S 3 RJ 80/93

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 3 RJ 80/93
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Anerkennung von Zeiten der Zwangsarbeit als Beitragszeit
Bei einer im Ghetto verrichteten Tätigkeit kann dahingestellt bleiben, ob es sich um ein sogenanntes "freies" Beschäftigungsverhältnis oder um Zwangsarbeit gehandelt hat. Auf Grund des nationalsozialistischen Unrechtes ist eine etwaig daraus herrührende, die freie Willensbildung ausschließende Zwangssituation unbeachtlich und lediglich danach zu fragen, ob eine Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert ausgeübt wurde, die unter Hinwegdenken des nationalsozialistischen Unrechtsregimes in einer zivilisierten, auf den freien Austausch von Arbeitsleistung und Lohn basierenden Wirtschaftsordnung auf Grund einer Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber verrichtet worden wäre.
Etwaig unterbliebene Entlohnung und Beitragsentrichtung sind dann zu fingieren.
Tatbestand:

Die Beteiligten streiten sich um die Gewährung bzw. Berechnung des Altersruhegeldes unter Anerkennung von Fremdrentenzeiten und Kindererziehungszeiten (KEZ).

Die nach eigenen Angaben 1922 in Bendzin, Polen, geborene Klägerin ist israelische Staatsangehörige und anerkannte Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG).

Im Entschädigungsverfahren war ihr (u.a.) mit Bescheid vom 16.12.1957 eine Haftentschädigung nach den §§ 43 ff. BEG für die Zeit von Januar 1940 bis zum 08. Mai 1945 (64 Monate) gewährt worden.

Die Klägerin hatte im Entschädigungsverfahren in einem Antrag vom 09.06.1954 ihren erlernten Beruf mit "Schneiderin" angegeben. In schriftlichen Erklärungen der Klägerin vom 28.06. und 15.09.1955 ist angegeben, dass sie zusammen mit zwei Brüdern zu einem Drittel Inhaberin eines Schuhgeschäftes bzw. Schuhgrosshandelsgeschäftes mit drei Angestellten gewesen sei. Ab Februar 1940 - so Angaben der Klägerin in einem Antrag vom 01.02.1950 - habe sie sich bis Juni 1943 im Ghetto Bendzin befunden und dort im Schneidershop von Rosner gearbeitet.

Die Klägerin ist Mutter von vier Kindern und zwar 1. A., geboren 1946, 2. M., geboren 1943 und verstorben August oder September 1943, 3. J,. geboren 195,1 und 4. T,. geboren 1953.

Im März 1986 und im Februar 1987 beantragte die Klägerin die Anerkennung von KEZ bezüglich des 1., 3. und 4. Kindes bzw. die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres.

Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 15.09.1996 eine KEZ bezüglich des 1. Kindes für die Zeit vom 01.11.1946 bis 31.10.1947 fest und lehnte die Feststellung von KEZ bezüglich des 3. und 4. Kindes ab.

Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein und brachte außerdem vor, es sei ein weiteres - ihr 2. 1943 geborenes Kind M. - zu berücksichtigen, das im August oder September 1943 verstorben sei. Sie selbst sei im Juni 1943 in ein Lager Röhrdorf verbracht worden und habe das Kind bei ihrer Schwiegermutter in Bendzin versteckt zurückgelassen.

In einem von der Klägerin unter dem 23.03.1987 unterzeichneten Antragsvordruck ist die Frage nach der Entrichtung von Beiträgen nach der reichsgesetzlichen Rentenversicherung in den eingegliederten Ostgebieten verneint worden und in einem von der Klägerin unter dem 22.06.1987 unterzeichneten Fragebogen zur Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ist (u.a.) zur Schulbildung angegeben: "Bis 1936 Staatliche Volksschule, 1936 bis 1938 private Buchhalterei".

