L 12 B 47/07 AS ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 24 AS 27/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 B 47/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin (Ag) wird der Beschluss des Sozialgerichts (SG) Düsseldorf vom 01.03.2007 geändert. Der Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung (EA) wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Bedenken gegen die Verfassungskonformität der ab 01.08.2006 geltenden Fassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II sind nicht derart gravierend, dass diese Vorschrift ohne Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts außer Anwendung bleiben kann. Bei den Antragstellerinnen (Ast) handelt es sich um die 4 Kinder von Frau K aus einer früheren Beziehung. Frau K. wohnt mit ihrem jetzigen Ehemann, der nicht der leibliche Vater einer der Ast ist, und einem gemeinsamen Kind in einem Haus, das dem Ehemann und Frau K. je zur Hälfte gehört. Bis zum 31.07.2006 erhielten die Ast Leistungen unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 9 Abs. 5 SGB II. Ab 01.08.2006 wurde der Bedarf der Ast unter Berücksichtigung des Einkommens ihres Stiefvaters neu unter Beachtung von § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II überprüft. Diese Berechnung ergab, dass sich danach kein Leistungsanspruch mehr ergab. Für die Zeit ab dem 01.08.2006 wurden Leistungen an die Ast mit Bescheid vom 28.07.2006, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 04.10.2006, abgelehnt. Das hiergegen angestrengte Hauptsacheverfahren ist beim SG Düsseldorf unter dem Aktenzeichen S 35 AS 236/06 anhängig. Der Vertreter der Ast räumt ein, dass die Ag den § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II in der ab 01.08.2006 geltenden Fassung korrekt und rechnerisch zutreffend angewandt hat. Die Vorschrift sei jedoch verfassungswidrig.

Die Ast haben am 26.10.2006 erneut - wie bereits während des Widerspruchsverfahrens - um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Das SG hat dem Antrag mit Beschluss vom 01.03.2007 entsprochen und die Ag verpflichtet , den Ast vorläufig bis März 2007 Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung des Einkommen des Stiefvaters zu gewähren. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: "Es liegt zunächst ein Anordnungsgrund vor, da die Mutter der Antragstellerinnen unter Abgabe einer eidesstattlichen Erklärung bereits in dem vorausgegangenen Eilverfahren (Az.: S 24 AS 213/06 ER) vorgetragen hat, dass der Stiefvater ihrer vier Kinder tatsächlich keinen Unterhalt leistet und ebenso auch nicht der leibliche Vater. Daher kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Unterhalt der Antragstellerinnen entsprechend der auch in § 9 Abs. 5 SGB II zum Ausdruck gebrachten auf der Lebenswirklichkeit beruhenden gesetzlichen Vermutung jedenfalls tatsächlich derzeit gesichert ist. Da der Lebensunterhalt der Antragstellerin damit nicht sicher gestellt ist, wäre ein Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache mit für die Antragstellerinnen unzumutbaren irreversiblen Nachteile verbunden.

Zwar ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs derzeit nicht zweifelsfrei festzustellen. Das Gericht hat jedoch erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf die seit dem 01.08.2006 geltenden Fassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II (so schon SG Düsseldorf, Beschl. v. 28.09.2006, - S 24 AS 213/06 ER; SG Berlin Beschl. v. 08.01.2007, - S 103 AS 10869/06 ER geht von einer Verfassungswidrigkeit der Regelung aus; a. A.: SG Berlin, Beschl. v. 20.12.2006, - S 37 AS 11401/06 ER und SG Aachen, Beschl. v. 05.01.2007, - S 9 AS 146/06 ER -, die eine verfassungskonforme Auslegung der Regelung für möglich halten), wonach die Antragsgegnerin das Einkommen des Stiefvaters der Antragstellerinnen auf deren Bedarf angerechnet hat. Deshalb ist im Hinblick auf den existenzsichernden Charakter der Leistungen dem Antrag auf Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Rahmen einer Folgenabwägung stattzugeben.

