S 15 RJ 142/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
15
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 15 RJ 142/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28. Oktober 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 1998 verurteilt, der Klägerin Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab 1. Januar 1986 unter Berücksichtigung der Zeiten von Juni 1940 bis Mai 1942 als glaubhaft gemachte (fiktive) Beitragszeiten und (soweit die einzelnen Monate nicht mit Beitragszeiten belegt sind) der Zeiten von November 1939 bis zum 15. April 1945 als Ersatzzeiten zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Rheinprovinz die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres nach 1248 Abs. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Umstritten ist insbesondere, ob die Arbeitszeiten der Klägerin in Przystajn (Kreis Blachstädt (Blachownia); Ostoberschlesien; Provinz Oberschlesien) als Beitragszeiten anzuerkennen sind.

Die Klägerin wurde am 20. Juli 1918 in Przystajn als Kind jüdischer Eltern geboren und besaß damals die polnische Staatsangehörigkeit. Ab November 1939 hat sie den Judenstern tragen müssen und lebte seit Ende 1939 im jüdischen Wohnbezirk von Przystajn. Von Juni 1940 bis Mai 1942 wurde sie in Przystajn zu Arbeiten bei der Gendarmerie (Aufräumarbeiten, Wascharbeiten) herangezogen. Anschließend wurde sie bis zur ihrer Befreiung am 15. April 1945 in das Durchgangslager Sosnowitz, in die Zwangsarbeitslager Grünberg und Neusalz und in die Konzentrationslager Flossenbürg und Bergen-Belsen deportiert. Nach ihrer Befreiung hielt sich die Klägerin im Lager für Displaced Persons (DP) Bergen-Belsen auf und wanderte im Juli 1947 nach Palästina aus. Sie besitzt nunmehr die israelische Staatsangehörigkeit.

Die Klägerin ist als Verfolgte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Sinne von 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt. Im Rahmen des Entschädigungsverfahrens nach dem BEG gewährte ihr die zuständige Entschädigungsbehörde Entschädigung für Schaden an Freiheit; die Klägerin bezieht eine monatliche Entschädigung für Schaden an Körper oder Gesundheit.

Am 27. September 1990 beantragte die Klägerin bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres, die den Vorgang im Mai 1991 zuständigkeitshalber an die Beklagte abgab. Die Klägerin übersandte der Beklagten Zeugenerklärungen der M vom 27. Juni 1991 und der S vom 11. September 1991, auf deren Inhalt Bezug genommen wird (vgl. Blatt 58 und 59 der Verwaltungsakte).

Mit Bescheid vom 28. Oktober 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 1998 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab. Zur Begründung führte sie aus: Für die Klägerin seien keine für die Wartezeit anrechenbaren Zeiten vorhanden. Soweit im Fall der Klägerin während des Ghettoaufenthaltes deutsches Recht gegolten habe, habe keine Versicherungspflicht bestanden. Nach dem damaligen deutschen Besatzungsrecht seien die Ghettobewohner zur Arbeit innerhalb bzw außerhalb der Ghettos verpflichtet gewesen. Deshalb seien die von den Ghettobewohnern verrichteten Arbeiten sowohl von den Betroffenen selbst in ihren Entschädigungsverfahren als auch in Literatur und Rechtsprechung zutreffend als Zwangsarbeiten ohne Entlohnung bezeichnet worden. Derartige Arbeiten hätten seinerzeit auch dann nicht der Versicherungspflicht unterlegen, wenn hierfür Lebensmittel, Prämien oder Ghettogeld gewährt worden sei. Dementsprechend ließen sich bei den Versicherungsträgern oder anderen Stellen auch keine Nachweise bzw. Anhaltspunkte für eine Beitragsentrichtung finden. Eine solche sei während der jahrzehntelangen Praxis bisher auch in keinem einzigen Fall bewiesen. Eine Beitragsfiktion bei Zwangsarbeiten komme nicht in Betracht, weil kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bestanden habe und eine Beitragsentrichtung nicht wegen konkreter, individuell gegen den Arbeitgeber bzw. Arbeitnehmer gerichteter Verfolgungsmaßnahmen unterblieben sei. Zeiten des Ghettoaufenthalts seien Ersatzzeittatbestände nach 1251 Abs ... 1 Nr. 4 RVO. Eine Anrechnung von Ersatzzeiten zur Wartezeiterfüllung setze jedoch die Anerkennung von Beitragszeiten oder von Beschäftigungszeiten voraus und sei deshalb im Falle der Klägerin nicht möglich. Auf die weiteren Gründe wird Bezug genommen (vgl. Blatt 90 bis 92, 156 und 157 der Verwaltungsakte).

Mit ihrer am 17. Juli 1998 zum Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie ist der Auffassung, die in der Zeit von Juni 1940 bis Mai 1942 in Przystajn verrichtete Tätigkeiten, für die sie ein Entgelt erhalten habe, seien als Beitragszeiten anzuerkennen. Es habe sich um eine abhängige Beschäftigung gegen Entgelt gehandelt. Wegen des weiteren Vorbringens der Klägerin wird auf den Schriftsatz vom 15. Juli 1998 (vgl. Blatt 1 bis 13 der Gerichtsakte) Bezug genommen.

Entsprechend ihrem Vorbringen beantragt die Klägerin schriftsätzlich,

den Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab 1. Januar 1986 unter Anerkennung der Zeiten von Juni 1940 bis Mai 1942 als Beitragszeiten und der Zeiten von November 1939 bis zum 15. April 1945 als Ersatzzeiten zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, die Voraussetzungen für die Anerkennung der geltend gemachten Arbeitszeiten nach den Kriterien der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien nicht gegeben. Es habe sich nicht um ein aus freiem Willen aufgenommenes Beschäftigungsverhältnis gegen Entgelt gehandelt. Nach den Angaben der Klägerin im Entschädigungsverfahren nach dem BEG liege vielmehr ein Zwangsarbeitsverhältnis vor.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte der Beklagten, der Entschädigungsakten des Niedersächsischen Landesamt für Bezüge und Versorgung in Hannover (Az: 115581; vgl. insbesondere Blatt 15, 16 und 17 der Akte) sowie auf das im Verfahren SG Düsseldorf S 4 (3) J 105/93 eingeholte Gutachten des A vom 24. November 1997, das den Beteiligten bekannt ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Obwohl die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung am 8. Oktober 1998 nicht erschienen und nicht vertreten gewesen ist, konnte die Kammer mit dem Vertreter der Beklagten (einseitig) mündlich verhandeln und den Rechtsstreit auch entscheiden. Auf diese sich aus den 124 Abs 1, 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ergebende verfahrensrechtliche Möglichkeit ist der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin in der ihm ausweislich des Empfangsbekenntnisses vom 11. September 1998 zugestellten ordnungsgemäßen Terminsmitteilung hingewiesen worden.

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Juni 1998 ist im Sinne von 54 Abs. 2 Satz 1 SGG rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres.

Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres richtet sich noch nach dem Recht der RVO in der am 31. Dezember 1991 gültigen Fassung, weil der Rentenantrag am 27. September 1990 - also bis zum 31. März 1992 - gestellt wurde und das Altersruhegeld vor dem 1. Januar 1992 beginnt (vgl. 300 Abs. 2 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Rentenversicherung -SGB VI-).

Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin ist § 1248 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 7 Satz 3 RVO in der Fassung durch Art 1 Nr. 34 Buchst c des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I S 1532; gemäß Art 39 Abs. 7 in Kraft getreten am 31. Dezember 1983). Nach dieser Vorschrift erhält die Versicherte Altersruhegeld, die das 65. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit von 60 Kalendermonaten Versicherungszeit erfüllt hat.

