L 16 P 80/97

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 13 (15) P 6/97
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 16 P 80/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 03. Dezember 1997 geändert. Die Berufung wird zurückgewiesen, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, Leistungen nach Pflegestufe III ab 01. März 1996 zu zahlen. Im übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Beklagte trägt auch die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahren in voller Höhe. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe III (statt nach Pflegestufe II) ab 01.04.1995.

Die Klägerin wurde am xx.xx.1989 in der 28. Schwangerschaftswoche geboren. Im Verlaufe der Behandlung in der Universitätsklinderklinik Düsseldorf, während welcher die Klägerin beatmet werden mußte, hatte sich eine Blutung mit Zerstörung von Hirngewebe entwickelt, die wiederum das Entstehen eines Wasserkopfes bewirkte. Zusätzlich kam es durch Durchblutungsstörungen der Augen zur Netzhautablösung. Im Alter von 9 Monaten setzte ein Krampfleiden des Gehirns ein, das jedoch unter einer Hormontherapie gestoppt werden konnte. Das Krampfleiden hat zu einer erheblichen bleibenden Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung geführt. Die Klägerin bezieht seit dem 01.04.1995 Leistungen aus der Sozialen Pflegeversicherung wegen Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe II). Das Versorgungsamt Aachen hat (mit Bescheid vom 14.08.1996) wegen der geistigen und körperlichen Entwicklungsstörung und der Blindheit einen Grad der Behinderung von 100 festgestellt und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "Bl, H, G, aG, B, RF" festgestellt.

Am 21.12.1994 beantragte die Klägerin Pflegegeld nach der Pflegestufe III. Die Beklagte veranlaßte eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein. Die Ärztin Frau S. sah in ihrem Gutachten vom 31.05.1995 die Voraussetzungen für die Pflegestufe II weiterhin als gegeben an, verneinte sie jedoch für die Pflegestufe III. Die Klägerin benötige Hilfe bei allen Verrichtungen der Grundpflege mit Ausnahme des Gehens und Stehens und bei der hauswirtschaftlichen Versorgung. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag mit dem angefochtenen Bescheid vom 19.06.1995 ab, der keine Rechtsmittelbelehrung enthielt. Auf den Widerspruch der Klägerin vom 09.08.1995 holte die Beklagte ein weiteres Gutachten des MDK Nordrhein ein. Frau Dr. med. Pxxxxxxxxxx und die Pflegefachkraft Frau Mxxx kamen zu dem Ergebnis, Pflegebedürftigkeit liege lediglich in der Pflegestufe II vor. Zwar sei der täglich anfallende Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege und unter Berücksichtigung der nächtlichen Hilfe bei der Miktion sehr hoch. Er entspräche jedoch unter Abzug des Hilfebedarfs eines gesunden 6-jährigen Kindes der Pflegestufe II. In diesem Gutachten ist u.a. festgehalten, ein Hilfebedarf bei der Darm-/Blasenentleerung bestehe täglich 12- bis 24-mal. Die Beklagte wies daraufhin den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 08.01.1997 zurück. Die neuerliche Begutachtung habe keine neuen Gesichtspunkte ergeben.