Gemäß der zum 01.08.2006 in Kraft getretenen Neufassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II ist bei minderjährigen Kindern auch das Einkommen des im Haushalt lebenden Partners des Elternteils zu berücksichtigen. Auch nach bisherigem Recht war eine solche Einkommensanrechnung möglich. Gemäß § 9 Abs. 5 SGB II existiert eine Unterhaltsvermutung für den Fall, dass Hilfebedürftige in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten leben. In diesen Fällen wird vermutet, dass diese von ihnen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. Diese Norm war schon nach bisherigem Recht auf die Konstellation (wieder)verheirateter Mütter und deren aus einer vorherigen Beziehung stammender Kinder im Verhältnis zu dem Stiefvater der Kinder anwendbar (vgl. Mecke in Eicher/Spellbrink, Kommentar zum SGB II, 2005, § 9 Rd-Nr.: 50; LSG NRW, Beschl. v. 03.08.2005, L 19 B 32/05 AS ER; SG Düsseldorf, Beschl. v. 08.03.2005, S 24 AS 54/05 ER). Die Antragstellerinnen sind gemäß § 1590 Abs. 1 Satz 1 BGB mit ihrem Stiefvater verschwägert und leben mit ihm gemäß § 9 Abs. 5 SGB II in Haushaltsgemeinschaft. Der wesentliche Unterschied einer Einkommensanrechnung nach § 9 Abs. 5 SGB III zu der nach der Neufassung des § 9 Abs. 2 Satz SGB II besteht jedoch darin, dass es sich bei der Regelung nach § 9 Abs. 5 SGB II um eine widerlegbare gesetzliche Unterhaltsvermutung handelt und nicht wie im neuen § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II in jedem Fall eine Einkommensanrechnung vorgenommen wird; darüber hinaus werden dem betroffenen Stiefelternteil im Rahmen der Einkommensanrechnung nach § 9 Abs. 5 SGB II im Anschluss an die Rechtsprechung zu § 16 BSHG sehr viel großzügigere Selbstbehalte aus dem Einkommen belassen.

Verfassungsrechtliche Bedenken ohne die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung sieht das Gericht zunächst im Hinblick auf das Gebot zur Sicherung des Existenzminimums aus Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot des Artikel 20 GG. Anders als die Regelung des § 9 Abs. 5 SGB II enthält die Regelung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II - wie bereits ausgeführt - die schematische Anrechnung von Einkommen, ohne dass eine Widerlegung möglich ist, und ohne dass darauf Rücksicht genommen wird, ob das Existenzminimum des jeweiligen Kindes tatsächlich durch entsprechenden Einkommenszufluss durch den Stiefvater gesichert ist. Die Konstellation ist auch nicht derjenigen der eheähnlichen Lebensgemeinschaften vergleichbar. Soweit tatsächlich entsprechende Unterhaltsleistungen verweigert werden, hat das Kind keinerlei Möglichkeit, zur Deckung des tatsächlichen Bedarfs zu gelangen. Dies unterscheidet die Konstellation ganz wesentlich von der der eheähnlichen Partner im Sinne des SGB II zueinander. Denn konstitutives Wesensmerkmal der Partnerschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II ist gerade das Füreinandereinstehenwollen. Bei Verweigerung der Unterstützung ist die Partnerschaft im Sinne des SGB II damit beendet mit der Konsequenz, dass der entsprechende Partner einen Anspruch auf Leistungen ohne Einkommensanrechnung hat. Im Übrigen hat ein Kind auch nicht die den nichtehelichen Partnern darüber hinaus eröffnete Möglichkeit, den Haushalt zu verlassen und damit die Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II aufzukündigen (vgl. zum Ganzen: SG Berlin, Beschl. v. 08.01.2007, a.a.O.).

Darüber hinaus hat das Gericht verfassungrechtliche Bedenken im Hinblick auf das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Artikel 2 Abs. 1 GG. Geschützt ist durch dieses Grundrecht die Möglichkeit, das eigene Leben und die Beziehungen frei zu gestalten. Wenn eine Entscheidung für das Zusammenleben mit einem neuen Partner aber zur rechtsverbindlichen Folge hat, für dessen Kinder aus früheren Beziehungen finanziell einstehen zu müssen wie für eigene Kinder, wird diese Freiheit massiv beeinträchtigt. Die Regelung stellt sich auch im Hinblick auf die in Artikel 6 GG gewährleistete Freiheit zur Eheschließung als verfassungsrechtlich problematisch dar, insoweit als die Eheschließung automatisch damit verknüpft ist, dass man für die Kinder der Ehefrau unterhaltspflichtig wird (vgl. dazu Wenner, Soziale Sicherheit 2006, Seite 146 ff).