Diese Vorschrift ist trotz des Auslandswohnsitzes (§ 30 Abs. 1 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - ( SGB I )) der Klägerin anwendbar. Hierbei bedarf keiner Darlegung, dass dies sich bereits daraus ergibt, daß die 1315 ff RVO die Berechtigtenstellung, d.h. die Innehabung eines subjektiven Rentenrechts, auch den Versicherten ausdrücklich zuerkennen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben. Zugunsten der Klägerin greift vorrangig ( 30 Abs. 2 SGB I) Art 4 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit (DISVA) vom 17. Dezember 1973 (BGBl II S 246) in der Fassung des Änderungsabkommens vom 7. Januar 1986 (BGBl II S 863) ein. Die Klägerin ist Staatsangehörige Israels (Art 3 Abs. 1 Buchst a DISVA) und hält sich gewöhnlich in Israel auf, so daß sie bei Anwendung der rentenrechtlichen Rechtsvorschriften (Art 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst c DISVA) Deutschlands den deutschen Staatsangehörigen gleichsteht.

Die Klägerin, die am 19. Juli 1983 das 65. Lebensjahr vollendet hat, erfüllt die Wartezeit von 60 Kalendermonaten. Unter Berücksichtigung ihrer Beitrags- und Ersatzzeiten hat sie eine Versicherungszeit von mehr als 60 Kalendermonaten zurückgelegt.

Gemäß § 1250 Abs 1 Buchst a und Buchst b RVO sind anrechnungsfähige Versicherungszeiten solche Zeiten, für die nach Bundesrecht oder früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung Beiträge wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten (Beitragszeiten) sowie Zeiten ohne Beitragsleistung nach 1251 RVO (Ersatzzeiten).

Die Zeiten von Juni 1940 bis Mai 1942 sind als glaubhaft gemachte (fiktive) Beitragszeiten gemäß § 1250 Abs. 1 Buchst a RVO in Verbindung mit § 14 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung (aF) anzuerkennen.

Die Anerkennung der geltend gemachten Beitragszeit beurteilt sich nach den Bestimmungen der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3. März 1960 (BGBl I S 137), die vorliegend trotz ihrer Aufhebung zum 1. Januar 1992 (vgl. Art 41 Nr. 1 und Art 42 Abs. 1 des Renten-Überleitungsgesetzes (RÜG) vom 25. Juli 1991 ( BGBl I S 1606 )) und ihrer Ersetzung durch § 286a SGB VI grundsätzlich noch anzuwenden ist (vgl. § 300 Abs. 2 SGB VI).

Aufgrund der Angaben der Klägerin im Entschädigungs- und Rentenverfahren und der übersandten Zeugenerklärungen der M vom 27. Juni 1991 und der S vom 11. September 1991 ist es zur Überzeugung der Kammer im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. § 10 Abs. 1 VuVO, § 3 Abs. 1 Satz 2 WGSVG) glaubhaft gemacht worden, daß die Klägerin in der Zeit von Juni 1940 bis Mai 1942 in Przystajn bei der Gendarmerie gearbeitet hat. Dies wird auch von der Beklagten nicht bestritten (vgl. Blatt 112 der Verwaltungsakte).

Die Anerkennung dieser Zeit erfolgt nicht nach den Vorschriften des Fremdrentengesetzes (FRG). Die glaubhaft gemachten Beitragszeiten der Klägerin sind nach früheren Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze zurückgelegte Beitragszeiten, denn während des geltend gemachten Zeitraums galt am Beschäftigungsort Przystajn grundsätzlich das deutsche Reichsrecht. Dies ergibt sich aus der Entwicklung der Sozialversicherung in diesem Gebiet nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht im September 1939:

Nach der vom Reichsarbeitsminister (RAM) erlassenen Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den der Provinz Schlesien eingegliederten, ehemals polnischen Gebieten vom 16. Januar 1940 (RGBl I S 196 ( Schlesien-VO )) galt vom 1. Januar 1940 an in den der Provinz Schlesien (völkerrechtswidrig) eingegliederten, ehemals polnischen Gebieten (vgl. § 4 des Erlasses über Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete vom 8. Oktober 1939 - RGBl I S 2042 -, vgl. zum Inkrafttreten Erlass vom 20. Oktober 1939 - RGBl I S 2057 -), zu denen auch Przystajn gehörte, grundsätzlich die RVO (vgl. §§ 1 und 42 Schlesien-VO). Vom 1. Januar 1940 an waren Beiträge (auch) für zurückliegende Zeiten nach Reichsrecht zu entrichten (vgl. § 26 Abs. 1 in Verbindung mit § 31 Schlesien-VO). Die bisherigen Versicherungsträger mit Sitz in den neuen Gebieten wurden - mit hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen - mit dem 31. Dezember 1939 auf gelöst (vgl. § 37 Satz 1 Schlesien-VO). Von der Anwendung der Schlesien-VO vom 16. Januar 1940 sind keine Personengruppen ausgeschlossen worden; sie galt somit sowohl für Schutzangehörige und Staatenlose polnischen Volkstums als auch für die Juden.

Die Schlesien-VO wurde durch die nunmehr alle eingegliederten Ostgebiete erfassende Verordnung über die Einführung der Reichsversicherung in den eingegliederten Ostgebieten (Ostgebiete-VO) vom 22. Dezember 1941 (RGBl I S 777) mit Wirkung vom 1. Januar 1942 abgelöst (vgl. § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Ostgebiete-VO). Inhaltlich änderte sich für die von der Schlesien-VO erfaßten Gebiete dadurch grundsätzlich nichts (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 30 Abs. 1 in Verbindung mit § 45 Abs. 1 Ostgebiete-VO). Allerdings wurde im Gegensatz zur Schlesien-VO in § 1 Abs. 1 Satz 2 Ostgebiete-VO bestimmt, dass die in den eingegliederten Ostgebieten eingeführten Vorschriften der Reichsversicherungsgesetze keine Anwendung auf Schutzangehörige und Staatenlose polnischen Volkstums fanden, zu denen auch die Juden polnischen Volkstums gehörten. Für diese Personenkreise verblieb es nach den Erlassen des RAM vom 5. Januar 1942 und 10. Januar 1942 (Reichsarbeitsblatt Teil II, (Amtl. Nachr. f. Reichsversicherung) Nr. 3, 1942, II S 38, 39) bei der bisherigen, bis zum 31. Dezember 1941 gültig gewesenen Regelung; der RAM erklärte sich damit einverstanden, daß bereits vor einer Regelung im Sinne des § 43 Abs. 2 Ostgebiete-VO die Beiträge nach Reichsrecht erhoben wurden. 1 Abs. 2 Ostgebiete-VO sah jedoch vor, daß der RAM im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern und dem Reichsminister der Finanzen den in § 1 Abs. 1 Satz 2 Ostgebiete-VO genannten Personenkreis durch Verwaltungsanordnung anderweitig bestimme könne. Dies geschah durch die Verordnung des RAM vom 29. Juni 1942 (Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung Nr. 20, 1942, II S 408, 409), durch den der in § 1 Abs. 1 Satz 2 Ostgebiete-VO genannte Personenkreis einerseits näher abgegrenzt (Abschnitt A, Abgrenzung des von der Reichsversicherung ausgenommenen Personenkreises und Nachweis der nichtpolnischen Volkszugehörigkeit) und andererseits erweitert wurde (Abschnitt B, Erweiterung des der Reichsversicherung unterliegenden Personenkreises). Abschnitt C (Behandlung der Juden) Satz 1 und Satz 2 bestimmte, daß die Reichsversicherungsgesetze auf alle Juden in den eingegliederten Ostgebieten (mithin auch, soweit sie nicht zu den Schutzangehörigen polnischen Volkstums) gehörten, keine Anwendung fanden, und zwar rückwirkend vom Stichtag, dh hinsichtlich der von der Schlesien-VO erfaßten Gebietsteile vom 1. Januar 1940 (vgl. § 1 Abs. 3 Ostgebiete-VO) an. Ferner behielt sich der RAM vor, die Behandlung der Juden in einem besonderem Erlaß zu regeln (Abschnitt C Satz 3). Dies geschah durch den Erlaß des RAM vom 13. März 1943 (Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung Nr. 9, 1943, II S 126), wonach vorbehaltlich einer allgemeinen Regelung über die Behandlung der Juden in der Reichsversicherung (zu der es nicht mehr kam) "jedoch für Juden in den eingegliederten Ostgebieten Beiträge nach den reichsrechtlichen Vorschriften zu entrichten" waren, und zwar rückwirkend zum Stichtag des § 1 Abs. 3 Ostgebiete-VO, dh in Ostoberschlesien vom 1. Januar 1940 an.