Anläßlich einer Sprachprüfung vor dem Israelischen Finanzministerium gab die Klägerin nach dem Sprachprüfungsprotokoll vom 16.03.1988 an, bis 1936 die Volksschule besucht und bis zur Verfolgung in Bendzin gelebt und Buchhaltung in Sosnowitz gelernt zu haben. Der Vater habe anfänglich ein Lebensmittelgeschäft, später ein Geschäft für Leder und Schuhe en gros betrieben.

Mit Bescheid vom 18.05.1988 lehnte die Beklagte die Anerkennung von Beitrags- und Beschäftigungszeiten nach dem FRG für die Zeit von Juni 1939 bis Mai 1945 ab, weil die Klägerin ihre Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht glaubhaft gemacht habe und in Ergänzung dieses Bescheides lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 08.07.1988 die Anerkennung einer KEZ bezüglich des 2. Kindes mangels der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ab. Mit Bescheid vom 17.10.1988 wurde dann neben der bereits anerkannten KEZ bezüglich des 1. Kindes auch eine KEZ bezüglich des 2. Kindes für die Zeit vom 01.05.1943 bis zum 22.06.1943 anerkannt, darüber hinausgehende KEZ bezüglich des 2., 3. und 4. Kindes weiter abgelehnt.

Die Beklagte wies die gegen die Bescheide vom 17.09.1986, 18.05., 08.07. und 17.10.1988 eingelegten Widersprüche mit Widerspruchsbescheid vom 03.11.1988 als unbegründet zurück.

Wegen den Einzelheiten der Begründung wird auf die Ausführungen des Widerspruchsbescheides vom 03.11.1988 (Blatt 165 ff. der Verwaltungsakte der Beklagten) Bezug genommen.

Hiergegen hat die Klägerin unter dem Az.: S 3 J 1001/89 Klage erhoben. Das Verfahren wurde mit Beschluss vom 12.09.1989 ruhend gestellt und unter dem Az.: S 3 J 81/93 wieder aufgenommen.

Mit Bescheid vom 28.11.1988 bewilligte die Beklagte der Klägerin Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab dem 01. August 1987 und lehnte mit Bescheid vom 22.01.1991 die Überprüfung dieses Bescheides ab, weil die Klägerin auch nach § 17a FRG i.d.F. des Rentenreformgesetzes 1992 nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehöre und deswegen weder Beitrags- noch Beschäftigungs- oder Ersatzzeiten berücksichtigt werden könnten. Im übrigen seien auch keine nach § 17 Abs. 1b FRG anrechenbare Beitragszeiten in den eingegliederten Gebieten zurückgelegt worden, denn aus den Angaben der Klägerin im Entschädigungsverfahren gehe hervor, dass sie Inhaberin eines Schuhgeschäftes gewesen sei. Selbständige hätten jedoch nicht der polnischen Rentenversicherung unterlegen.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein und brachte dann mit Schriftsatz vom 16.04.1992 vor, dass sie nach Ende der Schulzeit eine Schneiderlehre absolviert habe. Als Schneiderin habe sie dann während der Verfolgung zwischen Mai 1940 und April 1943 im Shop Rosner in Bendzin gearbeitet, in dem Uniformen für die Wehrmacht hergestellt worden seien.

Dann brachte die Klägerin mit Schriftsatz vom 11.11.1992 vor, sie habe nie gesagt, sie hätte eine Schneiderlehre durchgemacht. Vor dem Krieg habe sie keine Nadel gerade halten können. Zutreffend sei, daß sie bei den Eltern angestellt gewesen sei.

Die Beklagte wies die gegen den Bescheid vom 28.11.1988 und den Bescheid vom 22.01.1991 eingelegten Widersprüche mit Widerspruchsbescheid vom 04.05.1993 als unbegründet zurück.

Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf die Ausführungen des Widerspruchsbescheides vom 04.05.1993 (Blatt 214 ff. der Verwaltungsakte der Beklagten) Bezug genommen.