Das Gericht sieht hier im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens keine Vorlagepflicht zum Bundesverfassungsgerichts, da die Hauptsache durch die Verpflichtung zur nur vorläufigen und zeitlich begrenzten Gewährung von Leistungen nicht vorweggenommen wird und der Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegend im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Verfassungswidrigkeit überwiegend wahrscheinlich ist, der Antragsteller im Grundrecht schwerwiegend bedroht ist und die Bedrohung nicht durch höherrangige Belange gerechtfertigt ist und die Grundrechtsverletzung nicht im Klageverfahren wieder beseitigt werden kann (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 8. Auflage § 86 b, Rd-Nr.: 39 m. w. N.). Im Übrigen ist regelmäßig in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in denen naturgemäß eine eingehende verfassungsrechtliche Prüfung nicht möglich ist, in Zweifelsfällen allein auf eine Folgenabwägung abzustellen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., m. W. N.). Eine solche muss hier aufgrund des das Existenzminimum sichernden Charakters der Leistungen zugunsten der Antragstellerinnen ausgehen.

Da von den Leistungen ausschließlich Kinder betroffen sind, war schon deshalb von einer Reduzierung der monatlichen Regelleistung auf 70 % als das zum Leben unerlässliche abzusehen (vgl. auch SG Düsseldorf, Beschluss vom 17.05.2005, S 23 AS 140/05 ER)."

Die Ag hat gegen den ihr am 05.03.007 zugestellten Beschluss am 12.03.2007 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 14.03.2007). Die Ag trägt zur Begründung u. a. vor (Schriftsatz vom 12.03.2007):

"Soweit Bedenken hinsichtlich Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 GG gesehen werden, sind solche nach diesseits vertretener Auffassung nicht ersichtlich. Personen, die sich für eine Eheschließung in dem Bewusstsein entscheiden, dass Kinder aus vorherigen Beziehungen existieren, müssen sich auch über die damit verbundenen Konsequenzen bewusst sein. Auf das Bestehen auch bürgerlich-rechtlicher- Unterhaltsverpflichtungen kommt es insoweit nicht an, weil das Gesetz wie auch bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften davon ausgeht, dass die Partner einer Einstandsgemeinschaft zu deren Einkommen auch ohne rechtliche Verpflichtungen beitragen. Diese Überlegungen treffen in gleicher Weise auf Lebenspartner in Einstandsgemeinschaften zu, die mit Kindern nur eines von ihnen zusammenleben. § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II knüpft insoweit nicht an eine Unterhaltspflicht, sondern an als regelhaft angenommene tatsächliche Verhältnisse an. Zwar mag der über Einkommen verfügende Partner dadurch an finanzielle Grenzen stoßen: dies trifft aber auch auf jeden Partnerschaft mit gemeinsamen Kindern zu. Eine staatliche Fürsorgeleistung an tatsächliche Hilfebedürftigkeit zu knüpfen und dies dort zu verneinen, wo ein Eintreten Dritter aufgrund rechtlicher oder moralischer Verpflichtungen typischerweise erwartet werden kann, begegnet nach diesseits vertretener Auffassung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. dazu SG Aachen, Beschluss vom 05.01.2007, Az: S 9 AS 146/06 ER). Sofern das Einkommen nicht zur Deckung des Lebensunterhalts ausreicht bzw. das Existenzminimum unterschritten wird, mag ein Einschreiten des entsprechenden Sozialleistungsträgers etwa in Form von Wohngeld etc. in Betracht kommen. Weshalb dies aber zur Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs. 2 S. 2 SGB führen sollte, ist nicht nachvollziehbar. Vielmehr würde eine generelle Nichtanwendung des § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II in den Fällen, in denen der Stiefvater schlicht vorträgt, er leiste keinerlei finanzielle Unterstützung für seine nichtleiblichen Kinder, obwohl er sich gerade für eine Ehe mit einem Partner entschieden hat, der Kinder aus einer vorherigen Beziehung mit in die Ehe bringt, dazu führen, dass sämtliche Vorteile finanzieller oder rechtlicher Natur nutzbar wären, ohne andererseits auch finanzielle Verpflichtungen einzugehen. Die finanziellen Vorteile, die das Zusammenleben auch mit den Stiefkindern mit sich bringt, werden auch im vorliegenden Fall genutzt. So ist auf der Lohnsteuerkarte des Stiefvaters eben nicht nur ein Kinderfreibetrag für sein eigenes Kind eingetragen, sondern Kinderfreibeträge für alle fünf Kinder. Für das gemeinsame Kind wird zudem nicht Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR, sondern 179,00 EUR gewährt. Allgemein sei auch an die Berücksichtigung von Kindern bei der Finanzierung von Eigenheimen zu denken. Die Möglichkeiten staatlicher Unterstützung bei Kindern und Stiefkindern sind vielfältig, so dass einiges dafür spricht, in gewissem Umfang auch Verpflichtungen übernehmen müssen.

