L 6 SB 396/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 1710/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 396/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 24. Januar 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob bei dem Kläger der Grad der Behinderung (GdB) mit 70 festzustellen ist.

Der 1958 geborene Kläger ist französischer Staatsangehöriger und hat als Angehöriger eines Mitgliedsstaates der EU eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Auf seinen Erstantrag vom 04.08.2000 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 02.11.2000 einen GdB von 30 fest. Dabei legte er eine seelische Störung und Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Teil-GdB jeweils von 20 zugrunde. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 14.02.2001 zurückgewiesen. Das sich anschließende sozialgerichtliche Verfahren S 1 SB 329/01 endete am 28.05.2002 mit einem Vergleich, aufgrund dessen der Beklagte mit Bescheid vom 29.07.2002 den GdB wegen seelischer Störung und Funktionsbehinderung der Wirbelsäule auf 40 festsetzte.

Am 21.11.2003 beantragte der Kläger die Erhöhung des GdB wegen Verschlimmerung der bereits festgestellten Behinderungen. Er gab an, wegen Depressionen laufend in nervenfachärztlicher Behandlung zu sein. Der Beklagte veranlasste eine ärztliche Stellungnahme des behandelnden Nervenfacharztes Dr. H ... Dieser teilte am 23.12.2003 mit, beim Kläger bestehe eine ausgeprägte generalisierte Angststörung. Dadurch sei er in seinem psychosozialen Aktionsradius erheblich beeinträchtigt, so trinke er vor Einladungen zur Entlastung Alkohol, um die innere Nervosität und Erwartungsängste zu reduzieren. Aufgrund seiner Angstzustände habe er sein Auto verkauft, könne aber auch keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Insgesamt bestehe entsprechend den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) eine stärker behindernde Störung mit erheblichen sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Ein GdB von 40 bis 50 erscheine angezeigt.

Mit Bescheid vom 25.02.2004 stellte der Beklagte den GdB für die Zeit seit dem 21.11.2003 mit 50 fest. Dabei legte er eine seelische Störung mit Teil-GdB 50 sowie Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und muskuläre Verspannungen mit Teil-GdB 10 zugrunde. Mit seinem dagegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, der orthopädische Befund mit einem Einzel-GdB von 10 sei zu niedrig bewertet, weil bereits im Rahmen früherer Anträge für Befunde an der Hals- und Brustwirbelsäule ein Einzel-GdB von 20 ausgeworfen worden sei. Die Beschwerden hätten sich in der Zwischenzeit weiter verschlimmert, so dass ein GdB von 30 hierfür zutreffe. Es werde daher beantragt, den Gesamt-GdB auf 70 anzuheben. Der Beklagte veranlasste eine versorgungsärztliche (vä) Stellungnahme. Medizinalrätin Dr. W. kam am 28.06.2004 zu dem Ergebnis, der Gesamt-GdB von 50 sei nicht zu beanstanden. Nachdem der Nervenarzt einen GdB von 40-50 ausweise und Nackenschmerzen als Ausdruck degenerativer Veränderungen der Wirbelsäule mit eingeschlossen seien, könne der GdB für Funktionsstörungen der Wirbelsäule von 20 auf 10 abgesenkt werden. Dabei sei hervorzuheben, dass sich die seelische Störung und die Funktionsstörungen im Bereich der Wirbelsäule überschnitten, so dass an der bisherigen Stellungnahme festzuhalten sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 08.07.2004 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.

Dagegen erhob der Kläger am 19.07.2004 Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG). Er verlangte weiterhin die Anerkennung eines GdB von 70.

Das SG befragte die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen. Der Neurologe und Psychiater Dr. H. wiederholte in seiner Aussage vom 06.10.2004 die bereits im Verwaltungsverfahren angegebenen Diagnosen und teilte mit, seit Herbst 2003 gebe der Kläger eine Zunahme der phobischen Ängste einschließlich Panikattacken sowie seiner depressiven Verstimmungszustände an. Der Kläger habe sich deswegen in der Zeit vom 03.08.2004 bis 14.09.2004 in einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme (Reha) in der Fachklinik für somatische Medizin in St. B. befunden. Dr. H. hielt einen GdB von 50 für angezeigt und fügte den Entlassbericht aus der W.-Klinik St. B., Fachklinik für Psychosomatische und Psychotherapeutische Medizin vom 27.09.2004, bei. Als Diagnosen wurden dort genannt: Phobische Störung mit Panikstörung, mittelgradige depressive Episode ohne somatisches Syndrom, schädlicher Gebrauch von Alkohol sowie zervikale Dystonie. In der Anamnese wird beschrieben, dass der Kläger bezüglich Alkohol und Nikotin Suchtverhalten aufweise und unter Bewegungsmangel, sozialem Rückzug und Arbeitslosigkeit leide. Soziale Kontakte und Freizeitinteressen habe der Kläger reduziert, er leide unter Angstzuständen, Depressionen und Nackenschmerzen. Der Facharzt für Innere Medizin Dr. W. teilte dem SG unter dem 17.10.2004 mit, er habe den Kläger in acht Jahren fünfmal behandelt, so wegen einer Hiatusgleithernie, Refluxösophagitis, Psychosomatose, Analekzem sowie Verdacht auf Gallenkolik. Auf seinem Fachgebiet liege keine Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz vor. Der Schwerpunkt der Leiden liege in Bewegungsstörungen und Angst mit depressiver Störung sowie angstneurotischer Persönlichkeitsentwicklung bei Somatisierungstendenz.