Hiergegen hat die Klägerin unter dem Az.: S 3 J 80/93 Klage erhoben.

Die Streitverfahren S 3 J 80/93 und S 3 J 81/93 wurden mit Beschluss vom 01.07.1993 zur gemeinsamen Entscheidung und Verhandlung verbunden.

Zur Begründung der Klage bringt die Klägerin vor, dass bezüglich des 2. Kindes, geboren 1943, KEZ in voller Höhe von 12 Monaten anzuerkennen seien, weil die damalige Verfolgungssituation dafür verantwortlich gewesen sei, dass sie das Kind ab 1943 nicht mehr habe selbst erziehen können. KEZ bezüglich des 3. und 4. Kindes würden nicht mehr geltend gemacht.

Außerdem habe sie in der Zeit von Mai 1940 bis April 1943 im Shop Rosner im Ghetto Bendzin gegen ein Entgelt gearbeitet.

Schließlich sei eine Ersatzzeit von Oktober oder November 1939 bis zum 08. Mai 1945 sowie Beitragszeiten aus einer Vorkriegsbeschäftigung - die sie als solche ebenfalls hinreichend glaubhaft gemacht habe - zu berücksichtigen.

Mit Bescheid vom 24.02.1997 lehnte die Beklagte auf einen Überprüfungsantrag der Klägerin hin die Neuberechnung des Altersruhegeldes unter Berücksichtigung von Ersatzzeiten nach § 250 SGB VI ab.

Die Klägerin und ihr Bevollmächtigter wurden mit Empfangsbekenntnis vom 24.07.1998 ordnungsgemäß vom Termin benachrichtigt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß schriftsätzlich,

ihr unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide Altersruhegeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen unter Anerkennung aller geltend gemachten Fremdrentenzeiten und sämtlicher Kindererziehungszeiten (KEZ) zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen ihrer angefochtenen Bescheide und bringt ergänzend vor, dass es zwar glaubhaft sei, dass die Klägerin in der Zeit von Februar 1940 bis Juni 1943 im Shop Rosner im Ghetto Bendzin zur Arbeit eingesetzt worden sei. Hierbei habe es sich jedoch um eine Zwangsarbeit gehandelt für die im übrigen auch keine Beiträge zur Rentenversicherung abgeführt worden seien.

Das Gericht hat Entschädigungsakten bezüglich der Klägerin beigezogen vom Ausgleichsamt Bremen und von der Bayerischen Landesentschädigungs- und Staatsschuldenverwaltung. Auf den Inhalt der beigezogenen Entschädigungsakten wird Bezug genommen.

Weiter wurde ein geschichtswissenschaftliches Gutachten von A. B. vom 25.07.1997, erstattet in dem Rechtsstreit des Sozialgerichts Düsseldorf Az.: S 4 (3) J 105/93 beigezogen, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streit- und beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die darin befindlichen gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte in dem Rechtsstreit auch in Abwesenheit der Klägerin und ihres Bevollmächtigten entscheiden, weil hierauf mit der ordnungsgemäß zugestellten Terminsmitteilung hingewiesen wurde (§§ 124 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die Klage ist zum Teil begründet, im übrigen unbegründet. Die Klägerin ist durch den Bescheid vom 28.11.1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.05.1993 - die alleine zusammen mit dem Bescheid vom 24.02.1997 nach gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) noch Gegenstand des Verfahrens sind - zum Teil im tenorierten Umfange im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG beschwert. Denn die Beklagte hat damit rechtswidrig die Berechnung des Altersruhegeldes unter Berücksichtigung einer Beitragszeit von Mai 1940 bis April 1943 sowie einer Ersatzzeit für Januar 1940 und der Zeit von Mai 1943 bis zum 08.05.1945 abgelehnt.