Die seitens des Gerichts vertretene Auffassung würde hingegen dazu führen, dass Familien (mit leiblichen Kindern) einen deutlich niedrigeren Leistungsanspruch gegenüber den Sozialleistungsträgern geltend machen könnten als "Stiefkindfamilien".

Angenommen, eine siebenköpfige Familie (Ehepaar mit 5 gemeinsamen Kindern unter 14 Jahre) verfügt über anzurechnendes Einkommen von 1.500,00 EUR und muss 843,00 EUR für die Miete aufwenden. Der Bedarf läge bei (622,00 EUR Regelleistung + 1035,00 EUR Sozialgeld + 843,00 EUR Miete = 2.500,00 EUR). Nach Anrechnung des Einkommens und des Kindergeldes (1.500,00 EUR +820,00 EUR = 2.320,00 EUR) ergäbe sich ein ungedeckter Bedarf von 180,00 EUR, der ggf. durch die Gewährung von Wohngeld durch den Sozialleistungsträger aufgefangen werden könnte.

Eine "Stiefkindfamilie" (ebenfalls fünf Kinder unter 14 Jahre, davon ein gemeinsames Kind) und einem anrechenbaren Einkommen des Stiefvaters in Höhe von 1.500,00 EUR müsste bei Nichtanwendung des § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II einen Bedarf von (622,00 EUR Regelleistung + 207,00 EUR Sozialgeld + 361,29 EUR Miete (843,00 EUR: 7 x 3 Personen)) 1.190,29 EUR decken. Nach Berücksichtigung des Einkommens und des Kindergeldes für das gemeinsame Kind ergäbe sich ein Einkommensüberhang von 488,71 EUR. Daneben könnte der ungedeckte Bedarf der vier Stiefkinder in Höhe von (4 x 207,00 EUR Sozialgeld = 828,00 + (4 x 120,49 EUR Miete = 481,71 EUR) abzüglich des Kindergeldes (641,00 EUR)) 668,71 EUR geltend gemacht werden.

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Nichtanwendung des § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II zu untragbaren Ergebnissen führen würde. "Stiefkindfamilien" würden gegenüber Familien mit gemeinsamen Kindern deutlich besser gestellt werden. Die Sozialleistungsträger würden Bedarfe decken müssen, die bei voller Einkommensberücksichtigung an sich nicht bestehen.

Dass minderjährige Kinder bei Verweigerung finanzieller Unterstützung durch den Stiefvater ihr Existenzminimum nicht eigenständig sicherstellen können, mag zutreffend; dies führt allerdings nicht automatisch zur Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs. 2 S. 2 SGB II. Für derartige Fälle wären vielmehr andere Regularien zu finden. Eine "Stiefkinderfamilie" zu gründen beruht auf einer höchstpersönlichen Entscheidung der Stiefeltern mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen."