Mit Gerichtsbescheid vom 24.01.2005 wies das Sozialgericht die Klage ab. Es entscheid, der vom Beklagten festgestellte GdB mit 50 sei nicht zu beanstanden. Dies entspreche den Ausführungen des behandelnden Nervenfacharztes Dr. H ... Der behandelnde Internist habe für sein Fachgebiet dagegen keine relevanten Funktionsbehinderungen mitgeteilt.

Gegen den am 27.01.2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 31.01.2005 Berufung eingelegt. Ein Teil-GdB von 10 auf orthopädischem Fachgebiet werde den gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers nicht mehr gerecht, da sich seine Wirbelsäulenerkrankung verschlechtert habe.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 24. Januar 2005 und den Bescheid des Beklagten vom 25. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Juli 2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von 70 seit dem 21. November 2003 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Eine Befundänderung beim Kläger im Sinne einer Verschlechterung der Wirbelsäulenveränderungen lasse sich nicht objektivieren. Dr. K. hat am 26.09.2005 für den Beklagten ausgeführt, die Vorbefunde ergäben allenfalls eine geringe Beeinträchtigung der gesamten Wirbelsäule. So habe der Entlassbericht aus der W.-Klinik St. B. bei muskulären Verspannungen eine regelrechte Bewegung der gesamten Wirbelsäule beschrieben. Der Facharzt für Orthopädie Dr. B. habe über eine akute Symptomatik im Sinne einer Lumbalgie im Jahr 2005 bei röntgenologisch nachgewiesenem geringfügigen Wirbelgleiten im Wirbelsäulenbereich berichtet, auf weitere Beeinträchtigungen durch den Dauerbefund könne daher nicht geschlossen werden. Die übrigen Behandlungsberichte beträfen Schmerzen im Mittelfußbereich und ergäben Befunde, welche keiner anderen wesentlichen Beeinträchtigung entsprächen. Unter Anwendung der AHP sei ein GdB von 10 für den gesamten Wirbelsäulenbefund daher nach wie vor angemessen.

Der Senat hat den behandelnden Orthopäden Dr. B. schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt. Dieser hat unter dem 19.07.2005 mitgeteilt, er habe den Kläger seit Juni 2004 viermal behandelt. 2004 habe er eine Metacarpale-V-Fraktur rechts und Prellung des Knies rechts und im Jahr 2005 eine Lumbalgie, ein Cervikalsyndrom, akute Coxalgie links und Pseudolisthese L5/S1 diagnostiziert. Anhand der radiologischen Befunde könnten rezidivierende Wirbelsäulenprobleme bei Überlastung auftreten. Seitens des Zustandes nach der Fraktur im Jahr 2004 und Prellung des rechten Knies seien keine posttraumatischen Beschwerden zu erwarten.