Der Anwendbarkeit der RVO steht schließlich nicht entgegen, daß das genannte Gebiet vom Deutschen Reich unter Verletzung der völkerrechtlichen Verbote des Angriffskrieges und der Annektion völkerrechtswidrig unter seine staatliche Gewalt gestellt wurde (vgl. zum Ganzen: Urteile des BSG vom 4. Juni 1998 - B 12 KR 12/97 R - und vom 16. Dezember 1997 - 4 RA 63/96 - ; H, Geplant, aber nicht in Kraft gesetzt: Das Sonderrecht für Juden und Zigeuner in der Sozialversicherung des nationalsozialistischen Deutschland, Zeitschrift für Sozialreform 1991, S 148, 152 f).

Auf die Beschäftigung der Klägerin von Juni 1940 bis Mai 1942 ist daher als frühere Vorschrift der reichsgesetzlichen Invalidenversicherung § 1226 Abs. 1 Nr. 1 RVO in der Fassung vom 15. Dezember 1924 (RGBl I S 779; aF) anzuwenden.

Gemäß § 1226 Abs. 1 Nr. 1 RVO aF wurden in der Arbeiterrentenversicherung (Invalidenversicherung) insbesondere Arbeiter versichert. Unter "Arbeiter" war nach dem damaligen Recht eine Person zu verstehen, die in derselben Bedeutung beschäftigt und aufgrund dieser Beschäftigung pflichtversichert war wie eine Person, die im Sinne der Nachfolgevorschrift des § 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO (in der bis Ende 1991 geltenden Fassung - nF) "als Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigt" war, dh "nichtselbständige Arbeit" verrichtete (§ 7 Abs. 1 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - ( SGB IV )). Damit war die Arbeit bzw Beschäftigung Voraussetzung für die Entstehung des Rechtsverhältnisses zwischen Versichertem und Rentenversicherungsträger, das Grundlage und Abgrenzungskriterium für die in § 1250 ff RVO aF bzw § 1235 ff RVO nF genannten bzw geregelten Leistungen ist.

Arbeit ist die auf ein wirtschaftliches Ziel gerichtete planmäßige Tätigkeit eines Menschen, gleichviel, ob geistige oder körperliche Kräfte eingesetzt werden. Nichtselbständig ist die Arbeit, wenn sie in dem Sinne fremdbestimmt ist, daß sie vom Arbeitgeber hinsichtlich Ort, Zeit, Gegenstand und Art der Erbringung nach den Anordnungen des Arbeitgebers vorzunehmen ist.

Rechtsgrundlage für Arbeit in diesem Sinne ist das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Zustande kommt das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis durch Vereinbarung zwischen den Beteiligten. Typisch ist mithin, daß auf beiden Seiten jeweils eigene Entschlüsse zur Beschäftigung vorliegen, die nach dem Modell der Erklärungen bei einem Vertragsschluß geäußert werden. Nach dem unmittelbaren Zweck und dem daran ausgerichteten Inhalt ist das Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis ein Austausch wirtschaftlicher Werte im Sinne einer Gegenseitigkeitsbeziehung. Auszutauschende Werte sind die Arbeit einerseits sowie das dafür zu zahlende Arbeitsentgelt - der Lohn - andererseits. Das Arbeitsentgelt kann in Geld oder Gegenständen, insbesondere körperlichen Gegenständen ("Sachen", § 90 des Bürgerlichen Gesetzbuches ( BGB )) bestehen, dh Bar- und Sachlohn sein (vgl. § 160 Abs. 1 RVO aF). Eine wirtschaftliche Gleichwertigkeit der Leistungen allerdings braucht nicht gegeben zu sein; das Arbeitsentgelt muß allerdings einen Mindestumfang erreichen, damit Versicherungspflicht entsteht (vgl. § 1226 Abs. 2 RVO aF in Verbindung § 160 RVO aF bzw § 1228 Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 RVO nF in Verbindung mit § 8 Abs. 1 SGB IV).

Aus der Zusammenstellung dieser Begriffsmerkmale ergibt sich zum einen, daß die Beweggründe, die jemanden zur Aufnahme einer Beschäftigung veranlassen, keine Rolle für die Frage spielen, ob eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung vorliegt oder nicht. Zum anderen bleiben allgemeine sonstige Lebensumstände des Versicherten außer Betracht, die nicht die Arbeit und das Arbeitsentgelt als solche, sondern sein häusliches, familiäres, wohn- und aufenthaltsmäßiges Umfeld betreffen. Sie können lediglich für die Motivation zur Beschäftigungsaufnahme bedeutsam sein. Die Frage, ob im Einzelfall ein "freies" oder ein "unfreies" Beschäftigungsverhältnis begründet worden ist, ist daher grundsätzlich nicht nach den allgemeinen Lebensumständen, unter denen der Beschäftigte leben mußte, zu beantworten. Vielmehr sind die Sphären "Lebensbereich" (mit Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung) und "Beschäftigungsverhältnis" grundsätzlich zu trennen und die Umstände und die Bedingungen des Beschäftigungsverhältnisses für sich zu bewerten.

Das Beschäftigungsverhältnis ist nach der Rechtsprechung des BSG demgemäß selbst daraufhin zu untersuchen, ob es "frei" im oben bezeichneten Sinn eines aus eigenem Antrieb begründeten Vertragsschlusses war. Nicht entscheidend ist, ob Personen, die sich in einem Beschäftigungsverhältnis befinden, zwangsweise ortsgebunden sind (vgl. zum Ganzen: Urteile des BSG vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 68/95 - und - 5 RJ 20/96 -; BSG SozR 3 - 2200 1248 Nr. 15; BSG SozR 3 - 5050 5 Nr. 1; BSG SozR Nr. 18 zu 537; Alexander Gagel, Der freie Arbeitsvertrag" als Merkmal des Beschäftigungsverhältnisses" - Zugleich ein Beitrag zur rentenversicherungsrechtlichen Einordnung von Zwangsarbeit und Ghettoarbeit -, Festschrift für Otto Ernst Krasney, 1997, S 147 ff).

Die Kammer läßt es dahingestellt, ob die Beschäftigung der Klägerin von der inhaltlichen Ausgestaltung her die Kriterien der "Freiwilligkeit" und " Entgeltzahlung" im Sinne der Rechtsprechung des BSG erfüllte.