Hiergegen hat die Klägerin am 11.02.1997 Klage erhoben und geltend gemacht, ihr müsse beim Essen stets Hilfe geleistet werden. Das Essen werde von der Hilfsperson in den Mundraum eingeführt und mit den Fingern zu den Zähnen geschoben. Nach dem ersten Biß müsse es erneut wieder mit dem Finger der Pflegeperson zu den Zähnen geschoben werden. Auch tagsüber melde sie - die Klägerin - sich nicht immer rechtzeitig zur Miktion und Defäkation. Nachts müsse sie grundsätzlich ein- bis viermal zur Miktion aufstehen. Mit Ausnahme des Hinsetzens und Aufstehens brauche sie beim Ausscheiden Hilfe, beim An-/ Auskleiden und beim Säubern. Sie könne sich weder alleine waschen noch duschen. Sie halte zwar die Hände ins Waschbecken, sei aber sonst am Waschvorgang nicht beteiligt. Beim Baden müsse schon beim Ein- und Aussteigen in die bzw. aus der Wanne Hilfe geleistet werden. Treppensteigen falle an, da der Reha-Raum in der Wohnung der Eltern in der ersten Etage liege. Der tatsächliche Zeitaufwand für die Grundpflege betrage täglich 451 Minuten.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.06.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.01.1997 zu verurteilen, ihr Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe III ab 01.04.1995 zu gewähren.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, dass der Grundpflegebedarf der Klägerin nach Abzug des Bedarfs eines gesunden gleichaltrigen Kindes in Höhe von 105 Minuten bei 165 bzw. 159 Minuten pro Tag liege. Das Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung zum Zwecke des Schulbesuchs sei nicht pflegerelevant. Hilfe beim Treppensteigen könne nur "im Zusammenhang mit Maßnahmen der Grundpflege" berücksichtigt werden. Ein geringerer Abzug als 105 Minuten für den Hilfebedarf eines gleichaltrig gesunden Kindes sei lebensfremd. Ein Pflegebedarf für die Beaufsichtigung der Klägerin wegen der Gefahr nächtlichen Umherirrens oder des Weglaufens könne nicht berücksichtigt werden, da auch gleichaltrige gesunde Kinder beaufsichtigt werden müßten.

Das Sozialgericht hat von dem behandelnden Arzt für Kinderheilkunde Dr. Kxxxxx, xxxxxxxx, einen Befundbericht eingeholt und dem Arzt für Kinderheilkunde Dr. Stxxxxxx, xxxxxx, mit der Erstattung eines Pflegegutachtens beauftragt. Dr. Stxxxxxx bezifferte in sei nem Gutachten vom 12.10.1997 die tägliche Gesamtpflegezeit mit 331 Minuten. Den Aufwand für die Grundpflege hat er - errechnet durch Addition der in der Anlage zum Gutachten angegebenen Zeitangaben für die einzelnen Verrichtungen - mit insgesamt 310 Minuten festgesetzt, davon 103 Minuten für Körperpflege, 110 Minuten für Ernährung und 97 Minuten für Mobilität. Außerdem hat er für Mundpflege weitere 21 Minuten berücksichtigt. Für die Pflege eines gleichaltrigen gesunden Kindes hat er 55 Minuten abgesetzt.

Mit Urteil vom 03.12.1997 hat das Sozialgericht die Beklagte verurteilt, der Klägerin Leistungen nach der Pflegestufe III ab 01.04.1995 zu gewähren. Die Klägerin sei jedenfalls seit April 1995 schwerstpflegebedürftig. Die Kammer ist bei der Festlegung des zeitlichen Umfangs der jeweiligen Verrichtungen des täglichen Lebens den eigenen Angaben der Klägerin und den Feststellungen des Sachverständigen Dr. Stxxxxxx gefolgt. Die Kammer hat einen grundpflegerischen Hilfebedarf von 352 Minuten für gegeben erachtet (Körperpflege 85 Minuten, Ernährung 170 Minuten und Mobilität 97 Minuten), zuzüglich 45 Minuten täglich für hauswirtschaftliche Hilfeleistungen. Dabei hat das Sozialgericht sowohl den Hilfebedarf beim Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung im Zusammenhang des Schulbesuchs als auch die Hilfe beim Treppensteigen berücksichtigt. Den Hilfebedarf eines gleichaltrigen gesunden Kindes hat die Kammer mit 55 Minuten in Ansatz gebracht und ist darin dem Gutachter Dr. Stxxxxxx gefolgt.