Als Sachverständiger gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Orthopäde Dr. T. von der Praxis + Klinik, Orthopädie im H.-G.-Spital R. am 11.08.2006 ein Gutachten über den Kläger erstattet. Er hat eine Osteochondrose HWK 5-7 mit Myogelosen und Lumbalgien diagnostiziert. Bei der körperlichen Untersuchung im März 2006 habe der Kläger in erster Linie Schmerzen des Schulter-Nacken-Bereichs beidseits und im Bereich der Lendenwirbelsäule geäußert. Dabei habe es sich in erster Linie um muskuläre Beschwerden gehandelt, neurologische Ausfälle hätten weder an den Armen noch Beinen bestanden. Radiologisch habe sich im Wesentlichen eine unauffällige Lendenwirbelsäule gezeigt, links sei das Bein leicht um 0,5 cm verkürzt. Die Röntgenaufnahme der Halswirbelsäule zeige deutliche degenerative Veränderungen. Die Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich im Sinne von Muskelverspannungen seien durch diese degenerativen Veränderungen im Bereich der unteren Halswirbelsäule bedingt, wesentliche funktionelle Einschränkungen oder radikuläre Reizerscheinungen bestünden nicht. Der Schweregrad sei nicht dauerhaft, aber rezidivierend im Halswirbelsäulenbereich als mittelschwer zu bezeichnen, im Lendenwirbelsäulenbereich eher als leicht. Für den Bereich der Orthopädie liege der GdB bei 10 und sei auf die degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule zurückzuführen. Aus seiner Sicht seien die Beurteilungen der Vorgutachter korrekt.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes wird ergänzend auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten sowie der Akten beider Rechtszüge und das Vorbringen der Beteiligten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist zulässig; sie ist insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden und statthaft (§ 151 Abs. 1 und §§ 143, 144 SGG). Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg ist nicht zu beanstanden. Die angegriffenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, weil er keinen Anspruch auf die Feststellung eines GdB von mehr als 50 hat.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die zuletzt getroffene Feststellung des GdB mit Bescheid vom 29.07.2002, mit dem der Vergleich vom 28.05.2002 ausgeführt worden ist, ist ein solcher Dauerverwaltungsakt, denn mit ihm wurden die Behinderungen des Klägers als andauernd festgestellt.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die Beurteilung des GdB sind seit dem 1. Juli 2001 die Vorschriften des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX), die an die Stelle der durch dieses Gesetz aufgehobenen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind (Artikel 63 und 68 SGB IX vom 19. Juni 2001, BGBl. I S. 1046).

Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden ebenfalls die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden auf Grund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs. 5 SGB IX).

Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden.

Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt (§ 69 Abs. 1 Sätze 3 und 6 SGB IX). Die Feststellung des GdB oder eines Nachteilsausgleichs ist eine rechtliche Wertung von Tatsachen, die mit Hilfe von medizinischen Sachverständigen festzustellen sind. Dabei orientiert sich der Senat im Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten an den Bewertungsmaßstäben, wie sie in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)", Ausgabe 2004 (AHP) niedergelegt sind (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 15. März 1979 - 9 RVs 6/77 - BSGE 48, 82; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 7. November 2001 – B 9 SB 1/01 R - VersorgVerw 2002, 26). Die AHP haben zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhen. Sie sind vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken. Sie haben deshalb normähnliche Auswirkungen und sind im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285, 286; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 91, 205; BSG, Urteil vom 29. August 1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). In den AHP ist der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Sie ermöglichen somit eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB oder eines Nachteilsausgleichs. Die AHP stellen dabei ein einleuchtendes, abgewogenes und geschlossenes Beurteilungsgefüge dar (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Dabei dürfen die einzelnen Werte bei der Ermittlung des Gesamt-GdB nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet (AHP, 19 Abs. 1, S. 24). Vielmehr ist darauf abzustellen, ob und wie sich die Auswirkungen von einzelnen Beeinträchtigungen einander verstärken, überschneiden oder aber auch gänzlich voneinander unabhängig sein können (BSG, Urteil vom 15. März 1979 - 9 RVs 6/77 - BSGE 48, 82; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19). Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB-Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (AHP, 19 Abs. 3, S. 25). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass, von Ausnahmefällen abgesehen, leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte. Dies auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (AHP, 19 Abs. 4, S. 26).

Hiervon ausgehend gelangt der Senat nach eigener Überprüfung mit dem SG zur Überzeugung, dass eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gegenüber dem Vergleich vom 28.05.2002/ Ausführungsbescheid vom 29.07.2002, mit welchem dem Kläger ein GdB von 40 zuerkannt worden war, vorliegt. Denn die bei dem Kläger vorliegende seelische Störung hat sich verschlimmert und ist jetzt mit einem GdB von 50 zu bewerten. Hierüber sind sich die Beteiligten einig, so dass sich Ausführungen hierzu erübrigen. Gestritten wird darum, ob die darüber hinaus bestehende Funktionsbehinderung der Wirbelsäule statt mit einem Teil-GdB von 10 mit einem Teil-GdB von 20 oder mehr einzustufen ist, so dass insgesamt ein höherer GdB seit dem Erhöhungsantrag des Klägers anzuerkennen ist. Das ist nach der Überzeugung des Senats nicht der Fall.