Für diese Kriterien könnten allerdings folgende historische Umstände sprechen: Die in deutschen Unternehmen, in sog. Sammelwerkstätten, in privaten Handwerksbetrieben, bei öffentlichen Arbeitgebern oder bei jüdischen Kultusgemeinden beschäftigten jüdischen Arbeitskräfte in Ostoberschlesien lebten in sog Judenwohnbezirken. Erst im Herbst 1942 wurde in Ostoberschlesien mit der Errichtung von geschlossenen Ghettos begonnen.

Der Zuständigkeitsbereich des Sonderbeauftragten des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei für fremdvölkischen Arbeitseinsatz in Oberschlesien Albrecht Schmelt (sog Organisation Schmelt) reichte von der Schaffung von sog. Sammelwerkstätten und anderweitigen Produktionsstätten für Juden über die Beschäftigung bzw Erteilung von Genehmigungen zur Beschäftigungen von Juden im privaten Sektor, Zuteilung von Kontingenten jüdischer Arbeitskräfte für Notstandsarbeiten, Zuweisung von jüdischen Arbeitskräften an die öffentlichen Arbeitgeber auf Anforderung bis hin zur Hereinnahme von Aufträgen aus dem wehrwirtschaftlichen Bereich.

Nach den Richtlinien zur Entlohnung der jüdischen Arbeitskräfte bei privaten Arbeitgebern war diesen die volle tarifliche Entlohnung aufgrund der für das Wirtschaftsgebiet Schlesien gültigen Tarifordnungen durch den Betriebsunternehmer zu zahlen. Nach Abzug der Lohnsteuer war vom Nettolohn ein 30%-iger Lohnabzug vorzunehmen und mit den als Ersatz für die vom Betriebsunternehmer eingesparten Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteilen in der Sozialversicherung zu leistenden lohngebundenen Unkosten in Höhe von 18 % auf ein Konto des Sonderbeauftragten zu überweisen. Dem Betriebsunternehmer war es untersagt, von sich aus weitere Abzüge vorzunehmen oder derartige weitere Abzüge auf Weisung und Rechnung anderer Stellen durchzuführen.

Für den Einsatz jüdischer Arbeitskräfte bei Behörden und öffentlichen Betrieben zur Durchführung von Notstandsarbeiten im jeweiligen Orts- bzw Kreisbereich wurde die Vergütung pro Tag auf 3,50 Reichsmark festgesetzt. Von diesem Betrag waren 2,90 Reichsmark abzüglich einer Gebühr von 0,10 Reichsmark durch den Judenrat an die jüdische Arbeitskraft zu zahlen, während ein Betrag von 0,60 Reichsmark einem Konto des Sonderbeauftragten zuzuführen war. Bei der Beschäftigung von jüdischen Arbeitskräften als Fachkräfte und Arbeiter zur Erledigung laufender Arbeiten hatten die öffentlichen Dienststellen von der Vergütung neben etwaiger Lohn- und Bürgersteuer ebenfalls 30 % in Abzug zu bringen und an den Sonderbeauftragten zu leisten (vgl. hierzu Andrzej Bodek, Gutachten vom 24. November 1997, S 6, 71 bis 73, 104 und 105).

Nach Auffassung der Kammer kann nämlich der Begriff des rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses im Sinne der Rechtsprechung des BSG nur für zivilisierte und rechtsstaatlich geprägte Gesellschaften von Bedeutung und Ausgangspunkt des Sozialversicherungsrechts sein. Die RVO ist vor dem Hintergrund einer bestimmten Wirtschaftsverfassung entstanden, die auf dem grundsätzlichen freien Austausch von Arbeitsleistung und Lohn (Erwerbsarbeit in Form von Austauschverhältnissen) basiert.

Die nationalsozialistische Herrschaftsordnung war jedoch anders geartet. Sie war ein politisches Terrorsystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, dh ein System mit einer brutal-terroristisch praktizierten Feindschaft gegen Demokratie, Parlamentarismus und jegliche Form politischer oder geistiger Liberalität, mit völkisch-rassistischem Ungeist und sozialdarwinistisch geprägter Weltanschauung. Neben dem Streben nach der Welt(vor)herrschaft war die Rassendoktrin wesentliches Kernstück der NS-Weltanschauung. Die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus bestand in einem in seiner Übersteigerung singulären Antisemitismus, der auf die Vernichtung aller Juden gerichtet war, und in der völkischen Differenzierung zwischen sog "Herrenmenschen" und " Untermenschen" (vgl. Wolfgang Benz / Hermann Graml / Hermann Weiß, Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 1998, S 11 ff, 50 ff, 365 f, 739, 772; Ulrich Herbert, Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939 - 1945, Neue Forschungen und Kontroversen, 1998; Kurt Pätzold / Manfred Weißbecker, Geschichte der NSDAP: 1920 bis 1945, 1998; Ian Kershaw, Hitler 1889 - 1936, S 298 ff).

In der Zeit des NS-Regimes war eine freie Arbeitsplatzwahl und Berufsausübung bereits für reichsdeutsche" Arbeitskräfte durch staatliche und dirigistische Arbeitskräftelenkung in vielfältiger Weise eingeschränkt (vgl. ua Gesetz zur Regelung des Arbeitseinsatzes vom 15. Mai 1934 ( RGBl I S 381 ), Verordnung über die Verteilung von Arbeitskräften vom 10. August 1934 ( RGBl I S 786 ), Gesetz über die Einführung eines Arbeitsbuchs vom 26. Februar 1935 ( RGBl I S 311 )) und ab 1938/39 faktisch aufgehoben (vgl. ua Verordnungen zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 22. Juni 1938 ( RGBl I S 652 ) und vom 13. Februar 1939 ( RGBl I S 206 ), Notdienst-Verordnung vom 15. Oktober 1938 ( RGBl I S 1441 ), Verordnung über die Einschränkung des Arbeitsplatzwechsels vom 1. September 1939 ( RGBl I S 1685 ), Erlaß des RAM vom 6. November 1939, Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung Nr. 32, 1939, IV S 503).

Das Arbeitsleben war nicht mehr auf eine marktmäßig-rechtsgeschäftliche Ordnung ausgerichtet, sondern es geriet unter staatliche Lenkung zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Ideologie und der Kriegswirtschaft. Es bildete sich ein die gesamte arbeitende Bevölkerung erfassendes lückenloses "Zwangssytem", das den "freien" Arbeitsvertrag in ein reines "Zwangsverhältnis" verwandelte. An die Stelle des Individualarbeitsrechts war - gesichert durch besondere Straf- und Disziplinarordnungen - ein auf staatlichen Zwang gestütztes Arbeitseinsatz- und Arbeitsverwaltungsrecht getreten (vgl. hierzu Roderich Wahsner, Faschismus und Arbeitsrecht, in Udo Reifner, Das Recht des Unrechtsstaates, 1981, S 112; Andreas Kranig, Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik unter dem Nationalsozialismus, in Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen, Deutschland 1933 bis 1945 - Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft -, 1992, S 135 ff; Theo Mayer-Maly, Nationalsozialismus und Arbeitsrecht, Recht der Arbeit 1989, S 233 ff; Christoph U. Schminck-Gustavus, Zwangsarbeitsrecht und Faschismus, Zur Polenpolitik im Dritten Reich, Kritische Justiz 1980, S 1 ff). Trotz dieses Zwangs bestand weiterhin (Ausnahme: Notdienst für die Wehrmacht oder in militärähnlicher Form) Sozialversicherungspflicht (vgl. BSG SozR 5070 14 Nr. 2 und Nr. 9).