Gegen dieses, ihr am 15.12.1997 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22.12.1997 Berufung eingelegt. Der vom Sozialgericht eingeschaltete Gutachter Dr. Stxxxxxx berücksichtige zu Unrecht täglich 21 Minuten für Mundpflege, 12 Minuten für Treppensteigen und 30 Minuten für Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung zwecks Schulbesuchs. Unter Abzug der daraus zu errechnenden 63 Minuten verbleibe es auch nach dem Sachverständigengutachten nur bei einem Hilfebedarf von täglich 264 Minuten. Hierbei sei allerdings noch fraglich, in welchem Zusammenhang das Gehen von 30 Minuten täglich berücksichtigt werde. Ferner sei für den Hilfebedarf eines gesunden gleichaltrigen Kindes 105 Minuten anzusetzen, so dass vorliegend maximal ein Mehrhilfebedarf von 159 Minuten verbleibe, welcher der Pflegestufe II entspreche. Das Sozialgericht habe Verrichtungen berücksichtigt, die weder nach Gesetz und Rechtsprechung noch nach den Begutachtungsrichtlinien pflegebezogen seien. Ein Hilfebedarf im Bereich des Gehens sei nicht nachvollziehbar, denn die Klägerin könne innerhalb der Wohnung gehen, wenn auch unsicher. Eine Anrechnung des Treppensteigens könne nicht erfolgen, da dieses nicht im Zusammenhang mit der Grundpflege, sondern mit der Behandlungspflege erforderlich sei. Es handele sich nämlich um krankengymnastische Übungen durch die Mutter im Obergeschoss des Hauses. Nach den Richtlinien sei zudem ein Hilfebedarf zum Aufsuchen von Behindertenwerkstätten, Schulen und Kindergärten nicht anzurechnen. Nach den Richtlinien habe ferner ein gesundes Kind von 6 Jahren einen täglichen Hilfebedarf von 1,75 Stunden = 105 Minuten. Soweit das Sozialgericht hierfür nur einen Hilfebedarf von 55 Minuten anerkenne, sei dies willkürlich, lebensfremd und nicht haltbar.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 03.12.1997 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und betont, seit dem Zeitpunkt der Antragstellung im Dezember 1994 habe es Entwicklungserfolge, aber auch Rückschläge gegeben. Darüber hinaus gebe es auch bei altersentsprechend entwickelten Kindern eine große Variationsbreite in der Selbständigkeit. Ihre eigene Situation sei geprägt von einer fast vollständigen Erblindung in Verbindung mit schwerster geistiger Behinderung und schweren motorischen Defiziten. Montags bis freitags sie ihre Versorgung durch den Schulbesuch von 7.45 bis 15.45 Uhr sichergestellt. Wegen eines täglichen Pflegebedarfs in der Schule verweist die Klägerin auf die der Beklagten von dort am 13.01.1998 übersandten Aufstellung ihres Klassenlehrers und des Rektors der Rxxxxxx-Schule. Die Einstufung ihres Vaters, der seit einem Unfall querschnittsgelähmt und Rollstuhlfahrer ohne Funktion der Finger sei, in die Pflegestufe II und ihrer Mutter, bei der das Behinderungsbild einer Contergan-Schädigung mit starker Verkürzung beider Arme und Deformierung der Hände vorliege, in die Pflegestufe I, könne keinen Einfluß auf das hier anhängige Verfahren haben. Eine ausreichende Versorgung aller Personen sei durch die vorgeschriebenen Überprüfungen durch eine Pflegeeinrichtung bestätigt worden. Sie hat (mit Schreiben vom 10.04.2000) ausführliche Tagesprotokolle über die Pflegeabläufe in der Zeit von Montag, dem 07.02. bis Sonntag, dem 13.02.2000, vorgelegt, auf die verwiesen wird.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 13.04.2000 hat der Senat den Vater der Klägerin ausdrücklich zur Situation der Klägerin und den derzeitigen Pflegeaufwand befragt. Wegen des Inhalts seiner Aussage wird die Sitzungsniederschrift in Bezug genommen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist teilweise - zu einem geringen Teil - begründet.

Zur Überzeugung des Senats ist der Anspruch der Klägerin auf Leistungen nach Pflegestufe III nicht schon ab Inkrafttreten der Pflegeversicherung am 01.04.1995, sondern erst ab dem 01.03.1996 erfüllt. Der nach § 15 Abs. 3 Ziffer 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) hierfür vorauszusetzende Grundpflegebedarf von im Tagesdurchschnitt mindestens vier Stunden (= 240 Minuten Grundpflege) ist erst ab dem 7. Geburtstag der Klägerin festzustellen. Denn der maßgebende gegenüber einem gesunden gleichaltrigem Kind ermittelte Mehraufwand an Hilfe beträgt bis zu diesem Zeitpunkt täglich 232 Minuten und liegt erst ab dem 21.02.1996 bei täglich 277 Minuten. Zu dieser Auffassung gelangt der Senat in Auswertung des gesamten Akteninhalts, insbesondere des Gutachtens des Arztes für Kinderheilkunde Dr. Stxxxxxxx vom 12.10.1997 und der Aufstellung des täglichen Pflegebedarfs für die Klägerin durch ihren Klassenlehrer und den Rektor der Rxxxxx-Schule aus Januar 1998, sowie der Angaben des Vaters der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 13.04.2000.