Der Anspruch der Klägerin auf Berechnung des Altersruhegeldes unter Berücksichtigung der von der Klägerin geltend gemachten Beitragszeit richtet sich noch nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der am 31.12.1991 geltenden Fassung, weil der Rentenantrag bereits im Februar 1987 gestellt wurde und sich auch auf die Zeit vor dem 01.01.1992 bezieht (§ 300 Abs. 1 SGB VI).

Gemäß § 1248 Abs. 5 und Abs. 7 RVO (bzgl. der Klägerin i.V.m. Art. 4 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staate Israel über die soziale Sicherheit - DISVA- vom 17.12.1973 - BGBl. II, 246- i.d.F. des Änderungsabkommens vom 07.01.1986 - BGBl. II, 863 - trotz des Auslandaufenthaltes anwendbar) erhält der Versicherte Altersruhegeld, der das 65. Lebensjahr - wie hier unstreitig die Klägerin - vollendet und die Wartezeit mit einer Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat.

Die Klägerin hat eine Versicherungszeit von mehr als 60 Kalendermonaten sowohl durch eine glaubhaft gemachte - fiktive - Beitragszeit als auch einer Ersatzzeit für Januar bis April 1940 und von Mai 1943 bis zum 08.05.1945 gemäß §§ 1250, 1251 RVO (i.V.m. den §§ 10 VuVO, 3, 14 Abs. 2 WGSVG, 300 Abs. 2 SGB VI) sowie durch die von der Beklagten anerkannten Kindererziehungszeiten (KEZ - vgl. § 1251a RVO) zurückgelegt.

Streitig ist zwischen den Beteiligten zunächst die Zurücklegung einer Beitragszeit für die Zeit von Mai 1940 bis April 1943, wobei zwischen den Beteiligten die von der Klägerin in dieser Zeit ausgeübte Tätigkeit als Schneiderin - und wovon auch die Kammer nach den vorliegenden Unterlagen ausgeht - unstreitig ist.

Nach § 1250 Abs. 1 Buchstaben a und b RVO sind anrechnungsfähige Versicherungszeiten u.a. Zeiten, für die nach Bundesrecht oder früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung Beiträge wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten.

Im Bereich von Bendzin galt nach der Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den der Provinz Schlesien eingegliederten ehemals polnischen Gebieten vom 16.01.1940 (RGBl. I, 196 - Schlesien VO, bzw. der Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den eingegliederten Ostgebieten vom 22.12.1941 - RGBl. I, 777 - Ostgebiets VO i.V.m. dem Erlaß des Reichsarbeitsministers vom 13.03.1943 betreffend die Behandlung von Juden in der Reichsversicherung in den eingegliederten Ostgebieten- RGVl. II, 126) ab dem 01.01.1940 die Reichsversicherungsordnung.

Die Klägerin hat in der Zeit von Mai 1940 bis April 1943 in diesem Sinne der RVO eine Beitragszeit zurückgelegt.

Eine Beitragszeit wird von den in der Rentenversicherung der Arbeiter versicherten Personen zurückgelegt (vgl. 1226 Abs. 1 RVO a.F. bzw. 1227 Abs. 1 RVO in der bis zum 31.12.1991 geltenden Fassung).

Unter "Arbeiter" war nach dem damaligen Recht eine Person zu verstehen, die in der desselben Bedeutung beschäftigt und aufgrund dieser Beschäftigung pflichtversichert war wie eine Person, die im Sinne der Nachfolgevorschrift des § 1227 Abs. 1 RVO als Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigt war, d.h., nichtselbständige Arbeit i.S.v. § 7 SGB IV verrichtete. Ein Beschäftigungsverhältnis als Arbeitnehmer wird nach allgemeiner Definition zur Bestimmung des in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversicherten Personenkreises darin gesehen, dass unter der Fremdbestimmtheit durch einen Arbeitgeber eine Arbeit als eine auf ein wirtschaftliches Ziel gerichtete planmäßige Tätigkeit eines Menschen aufgrund einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgeübt wird. Die Beweggründe, die jemanden zu der Aufnahme einer Beschäftigung veranlaßt, sollen keine Rolle für die Frage spielen, ob eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt. Zustande kommt das Arbeits/Beschäftigungsverhältnis durch eine Vereinbarung zwischen den Beteiligten, wobei typisch ist, dass auf beiden Seiten jeweils eigene Entschlüsse zur Beschäftigung vorliegen, die nach dem Modell der Erklärungen bei einem Vertragsabschluss geäußert werden (vgl. hierzu BSG v. 18.06.1997, Az.: 5 RJ 68/95).