In einem weitaus gravierenderen Ausmaß und mit einer menschenverachtenden Brutalität wurde vom NS-Regime - auch als Teil des Vernichtungsprozesses - eine dirigistische Arbeitskräftelenkung und Ausbeutung der Arbeitskraft unter menschenunwürdigen Bedingungen bei den jüdischen Verfolgten betrieben. Eine Vielzahl von Personen war im Namen Deutschlands NS-Opfer in dem Sinne geworden, daß ihre Menschenwürde, grundlegenden Menschenrechte, Persönlichkeitsrechte und Freiheitsrechte im wesentlichen aus Gründen des Geschlechtes, der Abstammung, der "Rasse", der Sprache, der Heimat, der Herkunft sowie des Glaubens und der religiösen und politischen Anschauungen obrigkeitlich durch Angehörige der Staatspartei bzw des von ihr beherrschten Staatsapparates mit Füßen getreten worden waren (vgl. hierzu und zu weiteren Personengruppen: Leni Yahil, Die Shoah - Überlebenskampf und Vernichtung der europäischen Juden -, 1998; Cornelius Pawlita, "Wiedergutmachung" als Rechtsfrage?: Die politische und juristische Auseinandersetzung um Entschädigung für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (1945 bis 1990), 1993, S 15 - 69; Ulrich Herbert, Europa und der "Reichseinsatz", Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938 - 1945, 1991; Rainer Schröder, Zwangsarbeit: Rechtsgeschichte und zivilrechtliche Ansprüche, Jura 1994, S 61 ff und 118 ff).

Die Organisierung und die Durchführung der massenweisen menschenunwürdigen Zwangsarbeit stellt einen Verstoß gegen Grundprinzipien des Völkerrechts dar (vgl. Art 46 und 52 der Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907 - RGBl 1910 S 107 -, Art 6 und 7 der Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18. Oktober 1907 - RGBl 1910 S 132 -, Genfer Abkommen zum Schutze der Zivilpersonen vom 22. August 1864 mit Änderungen vom 1. Juli 1906 und 27. Juli 1929; vgl. auch Diemut Majer, Die Frage der Entschädigung für ehemalige NS-Zwangsarbeiter in völkerrechtlicher Sicht, Archiv des Völkerrechts 29, 1991, S 1 ff; dieselbe in: Entschädigung für Zwangsarbeit, Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 14. Dezember 1989, Zur Sache 6/90, S 157 ff). Sie war neben den Kriegsverbrechen und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Hauptanklagepunkt in den Nürnberger Prozessen (vgl. Art 6 Buchst b und Buchst c des Statuts für den Internationalen Militärgerichtshof vom 8. August 1945; vgl. auch Entschließung des Europäischen Parlaments zu Entschädigungsleistungen für ehemalige Sklavenarbeiter der deutschen Industrie vom 16. Januar 1986, BT-Drucksache 10/4996).

Die für die Sozialversicherungspflicht von abhängig Beschäftigten entwickelten Kriterien sind auf die menschenverachtende, dirigistische, staatlich gelenkte Arbeitseinsatzverwaltung des NS-Regimes nicht übertragbar. Diese rechtsstaatlichen Begriffe im heutigem Verständnis können den historischen Tatbestand und die damalige Wirklichkeit nicht ausreichend und angemessen erfassen.

Die nach allgemeinen Vorschriften gebotene Entschädigung der Opfer des Zweiten Weltkrieges kann nicht mit den damals geltenden Maßstäben und Argumenten ausgeschlossen werden. Diesem Grundsatz nicht zu folgen, hieße, die heute als offensichtlich falsch erkannten Maßstäbe - Unrechtsmaßstäbe - zu Lasten der Opfer in heutiger Zeit fortgelten zu lassen (vgl. BSG SozR 3 - 3100 1 Nr. 3 und Nr. 5). Im gesamten Entschädigungsrecht (die rentenversicherungsrechtlichen Wiedergutmachungsvorschriften gehören zwar gesetzestechnisch dem Sozialversicherungsrecht an, sie sind aber nach Inhalt und Zweck eine Materie des Wiedergutmachungsrechts) gebührt dem Prinzip der Wiedergutmachung der Vorrang vor formalen Bedenken, weshalb eine eben noch mögliche Lösung gewählt werden muß, die dazu führt, das verursachte Unrecht soweit wie möglich auszugleichen (vgl. BSGE 10, 113, 116 und BSGE 13, 67, 71).

Ausschließlich auf das Zwangsmoment abzustellen, hätte zur Folge, den Grundtatbestand der Erwerbsarbeit zu negieren. Die Arbeit der jüdischen Arbeitskräfte war als Erwerbsarbeit faktisch Teil der Volkswirtschaft und damit Bestandteil des Wirtschaftssystems des Nationalsozialismus.

Das Beschäftigungsverhältnis im tradierten Sinne wird zur Abgrenzung dann unbrauchbar, wenn die Rechtsordnung sich auflöst, der (Unrechts-) Staat Erwerbsarbeit massenhaft in Zwangsverhältnissen organisiert und gesetzlicher oder physischer Zwang die freie Eingehung eines Arbeitsverhältnisses ersetzen. Mit solchen Zwangsverhältnissen entzieht der (Unrechts-) Staat dem Sozialversicherungsrecht seine Grundlage.

Derartige Verhältnisse unterscheiden sich grundlegend vom Typus des besonderen (öffentlich-rechtlichen) Gewaltverhältnisses (Anstaltsverhältnisses) in demokratischen Gesellschaften, die auf entsprechender gesetzlicher (rechtsstaatlicher) Grundlage beruhen. Die damaligen Verhältnisse während des NS-Regimes können daher nicht auf eine Stufe mit auf rechtsstaatlicher Grundlage zustandegekommenen Freiheitsbeschränkungen gestellt werden.

Darüber hinaus legen die Begriffe des Arbeitszwangs und der Zwangsarbeit im Sinne von Art 12 Abs. 2 und Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) nicht die Grenzen des sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses fest.

Das grundsätzliche verfassungsrechtliche Verbot von Zwangsarbeit (Arbeitszwang) hat in deutlicher Abkehr zum NS-Regime (und in bewußtem Gegensatz zu totalitären Gemeinschaftsideologien) das Ziel, die im Nationalsozialismus angewandten Formen der dirigistischen Arbeitskräftelenkung mit ihrer Herabwürdigung der menschlichen Persönlichkeit für die Zukunft zu untersagen (vgl. BVerfGE 74, 102, 116 ff; Hans Jarass / Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage 1997, Art 12 RdNrn 55 ff). Die weite Umschreibung von Zwangsarbeit (Arbeitszwang) im verfassungsrechtlichen Sinne hat eine völlig andere Funktion als die sozialversicherungsrechtliche Abgrenzung der versicherungsfreien, staatlichen Zwangsarbeit von den versicherungspflichtigen Beschäftigungen, aufgrund derer Rentenanwartschaften erworben werden können.

Die Frage nach der Vertragsfreiheit und der Lohnhöhe zu stellen, hätte zur Folge, die Verhältnisse, so wie sie damals waren, zu akzeptieren. Dies würde jedoch nach Auffassung der Kammer in unerträglicher Weise die Fortsetzung des nationalsozialistischen Unrechts bedeuten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen, denen die Angehörigen des jüdischen Volkes ausgesetzt waren und die eindeutig auf ihre physische Vernichtung abzielten, waren spezifisches nationalsozialistisches Unrecht.

Die Verletzung der unantastbaren Menschenwürde der Opfer der menschenverachtenden Gewalt und die Verletzung des Kerngehalts ihrer unverletzlichen und unveräußerlichen Menschen-, Freiheits- und Persönlichkeitsrechte, die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt sind, würde weiter fortgesetzt. Eine der Zielsetzungen der Nationalsozialisten, sich um die Arbeitsleistung zu bereichern, andererseits aber konkrete Anwartschaften auf Leistungen der Rentenversicherung auszuschließen, würde letztlich verwirklicht werden.

