L 4 R 4986/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 3 R 3407/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 4986/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 19. Oktober 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung.

Die am 1961 geborene Klägerin absolvierte keine Berufsausbildung. Sie war von Mai 1982 bis Juli 1987 als (Fabrik- und Maschinen)Arbeiterin beschäftigt. Nach der Kindererziehung (Tochter geboren am 1987) war sie - unterbrochen von Zeiten der Arbeitslosigkeit - von April 1990 bis 31. Mai 2003 als Kraftfahrerin beschäftigt. Ab 1. Juni 2003 bezog sie Arbeitslosengeld und nach Erschöpfung des Anspruchs vom 26. Mai bis 31. Dezember 2004 Arbeitslosenhilfe. Seit 1. Januar 2005 erhält sie Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II). Während des Bezugs von Leistungen wegen Arbeitslosigkeit übte sie eine Tätigkeit im Umfang von acht Stunden wöchentlich in einer Autowaschhalle und ab 1. November 2005 eine Tätigkeit als Aushilfefahrerin im Umfang von ungefähr fünf Stunden wöchentlich aus.

Neurologe und Psychiater Dr. J. diagnostizierte im September 2001 eine Myotonie. Ein eindeutiger Befund auf eine zusätzliche muskeldystrophische Komponente war klinisch und elektromyografisch nicht nachzuweisen (Bericht vom 11. September 2001). Die Klägerin befand sich vom 25. Februar 2004 bis 3. März 2004 in stationärer Behandlung der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums H ... In deren Verlauf wurde eine (erblich bedingte) Muskeldystrophie vom Typ Curschmann-Steinert sowie eine Katarakt beidseitig diagnostiziert (Bericht des Prof. Dr. H. vom 8. März 2004). Der ärztliche Dienst der zuständigen Agentur für Arbeit hielt noch leichte Tätigkeiten in überwiegend sitzender Arbeitshaltung für zumutbar (gutachterliche Äußerung des Herrn Vogt vom 15. April 2004).

Die Klägerin beantragte am 23. Juni 2004 Rente wegen Erwerbsminderung. Auf Veranlassung der Beklagten erstattete Internist Dr. B. das Gutachten vom 26. Juli 2004. Er diagnostizierte eine myotone Dystrophie (erbliches Nervenleiden, hier mit mäßiggradiger Funktionsbeeinträchtigung der Fuß- und Handbeweglichkeit) sowie einen behandelten Bluthochdruck und führte weiter aus, im Verlauf der durchgeführten regelmäßigen Bewegungstherapie sei es in den letzten zwei Jahren allenfalls zu einer geringgradigen Verschlechterung der Ausfallerscheinungen gekommen sei. Die sensomotorischen Ausfallerscheinungen im Bereich der Hände und Füße seien derzeit noch nicht als schwerwiegend zu bezeichnen, reichten aber dennoch aus, um ein Berufsverbot als LKW-Fahrerin zu erteilen. Für diese Tätigkeit sei die Klägerin dauerhaft nicht mehr geeignet. Dagegen erschienen bis auf weiteres eine leichte bis mittelschwere Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne Treppen- und Leiterbegehen sowie ohne übermäßige Ansprüche an die Feinmotorik der Hände noch vollschichtig zumutbar. Die Beklagte lehnte den Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung ab, weil weder eine teilweise noch eine volle Erwerbsminderung vorliege (Bescheid vom 28. Juli 2004). Die Klägerin erhob Widerspruch unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung des Internisten Dr. K. vom 5. August 2004, wonach sie wegen Ovarektomie beidseits (Abzesse 9/97), Nikotinabusus, myotoner Dystrophie Curschmann-Steinert und akrodistal betonter Parese in Dauerbehandlung stehe. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin zurück (Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 2004). Die Klägerin könne noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein.

Die Klägerin hat am 15. November 2004 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und geltend gemacht, ihr behandelnder Arzt sei der Meinung, sie könne nicht mehr arbeiten.

Die Beklagte ist der Klage unter Bezugnahme auf ihren Widerspruchsbescheid entgegengetreten.