Das nach Hausbesuch am 23.09.1997 erstellte Gutachten des Arztes für Kinderheilkunde Dr. Stxxxxxx ist für den Senat - mit wenigen im folgenden dargelegten Ausnahmen - überzeugend und nachvollziehbar. Wenngleich es die Pflege- und Versorgungssituation der Klägerin nur zum Zeitpunkt der Untersuchung im September 1997 berücksichtigt, so hat sich der grundsätzliche Hilfebedarf der Klägerin bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nur unwesentlich geändert. Dies beruht auf der Tatsache, dass die Klägerin durch ihre multiplen Behinderungen, insbesondere die fast vollständige Erblindung und schweren motorischen Störungen, dauerhaft eingeschränkt ist. Dies hat der Sachverständige auch darin zum Ausdruck gebracht, dass er die Beweisfrage 17 dahingehend beantwortet hat, es handele sich um einen Dauerzustand. Eine Besserung im Sinne einer Verminderung des Pflegebedarfs sei nicht zu erwarten. Dieser werde eher weiter zunehmen. Dr. Stxxxxxx hat unter der Rubrik "sonstige Bemerkungen" zudem angeführt: "S. ist schwerst geistig behindert und kann die Folgen ihres Handelns in keiner Weise übersehen. Da sie völlig ungerichtet, jedoch mobil ist, entspricht dieser Zustand der besonderen Erschwernis der Gefahr der Selbstschädigung, Fremdgefährdung und fehlender Kooperativität." Zu besonderen Erschwernissen ist außerdem vermerkt, die Klägerin sei schwer verständlich, stumm aphasisch, stark sehgemindert, harn- und stuhlinkontinent. Diese Prognose deckt sich mit den Angaben des Vaters der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung, der Pflegeaufwand sei, was den zeitlichen Aufwand betreffe, heute ähnlich wie früher. Die Klägerin könne bis heute nicht richtig sprechen. Ihr Sprachverständnis beschränke sich auf ein oder zwei ungelenke Wortsätze, die ein Außenstehender kaum verstehen könne. Die Verständigung innerhalb der Familie reiche, gepaart mit der Erfahrung der anderen Familienangehörigen, nur aus, um gewisse Grundbedürfnisse zu artikulieren.

Der Senat folgt dem medizinischen Sachverständigen uneingeschränkt, sofern er im Anhang zu seinem Gutachten für folgende Verrichtungen die nachstehenden Zeitangaben gemacht hat:

für Körperpflege insgesamt 82 Minuten,

nämlich für Waschen 10 Minuten, Baden 17 Minuten (dreimal wöchentlich 2 Personen á 20 Minuten = 120: 7 = 17,42 Minuten), Zahnpflege (ohne Mundpflege) 9 Minuten, Kämmen 6 Minuten, Darm-/Blasenentlee rung 40 Minuten,

für Mobilität insgesamt 70 Minuten,

nämlich für Aufstehen 5 Minuten, Zu-Bett-Gehen 5 Minuten, Ankleiden 20 Minuten, Auskleiden 10 Minuten, Gehen 30 Minuten.