Die Behandlung der jüdischen Arbeitskräfte beruht erkennbar auf willkürlichen ideologischen Überlegungen. Sie verstößt wegen ihrer Unmenschlichkeit, ihres Ausmaßes und ihrer Dauer in einem solchem Maße gegen fundamentale Prinzipien der Menschenwürde, der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit und stellt ein derart evidentes Unrecht dar, daß deren Fortwirken in der demokratischen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht hingenommen werden kann.

Nur auf diese Weise kann verhindert werden, daß sich dieses nationalsozialistische Unrecht in der Anwendung des heute geltenden Rentenversicherungsrechts fortsetzt. Der Rechtsgrund für den Versuch der - objektiv unmöglichen - Wiedergutmachung gegenüber den NS-Opfern ergibt sich aus der allgemeinen und universalen Maßgeblichkeit der Menschenwürde, der Menschenrechte, der elementaren Rechtsgrundsätze und der Wertordnung des Grundgesetzes, die den freien, sich in der Gemeinschaft entfaltenden Menschen in den Mittelpunkt der staatlichen Ordnung stellt; sie hat ihre verfassungsrechtlichen Wurzeln im Rechtsstaatsprinzip und Sozialstaatsprinzip.

Im übrigen hat auch der Gesetzgeber mit der Erweiterung von § 17 Abs. 1 Buchst b FRG (in der Fassung des Art 1 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes ( FANG ) vom 25. Februar 1960 - BGBl I S 93 -) durch Art 15 Abschnitt A Nr. 3 Buchst a Doppelbuchst bb des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S 2261) um den Halbsatz "dies gilt auch für Beiträge von Personen, deren Ansprüche nach der Verordnung vom 22. Dezember 1941 (RGBl. I S. 777) ausgeschlossen waren" die Auswirkungen evidenten nationalsozialistischen Unrechts entgegen der bis zum 31. Dezember 1989 maßgeblichen Rechtsauffassung (vgl. BSG SozR 5050 17 Nr. 11 und Nr. 12; Urteile des BSG vom 15. Oktober 1987 - 1 RA 41/86 - und - 1 RA 43/86 -) nachträglich und zukunftgerichtet durch die Gleichstellung der begünstigten Personen mit sonstigen Vertriebenen (und vertriebenen Verfolgten) kompensiert. Die Gesetzesergänzung sollte gewährleisten, daß die Personen, die von der Anwendung der Ostgebiete-VO durch dessen § 1 Abs. 1 Satz 2 und den Erlaß des RAM vom 29. Juni 1942 (Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung Nr. 20, 1942, II S 408, 409) ausgeschlossen waren, nach § 17 Abs. 1 FRG Rentenleistungen für die an den polnischen Versicherungsträger entrichteten Beiträge erhalten können, sofern sie die Stichtagsvoraussetzungen der Ostgebiete-VO und die allgemein gültigen innerstaatlichen Leistungsvoraussetzungen erfüllten (vgl. BT-Drucksache 11/4124 S 218 und BT-Drucksache 11/5530 S 29).

Unerheblich ist ferner, daß in 1 der Verordnung über die Beschäftigung von Juden vom 3. Oktober 1941 (RGBl I S 675; zur Anwendbarkeit in den eingegliederten Ostgebieten vgl. 3 dieser Verordnung; diese Verordnung wurde durch Art I Nr. 1 Buchst x des Gesetzes Nr. 1 (Aufhebung von Nazi-Gesetzen) vom 20. September 1945 ( Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Nr. 1 vom 29. Oktober 1945, S 6 ) aufgehoben) bestimmt wurde, "Juden, die in Arbeit eingesetzt sind, stehen in einem Beschäftigungsverhältnis eigener Art". Das Beschäftigungsverhältnis "eigener Art" (immerhin verwendet der nationalsozialistische Gesetzgeber noch den Begriff des "Beschäftigungsverhältnisses") hatte die Funktion ideologischer Ausgrenzung. In dessen "eigener Art" spiegelte sich weniger das tatsächliche Zwangsmoment als vielmehr die Kulmination zusätzlicher Diskriminierungen, die nicht zuletzt in der Nichtgeltung arbeitsschutzrechtlicher Bestimmungen lag (vgl. auch Verordnung zur Durchführung der Verordnung über die Beschäftigung von Juden vom 31. Oktober 1941 ( RGBl I S 681 ), die gemäß § 24 Abs. 1 "einstweilen" nicht in den eingliederten Ostgebieten galt).

Diese Verordnung (sowie die weiteren geschriebenen oder ungeschriebenen Normen des Nationalsozialismus, die Zwangsarbeiten von Verfolgten rechtfertigten) muß (müssen) von Anfang an als nichtig erachtet werden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist nationalsozialistischen Rechts"-Vorschriften die Geltung als Recht abzuerkennen, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde. Solche Rechts"-Vorschriften sind auch nicht dadurch wirksam geworden, daß sie über einige Jahre hin praktiziert worden sind oder daß sich seinerzeit die Betroffenen mit den nationalsozialistischen Maßnahmen im Einzelfall abgefunden haben. Denn einmal gesetztes Unrecht, das offenbar gegen konstitutierende Grundsätze des Rechts verstößt, wird nicht dadurch zu Recht, daß es angewendet und befolgt wird (vgl. BVerfGE 23, 98, 106; vgl. auch BFHE 177, 317, 320 ff; Alexander Blankennagel, Verfassungsgerichtliche Vergangenheitsbewältigung, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 13, 1991, S 67 ff). Wegen Verstosses gegen die Menschenwürde, die Menschenrechte, die Persönlichkeitsrechte, die elementaren Rechtsgrundsätze sowie gegen Grundprinzipien des Völkerrechts ist diese Verordnung deshalb als nichtig anzusehen und nicht zu berücksichtigen (vgl. in diesem Zusammenhang auch: Nr. 23 der Anlage zu Artikel 1 2 Nr. 3 des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August 1998 - BGBl I S 2501- sowie BT-Drucksache 13/10013; Karin Schubert, Ein Ende jahrzehntelanger Peinlichkeit, Neue Justiz 1998, S 403). Sie belegt daher nicht das Vorliegen eines Nichtbeschäftigungsverhältnisses.

Es ist sachlich nicht zu rechtfertigen, für deutsche dienstverpflichtete Arbeitskräfte für die Zeit des erzwungenen Arbeitseinsatzes Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938 (RGBl I S 1441) in Verbindung mit der Zweiten Durchführungsverordnung zur Notdienstverordnung (Sozialversicherung der Notdienstpflichtigen) vom 10. Oktober 1939 (RGBl I S 2018) anzuerkennen, während dies für die jüdischen Arbeitskräfte wegen des fehlenden Moments der "Freiwilligkeit" ausgeschlossen wird. Es läge zum einen dann bereits allein in der Willkür des nationalsozialistischen Gesetzgebers, über die Anerkennung einer Beitragszeit zu bestimmen. Zum anderen ist nicht erkennbar, wie das für die Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses geforderte Moment der "Freiwilligkeit" mit der Anordnung der Rentenversicherungspflicht für deutsche dienstverpflichtete Arbeitskräfte durch den nationalsozialistischen Gesetzgeber begründet werden soll. Denn auch die Dienstverpflichtung bedeutete damals die Heranziehung von Personen gegen oder ohne deren Willen zu Dienstleistungen.