Es kann hier im Ergebnis dahingestellt bleiben, ob bzgl. der von der Klägerin zwischen Mai 1940 und April 1943 - als solche glaubhaft und zwischen den Beteiligten unstreitig - ausgeübten Beschäftigung als Schneiderin im Shop Rosner im Ghetto Bendzin ein Beschäftigungsverhältnis in diesem Sinne überhaupt vorliegt oder ob es sich um ein sogenanntes unfreies Beschäftigungsverhältnis (Zwangsarbeit) gehandelt hat. Denn selbst wenn kein Beschäftigungsverhältnis im eben dargestellten Sinne vorgelegen haben sollte, steht dies der Annahme einer Beitragszeit im Sinne von § 1226 Abs. 1 RVO a.F. bzw. § 1227 Abs. 1 RVO in der bis zum 31.12.1991 geltenden Fassung nicht entgegen.

Denn nach Ansicht der Kammer kann auf diese von der Klägerin ausgeübten Beschäftigung die eben skizzierte Definition eines grundsätzlich versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nicht angewendet werden (so aber noch BSG v. 18.06.1997, Az.: 5 RJ 68/95). Dieses auch durch die Rechtsprechung entwickelte Verständnis des Begriffes des Beschäftigungsverhältnisses beruht auf einer Wirtschaftsverfassung, die auf dem freien Austausch von Arbeitsleistung und Lohn basiert (vgl. Pawlita, Zeitschrift für Sozialreform 1998, 1 ff.; ders. Die Sozialversicherung 1998, 90 ff.; ders. Die Sozialversicherung 1997, 431 f.). Ist jedoch eine solche Wirtschaftsverfassung wie durch die nationalsozialistische Herrschaftsordnung, ein Terrorsystem der unbeschränkten Willkür und Gestalt und eine insbesondere durch die rassistische, auf Vernichtung der Juden gerichtet, antisemitische Ideologie (vgl. dazu Benz/Graml/Weiß, Enzyklopädie des Nationalsozialismus, S. 11 ff., 50 ff., 365 f., 739, 772), für Personen eines bestimmten Bekenntnisses - wie hier die Klägerin als Jüdin - praktisch nicht mehr existent, so kann auch die daraus resultierende Definition des Begriffes des Beschäftigungsverhältnisses kein geeignetes Kriterium mehr sein, die Versicherungspflicht einer unstreitig ausgeübten Tätigkeit zu bestimmen. Denn gerade das Festhalten an einer solchen Definition des Begriffes des Beschäftigungsverhältnisses bezgl. der hier wie die Klägerin betroffenen Personen, die unter der dirigistischen Arbeitskräftelenkung und Ausbeutung der Arbeitskraft (vgl. hierzu Lampert, Staatliche Sozialpolitik im Dritten Reich in Bracher/Funke/Jacobsen, Nationalsozialistische Diktatur 1933 - 1945, S. 177 ff.) unter menschenunwürdigen Bedingungen durch das NS-Regime gelitten haben, hieße, das ihnen durch das NS-Regime zugefügte Unrecht auch in der Rentenversicherung fortzuschreiben. Die Ausbeutung der Arbeitskraft der Juden beruht aber erkennbar auf den willkürlichen und rassenideologischen Überlegungen des NS-Regimes und verstößt schon selbst gegen fundamentale Prinzipien der Gerechtigkeit und stellt evidentes Unrecht dar. Es ist diesbezüglich nur darauf hingewiesen, dass die Organisation und Durchführung der massenweisen Zwangsarbeit neben den Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Hauptanklagepunkt in den Nürnberger Prozessen war (vgl. Art. 6 Buchst. B und Buchst. C des Status für den Internationalen Militärgerichtshof). Die Fortwirkung dieses Unrechts in unsere Rechtsordnung durch das Festhalten an einer bestimmten Definition ist jedoch nicht hinnehmbar (vgl. hierzu auch BSG SozR 3 3100 § 1 Nr. 3 und 5).

Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass dann, wenn, wie durch nationalsozialistische Herrschaftsordnung, Erwerbsarbeit zumindest für bestimmte Bevölkerungsgruppen massenhaft staatlicher Herrschaft und Willkür unterworfen wird, für diese Gruppen dem Sozialversicherungsrecht jedenfalls dann die Grundlage entzogen wird, wenn nicht für die von diesen Gruppen ausgeübten Tätigkeiten zumindest Beitragszeiten fingiert werden. Schließlich diente den Juden die von ihnen ausgeübte Tätigkeit unabhängig davon, wie sie zustande kam, nicht nur der Sicherung der Lebensgrundlage alleine, sondern um der "Vernichtung" zu entgehen, dem Erhalt des Lebens schlechthin.

Auch kann nicht unberücksichtigt gelassen werden, dass die Arbeit der jüdischen Arbeitskräfte faktisch und auch von nationalsozialistischen Machthabern gewollt, Teil der Volkswirtschaft und damit Bestandteil des Wirtschaftssystems des Nationalsozialismusses waren.

Es ist daher im Ergebnis in den wie hier betroffenen Fällen allenfalls zu fragen, ob eine planmäßige, auf ein wirtschaftliches Ziel gerichtete Tätigkeit verrichtet wurde, die unter Hinwegdenken des nationalsozialistischen Unrechts in zivilisierten Gesellschaften aufgrund einer Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ausgeübt werden würde bzw. worden wäre.

Dies kann im Falle der Klägerin für die von Mai 1940 bis April 1943 verrichtete Tätigkeit aber in keiner Weise in Abrede gestellt werden.

Es kann hier weiter dahingestellt bleiben, ob die Klägerin für die von ihr verrichtete Tätigkeit ein Entgelt erhalten hat oder nicht.

Denn aus den oben genannten Gründen kann für die Prüfung, ob Versicherungspflicht vorgelegen hat oder nicht, im Ergebnis auch nicht mehr darauf abgestellt werden, ob tatsächlich ein Entgelt in nicht nur geringfügigem Umfang für die geleistete Arbeit gezahlt wurde. Denn die Verneinung eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses in dem Falle, dass von den nationalsozialistischen Machthabern trotz der Ausbeutung der Arbeitskraft der betroffenen Personen kein Entgelt "für" die geleistete Arbeit gezahlt worden ist, hieße ebenfalls, nationalsozialistisches Unrecht, welches gegen fundamentale Prinzipien der Gerechtigkeit verstoßen hat und fundamentales Unrecht darstellte, in der Rentenversicherung fortzuschreiben. Schließlich bestand die o.a. Definition des Begriffes eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses bzw. die durch § 1226 a.F. RVO vorgenommene Umschreibung der in der Rentenversicherung versicherten Personen schon zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft. Die nationalsozialistischen Machthaber würden also mit dem Wissen um die bestehende Rechtslage mit Wirkung selbst in unsere heutige Zeit im Ergebnis die Möglichkeit zugesprochen werden, bestimmte Bevölkerungsgruppen alleine dadurch von der gesetzlichen Rentenversicherung ausschließen, dass diese Gruppen für die von dem einzelnen geleistete Tätigkeit kein Entgelt gezahlt wurde. Dies könnte nach Ansicht der Kammer aber ebenfalls nicht mehr hingenommen werden. Denn nur so kann verhindert werden, dass sich nationalsozialistisches Unrecht in der Anwendung des heute geltenden Rentenversicherungsrechtes fortsetzt. Die Personen, die im Ergebnis für ihre geleistete Arbeit tatsächlich als Ausfluss des nationalsozialistischen Unrechts - woran die Kammer im Falle der Klägerin keinen Zweifel hätte - keine Entlohnung für die geleistete Arbeit erhalten haben, sind von daher im Ergebnis so zu stellen, als sei diese Tätigkeit entlohnt worden (vgl. BSGE 25, 217). Dies gebietet schon der Wiedergutmachungsgedanke sowie die Notwendigkeit, eine eben noch mögliche Lösung zu wählen, die dazu führt, das verursachte Unrecht soweit wie möglich auszugleichen (vgl. BSGE 10, 113, 116 und 13, 67, 71). Auch ist unter Berücksichtigung des auch im Sozialversicherungsrecht geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BSG) eine solche Annahme begründet.

