 589 RVO). Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden (BSGE 62, 220 , 222 f = SozR 2200 § 589 Nr. 10; BSG SozR 2200 § 548 Nr. 75; BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15 jeweils RdNr. 11).

Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte (BSGE 62, 220 , 222 f = SozR 2200 § 589 Nr. 10; BSG vom 12. April 2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15 jeweils RdNr. 11; ähnlich Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO). Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen.

Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer versicherten Ursache zum Erfolg sind neben der versicherten Ursache bzw. dem Ereignis als solchem, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, die konkurrierende Ursache unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens - aber eine Ursache ist nicht deswegen wesentlich, weil sie die letzte war -, weiterhin Rückschlüsse aus dem Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, den Befunden und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie der gesamten Krankengeschichte. Ergänzend kann der Schutzzweck der Norm heranzuziehen sein (vgl. BSGE 38, 127 , 129 = SozR 2200 § 548 Nr. 4; BSG SozR 4-2200 § 589 Nr. 1

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist auch zur Überzeugung des Senats davon auszugehen, dass das angeschuldigte Unfallereignis nur Gelegenheitsursache im Rechtssinne war.

Dabei stützt sich der Senat sowohl auf das Gutachten von Dr. L. für das SG als auch die Stellungnahme des Hausarztes Dr. W ... Beide Ärzte haben ausgeführt, dass zwar die beschriebenen Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet vorliegen, dass allerdings nicht das Unfallereignis, sondern die Primärpersönlichkeit des Klägers wesentlich für das Entstehen dieser Gesundheitsstörungen ist. Diese Beurteilung erscheint dem Senat schlüssig und nachvollziehbar, berücksichtigt man die nur geringe Schwere des Unfallereignisses, die - nicht verbliebenen - organischen Unfallfolgen, den Umstand, dass der Kläger nach dem Geschehen längere Zeit noch weiter gearbeitet hat sowie die in der Persönlichkeit des Klägers insbesondere von Dr. L. beschriebenen anlagebedingten Faktoren (erhebliche Vulnerabilität gegenüber Situationen, die die soziale Verankerung in der Gruppe - der Arbeitskollegen - gefährden; starke Leistungsorientierung und Leistungsdefinition). Daher ist davon auszugehen, dass die somatoforme Schmerzstörung wie auch die depressive Reaktion nur gelegentlich, nicht aber ursächlich bedingt durch das angeschuldigte Unfallereignis entstanden sind. Daher ist auch insoweit die haftungsausfüllende Kausalität nicht wahrscheinlich und die Annahme einer rentenberechtigenden MdE nicht gerechtfertigt. Die Annahme wesentlicher, in der Persönlichkeit des Klägers begründeter Ursachen für die bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen wird auch durch die Ausführungen des Dr. K. im Rahmen des neurologischen Gutachtens vom 12. September 2005 bestätigt. Auch Dr. K. berichtete über eine bewusstseinsnahe Komponente bei der Beschwerdeschilderung, die in keinem Verhältnis zu dem körperlichen Befund stünden.

Nach alldem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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