Das SG hat den Neurologen und Psychiater Dr. J. sowie den Internist Dr. K. als sachverständige Zeugen gehört. Dr. J. hat unter Vorlage von ihm zugegangenen Arztbriefen angegeben (Schreiben vom 27. Januar 2005), die Klägerin leide an einer myotonen Muskeldystrophie und könne leichte körperliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, bei denen eine bestimmte fingerfeinmotorische Geschicklichkeit, ein rasches Öffnen der Hände, eine längerfristige oder wiederkehrende Muskelanstrengung der Arme oder Beine oder eine besonders gute Sehfähigkeit nicht erforderlich sei, ca. acht Stunden täglich verrichten. Dr. K. hat unter Vorlage von ihm zugegangenen Arztbriefen angegeben (Schreiben vom 22. Februar 2005), im Vordergrund steht die myotone Dystrophie Curschmann-Steinert mit akrodistal betonter Parese. Eine Beeinträchtigung des Leistungsvermögens bestehe sicherlich, wobei er Umfang und Verlauf bei diesem seltenen Krankheitsbild auf Grund mangelnder Erfahrung nicht genügend einschätzen könne. Eine weitere berufliche Tätigkeit auf Grund des Grundleidens als LKW-Fahrerin sei nicht möglich.

Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 19. Oktober 2005). Die Klägerin könne noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts sechs Stunden und mehr täglich verrichten. Ausgeschlossen werden müssten lediglich das Ersteigen von Treppen, Leitern und Gerüsten sowie übermäßige Ansprüche an die Feinmotorik der Hände. Die überzeugende Einschätzung des Dr. B., dass die Klägerin noch in der Lage sei, mit qualitativen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig tätig zu sein, werde durch die sachverständige Zeugenaussage des Dr. J. bestätigt. Angesichts der aus der myotonen Dystrophie resultierenden Funktionseinschränkungen sei nicht erkennbar, warum bei der Klägerin eine zeitliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit gegeben sein sollte. Angesichts ihres beruflichen Werdegangs könne die Klägerin auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts verwiesen werden, ohne dass es der Bennennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedürfe.

Gegen den ihr am 24. Oktober 2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 15. November 2005 Berufung eingelegt und darauf verwiesen, ihre Erwerbsfähigkeit sei durch zahlreiche Erkrankungen eingeschränkt, die im Zusammenhang mit der myotonen Dystrophie zu sehen seien. Sie sei nicht mehr vermittelbar. Sie müsse immer häufiger Schmerzmittel nehmen. Auch habe sich der Gesundheitszustand ihre Augen verschlechtert. Sie hat vorgelegt • den Bericht des Radiologen Dr. G. vom 23. Juni 2005 über eine Magnetresonanztomografie der Halswirbelsäule, die einen Bandscheibenprolaps im Segment C 6/7 links mit Vorwölbung um gut 5 mm und Einengung des linken Neuroforamens C 6/7 sowie Tangierung des abgebenden Spinalnervens C 7 links, eine degenerative diffuse Discopathie C 6/7, eine umschriebene dorsomediane fokale Anulus fibrosus Läsion C 5/6 ohne Raumforderungswirkung, eine ansonsten unauffällige Halswirbelsäule und Spinalkanal sowie keine myelitischen Veränderungen gezeigt hat, • den Bericht der Ärztin für Anästhesie Dr. L. vom 26. August 2005, die ein chronisches Schmerzsyndrom, ein chronisches Halswirbelsäulen-Syndrom und einen Bandscheibenprolaps diagnostiziert sowie ein TENS-Gerät für die Heilbehandlung verordnet und Akupunktur-Termine vereinbart hat, • die Bescheinigung des Dr. K. vom 8. März 2005, wonach sie in Dauerbehandlung sei, • Berichte des Dr. Kr., Abteilung für Medizinische Genetik im Institut für Humangenetik der Universität W., vom 30. September 2005, sowie des Dr. Ru., Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums H., vom 23. Januar 2006, wonach molekulargenetisch eine PROMM-Erkrankung (proximale myotone Myopathie) gesichert sei, • den Arztbrief des Dr. J. vom 13. August 2004, wonach als Ursache der rezidivierenden Sensibilitätsstörungen an den Füßen er von einer vertebragenen Pathogenese ausgehe, aber keinen Befund für eine manifeste spinale Funktionsstörung oder radikuläre Läsion finde.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 19. Oktober 2005 und den Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. Juni 2004 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat die ärztliche Stellungnahme des Arztes für Chirurgie/Unfallchirurgie Dr. Stark vom 15. Dezember 2005 vorgelegt, wonach nach wie vor ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten vorliege.