Der Senat stützt sich hierfür auf das orthopädische Gutachten des Sachverständigen Dr. T ... Der Sachverständige, der auf den entsprechenden Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG ernannt worden ist, hat zwar eine Osteochondrose HWK 5-7 mit Myogelosen und Muskelverspannungen im Schulter-Nacken-Bereich sowie Lumbalgien diagnostiziert. Weil es sich aber in erster Linie um muskuläre Beschwerden ohne neurologische Ausfälle oder radikuläre Reizerscheinungen gehandelt habe, hat er den GdB nur mit 10 bemessen. Seine Bewertung entspricht den Maßstäben der AHP: Der GdB-Grad ergibt sich nach Nr. 26.18 (Wirbelsäulenschäden) der AHP bei angeborenen oder erworbenen Wirbelsäulenschäden primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurzdauernd auftretende Wirbelsäulensyndrome) werden danach mit einem GdB von 10 und erst mittelgradige funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) mit einem GdB von 20 bemessen. Für häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkungen oder Instabilitäten mittleren Grades, häufig rezidivierende und Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome besteht beim Kläger nach dem Gutachten von Dr. T. aber kein Hinweis. Zwar hat Dr. T. die Halswirbelsäulenbeschwerden des Klägers als "mittelschwer" bezeichnet, aus den übrigen Ausführungen des Gutachters ist aber zu entnehmen, dass er damit keine "mittelgradige" funktionelle Auswirkung im Sinne der AHP gemeint hat, denn er misst den rezidivierenden, rein muskulären Beschwerden des Klägers im Schulter-Nacken-Bereich keinen erheblich beeinträchtigenden Wert zu, was neben seiner GdB-Einschätzung von 10 dadurch zum Ausdruck kommt, dass er ausdrücklich betont, dauerhafte wesentliche funktionelle Einschränkungen oder radikuläre Reizerscheinungen bestünden nicht und er schließe sich den Vorgutachtern an.

Das Gutachtensergebnis von Dr. T. wird durch den Entlassbericht aus der stationären Reha-Maßnahme in der W.-Klinik St. B. aus dem Jahr 2004 unterstützt. In den Entlassdiagnosen rangierte die zervikale Dystonie zuletzt und trat im Bericht deutlich hinter der seelischen Störung bei mittelgradiger depressiver Episode und dem Alkoholabusus zurück. Im neurologischen Befund war die Motorik und Sensibilität aller Extremitäten allseits aktiv und passiv regelgerecht. Zur Wirbelsäule wurde vermerkt, dass keine Deformation, kein Klopf- oder Stauchschmerz und kein Zeichen nach Lasègue vorliege; auch konnte der Kläger an den angebotenen Mobilisierungsmaßnahmen wie Wandern, Walking, Schwimmen und Gymnastik offenbar ohne Probleme teilnehmen. Daraus ergibt sich nach Überzeugung des Senats kein Leistungsbild, welches mittelgradige funktionelle Auswirkungen im Bereich der Hals- oder Lendenwirbelsäule nahelegte. Auch der behandelnde Orthopäde Dr. B. berichtet über fünf Behandlungstermine des Klägers, an welchen Halswirbelsäulenbeschwerden nur einmal und nur als weiterer Befund neben anderem auftauchen, während eine Mittelhandfraktur, eine Prellung des rechten Knies, Hüftbeschwerden und eine Lumbalgie im Vordergrund der Behandlung standen. Mit Dr. K. ist der Senat daher der Auffassung, dass die Gesamtschau der Befunde nur eine geringgradige Funktionsbeeinträchtigung der Halswirbelsäule beim Kläger zeigen, so dass dafür ein Teil-GdB von 10 angemessen erscheint.

Nicht entscheidungserheblich ist entgegen der Rechtsauffassung des Klägers, dass dem Bescheid vom 02.11.2000 eine gutachterliche Stellungnahme des vä Dienstes des Beklagten zugrunde lag, in welchem eine "Funktionsbehinderung der Wirbelsäule" mit einem Teil-GdB von 20 zur Anerkennung vorgeschlagen worden war. Denn zum einen erfolgte dieser Vorschlag nach Aktenlage ohne Begutachtung des Klägers vor allem aufgrund der - fachfremden - Stellungnahme des behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. H., welcher neben dem HWS-Befund Spondylarthrosen der BWS benannte, die später von keinem der im Verfahren beteiligten Ärzte bestätigt worden sind. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass ausschließlich der Verfügungssatz des Bescheids vom 02.11.2000, also die Feststellung des (Gesamt-)GdB mit 30 seit dem 04.08.2000 in Bestandskraft erwachsen ist, denn die Gründe eines Bescheids und erst recht die ihnen zugrunde liegenden ggf. gutachterlichen Erwägungen sind nur Begründungselemente. Infolgedessen kann der Kläger hieraus keine bestandskräftige Anerkennung eines Wirbelsäulenleidens mit einem Teil-GdB von 20 herleiten und ist der Beklagte insoweit berechtigt, seine Einschätzung bei Vorlage neuer oder präziserer Befunde auch zu Lasten des Klägers zu ändern.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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