Die Ag beantragt,

den Beschluss des SG Düsseldorf vom 01.03.2007 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

Die Ast beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Ast halten den angefochtenen Beschluss für zutreffend und führen ergänzend folgendes aus:

"1.
Bedenken hinsichtlich der Artikel 2 Abs. 1 und Artikel 6 Grundgesetz, die das erstinstanzliche Gericht geäußert hat, vermag die Beschwerdeführerin nicht auszuräumen.

Wenn sie in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass Personen, die sich für eine Eheschließung in dem Bewusstsein entscheiden, dass Kinder aus vorheriger Beziehung existieren, sich auch über damit verbundenen Konsequenzen bewusst sein müsste, so ist diese Aussage zwar grundsätzlich richtig, vermag aber die Bedenken gegen die Neufassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II nicht ins Wanken zu bringen. Zu den erstinstanzlich bereits vorgetragenen beziehungsweise vom Sozialgericht Düsseldorf formulierten Argumenten kommt hinzu, dass zum Zeitpunkt der Eheschließung keineswegs das Sozialrecht normierte, dass der Stiefvater ersatzweise für die Kinder seiner Ehefrau, die nicht seine Kinder sind, aufzukommen habe. Die Regelung wurde erst weit nach der Eheschließung der Parteien in des Sozialgesetzbuch eingeführt. Wenn man aber schon argumentiert, dass man sich über die Konsequenzen einer Eheschließung mit einem Partner, der Kinder aus einer früheren Beziehung mit in die Ehe bringt, bewusst sein muss, so können dies ohne Frage nicht die Konsequenzen sein, die zum Zeitpunkt der Eheschließung überhaupt noch nicht absehbar sind.

Die Gesetzesänderung konnte der Antragsteller nun wirklich nicht vorhersehen.

Im Übrigen mag es ja so sein, dass das Sozialrecht grundsätzlich davon ausgeht, dass Einstandsgemeinschaften bestehen, wenn Menschen zusammen in einer Wohnung leben.

Diese Vermutung des Gesetzgebers kann aber jederzeit widerlegt werden. Dies gilt unstreitig zum Beispiel für Wohngemeinschaften und kann eben auch für Fälle wie den vorliegenden gelten, in dem der Stiefvater ausdrücklich durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht hat, dass er keine Unterhaltsleistungen für die Kinder seiner Ehefrau, die nicht seine Kinder sind, erbringt.

Der Stiefvater bildet insoweit keine Einstandsgemeinschaft mit den Antragstellern. Die im Einzelnen vorgetragenen Argumente zur staatlichen Unterstützung von Eltern, die mit Stiefkindern zusammenleben, sind zwar durchaus interessant, ändern aber nichts an der Verfassungswidrigkeit oder zumindest den erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neufassung des § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II.

2.
Erstinstanzlich haben wir vorgetragen, dass hier auf dem "kalten Wege" durch das Sozialrecht eine faktische Unterhaltsverpflichtung eines Mannes eingeführt wird, der nach dem Unterhaltsrecht unstreitig niemals unterhaltspflichtig gegenüber den Kindern seiner Ehefrau, die nicht seine Kinder sind, wäre. Sozialrechtliche Regeln dürfen Unterhaltsregelungen nicht aushebeln, was aber durch die Neufassung der Vorschrift sei dem 01.08.2006 geschehen ist.

3.
Schließlich geht die Beschwerdeführerin auf die grundlegenden Bedenken des Sozialgerichts Düsseldorf hinsichtlich der Vereinbarkeit der Neuregelung des Gesetzes mit Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebotes des Artikel 20 Grundgesetz überhaupt nicht ein.

Das Sozialgericht führt zu Recht aus, dass eine schematische Anrechnung von Einkommen ohne die Möglichkeit der Widerlegung und ohne dass darauf Rücksicht genommen wird, ob das Existenzminimum des jeweiligen Kindes tatsächlich durch entsprechenden Einkommenszufluss durch den Stiefvater gesichert ist, gegen das Gebot zur Sicherung des Existenzminimums aus Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz verstößt.

Überzeugend sind auch die Darlegungen des Sozialgerichtes zu dem Umstand, dass ein minderjähriges Kind gar nicht die Möglichkeit hat, sich bei Verweigerung von Unterhaltsleistungen durch den Stiefvater selbst das Existenzminimum zu sichern oder durch Verlassen des Haushaltes andere Umstände herbeizuführen."