Die Beklagte hat somit Erfolg mit ihrem Einwand, dass die von Dr. Stxxxxxx und auch vom Sozialgericht in Ansatz gebrachte Zeit für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung zwecks Schulbesuchs von 15 Minuten nicht berücksichtigt werden darf. Der Senat schließt sich insofern der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts an, das ausdrücklich entschieden hat, die notwendige Begleitung eines pflegebedürftigen Kindes zur Schule zähle in der sozialen Pflegeversicherung nicht zum berücksichtigungsfähigen Pflegebedarf. Auch zu der Verrichtung im Bereich der Mobilität "Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung" (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI) zähle nur die Hilfe, die erforderlich ist, um ein Weiterleben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen (BSG, Urteil vom 05.08.1999 - B 3 P 1/99 R -, Breithaupt 2000, S. 281 ff; zur Veröffentlichung in Sozialrecht - SozR - 3 vorgesehen). Vorliegend kann ferner die vom Sachverständigen mit 12 Minuten in Ansatz gebrachte Hilfe beim Treppensteigen zum Obergeschoss nicht zum berücksichtigungsfähigen Pflegebedarf gerechnet werden. Denn die von der Mutter angeleiteten Übungen mit der Klägerin im Obergeschoß des Hauses haben weniger den Charakter einer verrichtungsbezogenen Anleitung. Sie fördern nicht so sehr die Mobilität und das subjektive Wohlergehen der Klägerin mit Blick auf konkrete Grundpflegeverichtungen im Sinne von § 14 SGB XI, sondern werden vielmehr unter dem Gesichtspunkt der medizinischen Rehabilitation durchgeführt. Dient die im häuslichen Bereich betriebene Krankengymnastik aber (überwiegend) einer für die Zukunft angestrebten Besserung des Gesundheitszustandes, so muß auch die hiermit im Zusammenhang stehende Hilfeleistung bei der Bemessung des Pflegebedarfs unberücksichtigt bleiben (BSG, Urteil vom 26.11.1998 - B 3 P 20/97 R - SozR 3-3300 § 14 SGB XI Nr. 9). Zudem weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass bei Ermittlung des Zeitaufwands die von Dr. Stxxxxxx angeführte Mundpflege nicht berücksichtigt werden kann. Dies hat aber auch das Sozialgericht nicht getan. Denn es hat von den im Gutachten insgesamt angegebenen 30 Minuten (nämlich 3 x 10 Minuten, davon 7 Minuten auf Mundpflege entfallend) insgesamt nur 9 Minuten angerechnet. Diesem Ansatz ist der Senat in der vorstehenden Aufstellung gefolgt. Der bereinigte Zeitaufwand laut vorstehender Aufstellung errechnet sich danach mit 262 Minuten. Diese Zahl korrespondiert mit dem im Gutachten angegebenen Gesamtbetrag für die Grundpflege in Höhe von 310 Minuten abzüglich 48 Minuten (21 für Mundpflege, 12 für Treppensteigen und 15 für Schulbesuch). Soweit das Gutachten des Dr. Stxxxxxx, für Ernährung insgesamt lediglich 110 Minuten ansetzt, nämlich 5 Minuten für mundgerechte Zubereitung und 105 Minuten für viermal Nahrungsaufnahme, er scheint dies dem Senat jedoch in Anbetracht der spezifischen Behinderung der Klägerin als nicht ausreichend. Der Sachverständige hat selbst unter der Rubrik "Untersuchungsbefund" festgehalten, für das Essen des einen Butterbrotes und Trinken eines halben Glases Milch würden ca. 20 Minuten gebraucht. Die Klägerin sei nämlich weiterhin nicht in der Lage, allein zu kauen. Die Mutter lege ihr kleine Stückchen des zerschnittenen Butterbrotes zwischen die Zähne und müsse die Klägerin teils verbal, teils durch Nachhelfen mit der eigenen Hand zum Kauen anregen. Das Trinken mit dem Strohhalm erfolge nur in sehr kleinen Schlucken. Auch in der Aufstellung des täglichen Pflegebedarfs in der Rxxxxx-Schule wird für ein kleines Frühstück mit einer Scheibe Brot und einem Becher Milch ein Zeitaufwand von 40 bis 60 Minuten angegeben und für eine kleine Zwischenmahlzeit mit Obst oder Joghurt und einem Becher Saft mit 10 bis 20 Minuten vermerkt. Die für den Senat glaubhaften Angaben in den Pflegeprotokollen weisen für das Trinken eines Bechers Saft mit Strohhalm 4 bis 6 Minuten aus, für das Abendessen mit einem Becher Saft 46 bis 59 Minuten. Der Senat hält es deshalb für angebracht, den täglichen Aufwand für Ernährung um insgesamt 75 Minuten aufzustocken. Er berücksichtigt dabei für vier Mahlzeiten jeweils 40 Minuten (= 160 Minuten) und für viermal Trinken jeweils 5 Minuten (= 20 Minuten). Für Ernährung sind danach insgesamt 185 Minuten anzusetzen. Dass der übliche Zeitkorridor von 15 bis 20 Minuten für Aufnahme der Nahrung je Hauptmahlzeit im vorliegenden Fall verlassen wird, beruht auf der - auch in den Gutachten des MDK von Frau S. und Frau Mxxx bzw. Frau Dr. Pxxxxxxxxxx nach Untersuchung im Mai und November 1995 bereits ausführlich beschriebenen - Störung der Mundsensibilität (mit der ständigen Notwendigkeit einer Aufforderung zu kauen und zu schlucken).