Insbesondere führt die von der Beklagten vertretene Auffassung zu dem nicht vertretbaren Ergebnis, daß mit der Zunahme der Verfolgungsintensität die Annahme einer Beitragszeit ausscheidet, dh die Verfolgten würden heute im Rentenversicherungsrecht um so schlechter gestellt, je schlechter damals ihre Arbeits- und Lebensbedingungen waren.

Zu berücksichtigen ist schließlich, daß es hinsichtlich der nach der Rechtsprechung des BSG für die Annahme eines Arbeits-/Beschäftigungsverhältnisses erforderlichen Kriterien in der Regel an den entsprechenden Feststellungen im Entschädigungsverfahren nach dem BEG fehlt. Die von der Kammer vertretene Auffassung erspart es den betroffenen Verfolgten, denen unermeßliches Leid zugefügt wurde und die sich heute in einem sehr hohen Alter befinden, ihr Verfolgungsschicksal durch die Mitwirkung an erneuten (wegen des langen Zeitablaufs und des Verlustes von Beweismitteln ohnehin schwierigen) Feststellungen noch einmal zu durchleben (vgl. zu diesem Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Gewährung von Entschädigungsrenten nach dem Gesetz zur Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet vom 22. April 1992 ( BGBl I S 906 ) BT-Drucksache 12/1790 S 5).

Gegen eine Anerkennung der von der Klägerin verrichteten Tätigkeit als Beitragszeit spricht auch nicht die Systematik der RVO mit der Unterscheidung von Beitragszeiten und Ersatzzeiten.

Nach der Systematik der RVO sind anrechnungsfähige Versicherungszeiten im Sinne von § 1250 RVO entweder Beitragszeiten oder Ersatzzeiten, die zur Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre zusammengerechnet werden, sofern sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen (§ 1258 Abs. 1 RVO). Ersatzzeiten gelten darüber hinaus ausdrücklich nur dann als anrechnungsfähig gemäß § 1251 Abs. 2 Satz 1 RVO, wenn während der Ersatzzeit Versicherungspflicht nicht bestanden hat. Damit sieht die Systematik der RVO im Vierten Buch Zweiter Abschnitt A II jedoch ausdrücklich vor, daß Beitrags- und Ersatzzeiten nicht exklusiv nebeneinander bestehen, sondern zeitlich zusammenfallen können. Dies ist auch bei einer Berücksichtigung fiktiver Beitragszeiten, die ausdrücklich in § 1250 Abs 1 Buchst a RVO genannt werden, häufig anzunehmen, da die Sonderregelung des § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG aF auf die Zeiten der nationalsozialistischen Verfolgung zielt, die bei rassisch Verfolgten schon aufgrund der Regelung des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO in Verbindung mit § 47 BEG (Tragen des Judensterns von Januar 1933 bis Mai 1945 oder Leben in der Illegalität) erfaßt ist.

Ferner bieten die Gesetzesmaterialien des Ersatzzeitentatbestandes keine Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber Arbeiten von Verfolgten, die in einem Ghetto (jüdischen Wohnbezirk) lebten, ausdrücklich nicht als Beitragszeiten anerkennen wollte. Darüber hinaus wird in § 43 Abs. 3 BEG, auf den § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO bei der Beurteilung von Zeiten der Freiheitsentziehung Bezug nimmt, ausschließlich die Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen aufgeführt. Nach § 43 Abs. 3 BEG ist der Freiheitsentziehung im Sinne des § 43 Abs. 1 BEG die Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen gleichzusetzen. Eine Entschädigung nach § 43 Abs. 3 BEG wird nach dem Gesetzeswortlaut aber nur dafür gewährt, daß bei der Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen ebenso wie bei der Freiheitsentziehung im übrigen der Ausgleich allein für den Tatbestand der Freiheitsentziehung gewährt wird, dh die Zwangsarbeit unter haftähnlichen Bedingungen also lediglich ein spezieller Unterfall der Freiheitsentziehung ist und somit § 43 BEG eine gesonderte Entschädigung für die erbrachte Arbeitsleistung nicht vorsieht.

Im übrigen bestand bei der Einführung dieses Ersatzzeitentatbestandes - wie ein Blick auf die bundesrepublikanische geschichtswissenschaftliche Forschung zeigt - aufgrund der in der Bundesrepublik Deutschland damals kaum erfolgten Erforschung der Geschichte der nationalsozialistischen Lager und Ghettos ein ganz erheblicher Mangel an Erkenntnissen und Wissen sowohl über das System der nationalsozialistischen Lager und Ghettos als auch über die Typen von Lagern und Ghettos bzw die Anzahl der Lager und Ghettos in den besetzten und annektierten Gebieten. Ferner wäre die bloße Annahme eines Ersatzzeitentatbestandes (§ 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO) für die jüdischen Arbeitskräfte wenig sinnvoll. Die Entschädigung auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung in Form der Zuerkennung von Beitrags- oder Ersatzzeiten ist nur dann sinnvoll und damit sachgerecht, wenn die Begünstigten hieraus typischerweise letztlich einen Rentenanspruch erwerben können (vgl. BSG SozR 3 - 2200 1251 Nr. 7). Mangels Bestehens einer Vor- oder Nachversicherung (§ 1251 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 RVO) und der daraus resultierenden Nichtanrechenbarkeit des Ersatzzeitentatbestandes bei einer Vielzahl von jüdischen Verfolgten wäre für diese Betroffenen im Rahmen der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung eine wirksame Schließung der durch nationalsozialistisches Unrecht in ihrer Invaliditäts- und Altersvorsorge verursachten Lücke nicht zu erreichen.

Im übrigen erscheint es im Hinblick auf die neueren militärgeschichtlichen Erkenntnisse (vgl. Hannes Heer / Klaus Naumann, Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, 1995; Wehrmachtsverbrechen, Dokumente aus sowjetischen Archiven, 1997) zumindest aus historischer Sicht fragwürdig, diese Verfolgungszeiten ua dem Militär- und militärähnlichen Dienst ( 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO), wozu unter Umständen der Dienst in SS-Einheiten gehören kann (vgl. hierzu KassKomm-Niesel 1251 RVO RdNrn 41 und 42; Koch / Hartmann / v. Altrock / Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, Band IV a, 28 AVG Anm B. I. 15.), gleichzustellen.

Diesem Ergebnis kann auch nicht entgegengehalten werden, die jüdischen Verfolgten hätten bereits eine Entschädigung nach den Vorschriften des BEG erhalten (vgl. zur Wiedergutmachung Herbert Küpper, Länderkompetenzen in der Wiedergutmachung von NS-Unrecht, Kritische Justiz 1997, S 224 ff; ders., Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in den Staaten Osteuropas, Osteuropa 1996, S 758 ff; ders., Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Osteuropa 1996, S 639 ff). Das Entschädigungsrecht nach dem BEG erfaßt keine sozialversicherungsrechtlichen Schäden (vgl. § 5 Abs. 1, 138 BEG). Darüber hinaus ist an den Tatbestand der Zwangsarbeit eine gesetzliche oder anderweitig geregelte Entschädigungsleistung nicht geknüpft worden.

Einer Berücksichtigung der von den jüdischen Verfolgten geleisteten Arbeiten als Beitragszeiten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung stehen schließlich auch nicht das zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel geschlossene Abkommen vom 10. September 1952 (BGBl 1953 II S 37) bzw die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Conference on Jewish Material Claims against Germany geschlossenen Vereinbarungen entgegen, denn diese lassen individuelle Ansprüche israelischer Staatsbürger unberührt (vgl. hierzu Cornelius Pawlita, "Wiedergutmachung" als Rechtsfrage?: Die politische und juristische Auseinandersetzung um Entschädigung für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung (1945 bis 1990), 1993, S 269 ff).