Im übrigen würde ein anderes Verständnis der Beurteilung der hier vorliegenden Beschäftigungen im Ergebnis dazu führen, dass mit Zunahme der Verfolgungsintensität die Annahme einer Beitragszeit ausscheidet und die Verfolgten im Rentenrecht um so schlechter gestellt würden, je schlechter ihre damalige Situation und Lebenslage auch in bezug auf die Umstände der Durchführung ihrer Arbeit gewesen ist (vgl. etwa zum Ghetto Lodz und den aus einer dort ausgeübten Tätigkeit resultierenden Rentenansprüche BSG vom 18.06.1997, Az.: 5 RJ 68/95). Unter Berücksichtigung der jeweiligen Lebensumstände erscheint auch dies der Kammer als eine durch nichts zu rechtfertigende Ungleichbehandlung als Folge der ansonsten erfolgenden Fortschreibung des nationalsozialistischen Unrechts.

Der Ansicht der Kammer kann im Ergebnis auch nicht entgegengehalten haben, die, wie hier die Klägerin, betroffenen Personen hätten bereits eine Entschädigung nach Wiedergutmachungsvorschriften erhalten. Denn das Entschädigungsrecht erfaßt gerade sozialversicherungsrechtliche Schäden nicht (§ 5 Abs. 1 BEG). Auch die vom Gesetzgeber vorgesehenen Ersatzzeittatbestände (vgl. § 1251 RVO bzw. 250 SGB VI) beseitigen das von den Betroffenen erlittene Unrecht nicht vollständig, denn sie erfassen nicht den sozialversicherungsrechtlich relevanten Grundtatbestand der Arbeit bzw. Beschäftigung selbst und setzen zur rentenversicherungsrechtlichen Auswirkung eine Vor- oder Nachversicherung voraus (vgl. § 1251 Abs. 2 RVO). Dies führt aber dazu, dass in den Fällen, in denen eine solche Vor- oder Nachversicherung nicht besteht, der Ersatzzeittatbestand und damit auch die von den Betroffenen neben dem Ersatzzeitgrundtatbestand - Krankheit, Arbeitslosigkeit, Auslandsaufenthalt und Freiheitsentziehung - geleistete Arbeit im Ergebnis rentenversicherungsrechtlich fruchtlos bleibt.

Im übrigen unterscheiden sich die hier zu beurteilenden Verhältnisse grundlegend von den besonderen (öffentlich-rechtlichen) Gewaltverhältnissen, die in demokratischen Gesellschaften auf entsprechender rechtsstaatlicher Grundlage beruhen. Denn hier haben gerade eben keine demokratischen, rechtsstaatlichen Verhältnisse vorgelegen.