Der Senat sieht danach einen tatsächlichen Gesamtpflegeaufwand von täglich 337 Minuten als festgestellt an. Bei Kindern ist jedoch nicht der gesamte, sondern nur der zusätzliche Hilfebedarf (Mehrbedarf, Mehraufwand) gegenüber einem gesunden gleichaltrigem Kind maßgebend, § 15 Abs. 2 SGB X.

Nach den Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuchs (Begutachtungsrichtlinien), Stand August 1997, wird der Höchstbetrag an Hilfe, den ein gesundes altersentsprechend entwickeltes Kind im Alter von 3 bis 6 Jahren benötigt, mit 150 bis 105 Minuten und für die Altersstufe von 6 bis 12 Jahren mit 105 bis 0 Minuten angesetzt (siehe Seite 45). Fast alle entsprechend entwickelten gesunden Kinder beherrschten erfahrungsgemäß ab einem Alter von 7 Jahren selbständig die Körperwäsche, Zähneputzen, Kämmen und die mundgerechte Zubereitung der Nahrung. Ein Hilfebedarf bei der Aufnahme von Nahrung entfällt insofern bereits ab 3 Jahren, bei der Blasen- und Darmentleerung ab 6 Jahren und beim Treppensteigen ab 3,5 Jahren (a.a.O., Seite 44). Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Beklagten-Vertreter dem Senat eine Aufstellung von Zeitrichtwerten gesunder Kinder in den anzuerkennenden Verrichtungen, angelehnt an die Begutachtungsrichtlinien, Stand 15.01.1998, vorgelegt. Darin ist für sechsjährige Kinder ein durchschnittlicher täglicher Hilfebedarf von 105 Minuten, für sieben- bis achtjährige Kinder von 60 Minuten angesetzt. Diese letztgenannten Zeitrichtwerte legt der Senat seiner Entscheidung zugrunde. Auch der Ansatz eines Grundbedarfs von 105 Minuten für ein sechsjähriges Kind erscheint dem Senat hinnehmbar. Der gestufte Hilfebedarf rechtfertigt sich nach Auffassung des Senats nicht zuletzt durch den Entwicklungsschritt vom Kindergarten- zum Schulkind, der allgemein mit einer größeren Ausprägung von Selbständigkeit einhergeht. Dem Senat ist dabei bewußt, dass die in den Begutachtungsrichtlinien enthaltenen Erfahrungswerte nicht endgültig evaluiert sind. Er greift aber dennoch mangels besserer Erkenntnisse auf sie zurück (siehe BSG, Urteil vom 29.04.1999 - B 3 P 7/98 R - SozR 3-3300 § 14 SGB XI Nr. 10).

Unter Berücksichtigung eines Grundbedarfs eines gesunden, nicht behinderten Kindes im Alter von sechs Jahren von 105 Minuten, errechnet sich der behinderungsbedingte Mehrbedarf der Klägerin an Grundpflege (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1-3 SGB XI) vorliegend bis zum 21.02.1996 in Höhe von 232 Minuten (337 Minuten Gesamtbedarf abzüglich 105 Minuten Grundbedarf). Bei einem Ansatz von nur noch 60 Minuten Grundbedarf eines siebenjährigen Kindes erhöht sich der behinderungsbedingte Mehrbedarf der Klägerin im Bereich der Grundpflege ab ihrem 7. Geburtstag auf zunächst 277 Minuten (337 Minuten Gesamtbedarf abzüglich 60 Minuten Grundbedarf).

Dementsprechend war das sozialgerichtliche Urteil abzuändern soweit die Beklagte darin verurteilt worden ist, der Klägerin Leistungen nach der Pflegestufe III bereits ab 01.04.1995 zu gewähren. Die Klage war insofern abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und trägt dem weit überwiegenden Obsiegen der Klägerin Rechnung.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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