Nach Auffassung der Kammer sind daher für den Bereich der Wiedergutmachung im Sozialrecht die Kriterien der "Freiwilligkeit" und "Entgeltzahlung" zur Abgrenzung untauglich und unbrauchbar, wenn die Verfolgung gerade auf die Beseitigung dieser Kriterien abzielt (vgl. zum Ganzen: Cornelius Pawlita, Rentenversicherungsrechtliche Aspekte verfolgungsbedingter Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, Zeitschrift für Sozialreform 1998, S 1 ff; ders., Beschäftigungszeiten im Ghetto Lodz, Die Urteile des Bundessozialgerichts v. 18.06.1997 - 5 RJ 66/95 u. 68/95 -, Die Sozialversicherung 1998, S 90 ff; ders., Zur Anerkennung von Beschäftigungszeiten im Ghetto Lodz, Die Sozialgerichtsbarkeit 1997, S 413 f; ders., Die Anrechnung von Zwangsarbeit in der gesetzlichen Rentenversicherung, Zeitschrift für Sozialreform 1990, S 427 ff; ders., in Christine Fuchsloch / Stephan Niewald, NS-Zwangsarbeit im Rentenversicherungsrecht, Expertentagung der Forschungsstelle für Sozialrecht und Sozialpolitik, Universität Hamburg, am 18.04.1997, Die Sozialgerichtsbarkeit 1997, S 444, 445; Gerhard Buschmann, Anmerkung zum Urteil des BSG vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 66/95 -, Die Sozialgerichtsbarkeit 1998, S 319 f; Herbert Küpper, Die neuere Rechtsprechung in Sachen NS-Zwangsarbeit, Kritische Justiz 1998, S 246, 252 ff; Bernhard Blankenhorn, in: Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht, Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 24. Juni 1987, Zur Sache 3/87, S 252 ff; Waldemar Frank und Doris Großmann, in: Entschädigung für Zwangsarbeit, Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 14. Dezember 1989, Zur Sache 6/90, S 233 ff).

Unerheblich ist entgegen der Auffassung der Beklagten folglich auch, daß die Klägerin im Entschädigungsverfahren nach dem BEG ihre Tätigkeit als Zwangsarbeit bezeichnet hat. Darüber hinaus sind die von den Beteiligten verwendeten Begriffe bezüglich der rechtlichen Qualifizierung eines Beschäftigungsverhältnisses ohne jede Bedeutung.

Hinsichtlich der rentenrechtlichen Systematik ist nach Auffassung der Kammer die Frage zu stellen, ob eine Tätigkeit verrichtet wurde, die in rechtsstaatlich geprägten Gesellschaften gewöhnlich von freien, bezahlten Arbeitskräften ausgeübt wird, dh ob im Ergebnis - auch wirtschaftlich gesehen - Erwerbsarbeit geleistet wurde. Dies ist bei den von der Klägerin in der streitigen Zeit verrichteten Tätigkeiten ohne jeden Zweifel der Fall.

Die Kammer läßt es offen, ob für die Beschäftigung der Klägerin Rentenversicherungsbeiträge zu einem deutschen Träger der Rentenversicherung (LVA Schlesien in Breslau) tatsächlich abgeführt worden sind.

Die Beiträge sind gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG aF zu fingieren, weil sie - wenn die Beitragsentrichtung unterblieben ist - aus verfolgungsbedingten Gründen nicht entrichtet wurden. Die Klägerin ist anerkannte Verfolgte des Nationalsozialismus im Sinne des § 1 BEG und erfüllt damit die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 WGSVG. Gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG aF gelten Beiträge als entrichtet, wenn die Entrichtung von Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aus Verfolgungsgründen unterblieben ist. Da die Klägerin - wie oben dargelegt - ein dem Grunde nach sozialversicherungspflichtiges Arbeits-verhältnis ausgeübt hat und das (mögliche) Unterbleiben einer Beitragsentrichtung auf Verfolgungsmaßnahmen beruhte, erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen des § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG aF. Dies entspricht dem Ziel des Gesetzgebers bei Erlaß des WGSVG, das Recht der Wiedergutmachung so zu verbessern, daß den Sozialversicherten ein voller Ausgleich des Schadens ermöglicht wird, den sie durch Verfolgungsmaßnahmen in ihren Ansprüchen und Anwartschaften aus der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung erlitten haben (vgl. Schriftlicher Bericht des 10. Ausschusses über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung, BR-Drucksache VI/1449 S 1; BSG SozR 3 - 2200 1248 Nr 15 und Urteil des BSG vom 18. Juni 1997 - 5 RJ 68/95 -).

Die Zeiten von Juni 1940 bis Mai 1942 sind demnach als glaubhaft gemachte (fiktive) Beitragszeiten anzuerkennen (vgl. § 3 Abs. 1 VuVO aF). Die Zeiten von November 1939 bis zum 15. April 1945 sind als Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO zu berücksichtigen, soweit die einzelnen Monate nicht mit Beitragszeiten belegt sind.

Die Klägerin hat auch gemäß § 18 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 1 WGSVG das Recht, von der Beklagten die monatliche Zahlung von Altersruhegeld wie eine Verfolgte zu verlangen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des WGSVG hat. Sie hat nach dem 8. Mai 1945 und vor dem 1. Januar 1950, nämlich im Juli 1947, das Gebiet des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 verlassen, als sie im Juli 1947 nach Palästina auswanderte. Dies ist im wesentlichen auch verfolgungsbedingt geschehen. Im Hinblick auf das von den in § 18 Abs. 2 WGSVG Erfaßten ausnahmslos erlittene Verfolgungsschicksal ist hier rechtsgrundsätzlich und faktisch in aller Regel davon auszugehen, daß der in der deutschen Rentenversicherung versicherte Verfolgte und in seiner Rentenberechtigung durch die NS-Verfolgung Geschädigte Nachkriegsdeutschland verfolgungsbedingt verlassen hat.

Nach alledem hat die Klägerin ein subjektives Recht auf Altersruhegeld gemäß § 1248 Abs. 5 RVO. Die Beklagte war daher antragsgemäß zur Zahlung des Altersruhegeldes ab 1. Januar 1986 zu verurteilen.

Selbst wenn entgegen der von der Kammer vertretenen Auffassung davon auszugehen wäre, es handele sich bei den Beschäftigungen der jüdischen Arbeitskräfte wegen des Zwangscharakters nicht um Arbeitsverhältnisse im Sinne des Sozialversicherungsrechts, würde sich jedenfalls die Frage ergeben, ob die die Rentenversicherungspflicht begründenden Vorschriften der Zweiten Durchführungsverordnung zur Notdienstverordnung vom 10. Oktober 1939 (RGBl I S 2018), die auch in den eingegliederten Ostgebieten galt (vgl. Verordnung zur Einführung der Notdienstverordnung nebst Durchführungsvorschriften in den eingegliederten Ostgebieten vom 14. Juli 1940 ( RGBl I S 1019 ) ), auf alle Gruppen zwangsverpflichteter Arbeiter entsprechend anzuwenden sind. Soweit die Verordnungen einer Einbeziehung der jüdischen Arbeitskräfte in die gesetzliche Rentenversicherung entgegenstehen, wären diese Bestimmungen wegen des Verstosses gegen die Menschenwürde, die Menschenrechte und die elementaren Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit als nichtig anzusehen (vgl. hierzu hinsichtlich der Nichteinbeziehung der "Ostarbeiter" BSG SozR 3 - 2200 1251 Nr. 7).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Sprungrevision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und wegen der Abweichung des Urteils von Entscheidungen des BSG zuzulassen (§ 161 Abs. 1 und Abs. 2, § 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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