II.

Die Beschwerde der Ag ist rechtzeitig erhoben worden und auch sachlich begründet. Die Beteiligten sind sich darin einig, dass die Ag die Leistungen nach dem SGB II unter Beachtung von § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II für die Zeit ab 01.08.2006 rechnerisch richtig unter Berücksichtigung des Einkommens des Stiefvater abgelehnt hat. Hiervon geht auch der Senat aus. Ein Obsiegen im Hauptverfahren ist also nur durch Außerachtlassen von § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II wegen Verfassungswidrigkeit möglich. Eine Entscheidung - wie im vorliegenden EA-Verfahren - könnte das SG im Hauptsacheverfahren nicht treffen, wenn es an seiner Rechtsauffassung festhält, sondern müsste das Verfahren aussetzen und das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gemäß Art. 100 GG zur Entscheidung anrufen. Für das EA-Verfahren wird die Auffassung vertreten, dass eine Vorlage an das BVerfG auch erst nach Erlass einer EA möglich ist, wenn der Grundrechtsverstoß überwiegend wahrscheinlich ist (Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl. 2005, § 86 b Rnr. 39). Dies bedeutet nach Auffassung des Senats, dass das SG - ausgehend von seiner Rechtsauffassung - zwar die EA hätte erlassen dürfen, danach aber dem BVerfG die Sache hätte vorliegen müssen. Auch das BVerfG kann eine EA erlassen, wenn es die Auffassung des SG teilt (§ 32 BVerfGG). Das BVerfG hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es im einstweiligen Rechtsschutz sehr zeitnah entscheidet, wenn es einen Verfassungsverstoß in Betracht zieht. So lag im Fall der Entscheidung des BVerfG vom 12.05.2005 (- 1 BvR 569/05 -) zwischen der mit der Verfassungsbeschwerde angegangenen Gerichtsentscheidung und der EA-Entscheidung des BVerfG ein Zeitraum von nur einem Monat. Der Respekt vor dem BVerfG, welches allein Gesetze oder Teile davon für verfassungswidrig erklären kann, gebietet eine solche restriktive Auslegung bei Übergehen der Vorlagepflicht in EA-Verfahren.

Der Senat hat das Versäumnis des SG nicht nachgeholt, weil er nicht der Auffassung ist, § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig. Der Senat hat § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II in der Vergangenheit wiederholt angewendet, ohne Bedenken verfassungsrechtlicher Art erhoben zu haben (vgl. Beschluss vom 20.04.2007 - L 12 B 207/06 AS ER -).

Der Senat sieht sehr wohl die Bedenken des SG und die Tatsache, dass das SG damit nicht allein dasteht (SG Berlin vom 20.12.2006 - S 37 AS 11401/06 ER und vom 08.01.2007 - S 103 AS 10869/06 ER -). Andererseits sieht er die Argumente der Ag aus dem Schriftsatz vom 12.03.2007 für mindestens gleichwertig, wenn nicht gar für gewichtiger an. Es überzeugt nicht, wenn ein Stiefvater behauptet, er leiste keinen Unterhalt für die Stiefkinder, und sei es nur durch die Gewährung von Kost und Logis, er sich auf der anderen Seite aber die möglichen Vorteile des Stiefvater-Stiefkind-Verhältnisses durch die rechtlich zulässige Eintragung von Kinderfreibeträgen auf der Lohnsteuerkarte sichert. Wer sich die rechtlichen Vorteile der gewählten Lebensform sichert, der muss auch die rechtlichen Nachteile (Anwendung von § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II) hinnehmen, jedenfalls solange bis das BVerfG die Verfassungwidrigkeit der angewandten Norm feststellt.

Auf die Beschwerde der Ag war somit der Beschluss des SG abzuändern und der Antrag abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar, § 177 SGG.

Die Antragsteller werden darauf hingewiesen, dass aufgrund der vorstehenden Rechtsmittelbelehrung der Rechtsweg erschöpft ist und sie nun ihrerseits die Möglichkeit haben, Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG zu erheben.
Rechtskraft
Aus
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