Die Firma Blitzkurier hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, die Klägerin arbeite seit 1. November 2005 als Aushilfefahrerin ungefähr fünf Stunden wöchentlich. Sie liefere Post im Briefzentrum ab, könne aber keine Tätigkeiten mit schwerem Heben verrichten (Schreiben vom 7. Juli 2006). Der Senat hat weiter die Akten der Agentur für Arbeit H. beigezogen sowie Orthopäden Dr. D., Neurologen und Psychiater Dr. W. sowie die Augenärzte Dr. Ha. und Dr. Ra. als sachverständige Zeugen gehört. Dr. D. hat angegeben, die Klägerin wegen Schmerzen der Halswirbelsäule und im linken Ellenbogen sowie wegen Schläfenkopfschmerzen behandelt zu haben (Schreiben vom 8. Februar 2007). Dr. W. hat ebenfalls über die Behandlung wegen Schmerzen im Nacken und im linken Ellenbogen berichtet, ohne dass ihm eine relevante Veränderung in Gesundheitszustand aufgefallen sei (Schreiben vom 12. Februar 2007). Dr. Ha. hat auf Grund einer einmaligen Behandlung am 27. April 2007 einen grauen Star (Katarakt) sowie Kurzsichtigkeit und Altersweitsichtigkeit beidseits diagnostiziert (Schreiben vom 3. Juli 2007). Dr. Ra. hat auf Grund seiner Behandlungen zwischen August 2004 und Februar 2005 einen beginnenden Katarakt mit leicht reduzierter Sehschärfe und eine leichte Befürchtungsstörung bei ansonsten unauffälliger Augenstatus diagnostiziert (Schreiben vom 9. September 2007).

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte, die Akte des SG sowie die von der Beklagten vorgelegte Leistungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten nach §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entschieden hat, ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung oder teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Versicherte haben bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) in der seit 1. Januar 2001 geltenden anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl. I S. 1827), das nach § 300 Abs. 1 SGB VI hier anzuwenden ist, Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI in der Fassung des zuvor genannten Gesetzes Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Die Klägerin ist nicht erwerbsgemindert.

Bei der Klägerin besteht eine erbliche Muskelerkrankung. Bei einer molekulargenetischen Untersuchung konnte die Diagnose einer proximalen myotonen Myopathie gesichert werden. Die Erkrankung kann mit einem Nachlassen der Muskelkraft und mit Muskelschmerzen verbunden sein (Bericht des Dr. Ru. vom 23. Januar 2006). Erhebliche Ausfallerscheinungen aufgrund der Muskelerkrankung liegen - jedenfalls derzeit - nicht vor. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des Dr. B. vom 26. Juli 2004, das der Senat urkundenbeweislich verwertet, und wird durch die Angaben des Neurologen und Psychiater Dr. J. als sachverständiger Zeuge vom 27. Januar 2005 bestätigt. Auch eine den Verschlimmerung des Gesundheitszustandes der Klägerin gegenüber dem Gutachten des Dr. B. lässt sich nicht feststellen. Sowohl die von der Klägerin im Berufungsverfahren vorgelegten ärztlichen Befundberichte als auch die Angaben der im Berufungsverfahren als sachverständige Zeugen gehörten Ärzte, die die Klägerin behandelten, enthalten keine Angaben, dass erhebliche Funktionseinschränkungen bestehen bzw. neue aufgetreten sind. Der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. W. gab in seiner Auskunft vom 12. Februar 2007 an, dass keine relevanten Veränderungen im gesundheitlichen Zustand aufgefallen seien. Dies steht in Übereinstimmung mit den Ausführungen in seinen Arztberichten, die seiner Auskunft beigefügt waren. Auch der vorgelegte Arztbrief des Dr. Ru. vom 23. Januar 2006 spricht von einer unveränderten Krankheitssymptomatik.

Schließlich lässt sich auch die von der Klägerin im Laufe des Berufungsverfahrens behauptete Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Augen nicht feststellen. Nach den sachverständigen Zeugenauskünften der Augenärzte Dres. Ha. und Ra. besteht eine Minderung der Sehschärfe, die allenfalls bei Tätigkeiten mit besonderer Anforderungen an die Sehfähigkeit Auswirkungen haben könnte. Eine zeitliche Leistungsminderung für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt lässt sich daraus aber nicht ableiten.

Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 Abs. 1 SGB VI in der seit 1. Januar 2001 geltenden Fassung scheidet bereits deshalb aus, weil die Klägerin am 6. Juni 1961, und damit nach dem 2. Januar 1961 geboren ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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