Schließlich kann es hier im Ergebnis dahingestellt bleiben, ob Sozialversicherungsbeiträge tatsächlich an einen deutschen Träger der Rentenversicherung entrichtet wurden.

Denn die Beitragsentrichtung ist, falls sie unterblieben sein sollte, nach § 14 Abs. 2 WGSVG zu fingieren, weil sie in diesem Falle aus verfolgungsbedingten Gründen unterblieben ist. Die Klägerin ist anerkannte Verfolgte des Nationalsozialismus und erfüllt damit die Voraussetzungen des § 1 WGSVG. Da die Klägerin nach den eben gemachten Ausführungen ein dem Grunde nach sozialversicherungspflichtiges Arbeits- bzw. Beschäftigungsverhältnis ausgeübt hat, liegen die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 WGSVG vor, denn dies entspricht dem Ziel des Gesetzgebers bei Erlaß des WGSVG, das Recht der Wiedergutmachung so zu verbessern, dass den Sozialversicherten ein voller Ausgleich des Schadens ermöglicht wird, den sie durch Verfolgungsmaßnahmen in ihren Ansprüchen und Anwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung erlitten haben.

Da somit nach alledem eine Beitragszeit für die Zeit von Mai 1940 bis April 1943 bei der Berechnung des Altersruhegeldes zu berücksichtigen ist, ist auch eine Ersatzzeit für Januar bis April 1940 und von Mai 1943 bis zum 08.05.1945 für die von der Klägerin nach dem Inhalt der Entschädigungsakten erlittenen Freiheitsentziehung - hierzu wird auf den Bescheid vom 16.12.1957 des Bayerischen Landesentschädigungsamtes Bezug genommen - gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO i.V.m. § 1251 Abs. 2 RVO bei der Berechnung des Altersruhegeldes zu berücksichtigen.

Die Klage ist soweit mit ihr die Berücksichtigung einer weiteren Ersatzzeit für die Zeit von Oktober bzw. November bis Dezember 1939, einer Kindererziehungszeit ab dem 23.06.1943 bis zum 30.04.1944 und weiterer Fremdrentenzeiten aus einer Vorkriegsbeschäftigung geltend gemacht werden, unbegründet.

Denn für die Anerkennung der eben genannten Ersatzzeit liegen weder Anhaltspunkte aus dem Inhalt der vorliegenden Akten vor, noch sind von der Klägerin dazu überhaupt substantiiert Tatsachen vorgetragen worden.

Dies gilt auch für die von der Klägerin geltend gemachten Fremdrentenzeiten aus einer Vorkriegsbeschäftigung in Bendzin, die hier ebenfalls nach den §§ 17 Abs. 1b, 15, 16 FRG für die Zeit bis zum 31.12.1939 berücksichtigt werden könnten.

Die Klägerin hat dementsprechende Beitrags- oder Beschäftigungszeiten weder im Rentenverfahren und schon gar nicht im Klageverfahren - trotz entsprechender Aufforderungen des Gerichts - hinreichend dargetan - diesbezüglich wird auf die Darstellung der widersprüchlichen Angaben der Klägerin im Tatbestand zwecks Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen - und damit auch nicht glaubhaft gemacht (§ 4 FRG).

Auch die von der Klägerin weiter geltend gemachte Kindererziehungszeit vom 23.06.1943 bis zum 30.04.1944 ist bei der Berechnung des Altersruhegeldes nicht zu berücksichtigen, weil sie das 1943 geborene Kind nach eigenen Angaben in diesem Zeitraum nicht selbst erzogen hat und dieses Kind nach Angaben der Klägerin auch schon im August oder September 1943 verstorben sein soll (§ 1251 a RVO).

Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 183, 193 SGG.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und wegen der Abweichung des Urteils von Entscheidungen des Bundessozialgerichts ist die Sprungrevision zugelassen worden (§§ 161, 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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