S 5 RA 22/99

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Gelsenkirchen (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 5 RA 22/99
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 14 RA 30/00
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung ihrer Bescheide vom 23.12.1998 sowie vom 27.01.1999 und 17.02.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.03.1999 verurteilt, die Zeit vom 01.04.1955 bis 27.02.1958 als Anrechnungszeit unberücksichtigt zu lassen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers. Der Beklagten werden Gerichtskosten in Höhe von 1.000,00 DM auferlegt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, die Zeit vom 01.04.55 bis zum 27.02.58 als Anrechnungszeit wegen Schulbesuchs (rentenmindernd) zu berücksichtigen.

Der 1934 geborene Kläger absolvierte vom 01.04.55 bis zum 27.02.58 eine Ausbildung zum Betriebstechniker an der Technischen Abendschule der Gesellschaft zur Förderung der staatlichen Ingenieurschule in Dortmund. Der Unterricht wurde dreimal wöchentlich abends in einem Umfang von jeweils vier Schulstunden à 45 Minuten durchgeführt. Tagsüber war der Kläger während dieser Zeit im Rahmen einer 45-Stunden-Woche als Dreher versicherungspflichtig beschäftigt.

Unter dem 02.03.98 erteilte die Beklagte ihm eine Rentenauskunft, wonach die Höhe der monatlichen Rentenanwartschaften 1.476,69 DM betrage. Bei der Berechnung der Anwartschaften hatte die Beklagte die Anrechnungszeit nicht berücksichtigt.

Am 11.11.98 beantragte der Kläger die Gewährung der Regelaltersrente. Er wurde von der Beklagten aufgefordert, Nachweise über den Besuch der Abendschule beizubringen und gab nach Übersendung des Abschlusszeugnisses an, die wöchentliche Vorbereitungszeit für den Unterricht habe zwölf Stunden betragen. Für die Fahrt zur Schule und zurück habe er in der Woche etwa neun Stunden benötigt.

Mit Bescheid vom 23.12.98 bewilligte die Beklagte dem Kläger die begehrte Regelaltersrente in Höhe von monatlich seinerzeit 1.439,85 DM. Bei der Rentenberechnung berücksichtigte sie die Zeit vom 01.04.55 bis zum 27.02.58 als Anrechnungszeit wegen Schulbesuchs neben den gleichzeitig für den Kläger entrichteten Pflichtbeiträgen. Da sich hierdurch eine Minderung der Entgeltpunkte für beitragsfreie Zeiten ergab und für beitragsgeminderte Zeiten keine zusätzlichen Entgeltpunkte mehr zu berücksichtigen waren, ergab sich der im Vergleich zur Rentenauskunft geringere Zahlbetrag.

Gegen diesen Bescheid richtete sich der am 11.01.99 bei der Beklagten eingegangene Widerspruch des Klägers. Er beanstandete, dass die ihm bewilligte Rente niedriger sei als die in der Rentenauskunft ausgewiesenen Anwartschaften und dass für das Jahr 1958 ein zu geringes Bruttoarbeitsentgelt berücksichtigt worden sei.

Mit Bescheiden vom 27.01.99 und 17.02.99 berechnete die Beklagte die Rente des Klägers - unter Abhilfe des Widerspruchs insoweit - wegen des nicht zutreffend in Ansatz gebrachten Bruttoarbeitsentgeltes sowie wegen einer Änderung der Krankenversicherungsverhältnisse des Klägers neu.

Mit Bescheid vom 30.03.99 wies sie den Widerspruch im übrigen zurück. Sie führte zur Begründung aus, die gegenüber der Rentenauskunft geringere Rentenhöhe habe sich durch die nachträgliche Anerkennung des Abendschulbesuchs als Anrechnungszeit ergeben. Hierdurch habe sich die Bewertung der beitragsfreien Zeiten gemindert.

Mit seiner am 20.04.99 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Er weist zur Konkretisierung seines Vorbringens im Verwaltungsverfahren darauf hin, dass er während der Zeit des Abendschulbesuches im Winter mit der Bundesbahn und während der Sommermonate mit dem Motorrad nach Beendigung der Arbeit von seiner Wohnung in Herne zur Abendschule nach Dortmund gefahren sei. Die Hin- und Rückfahrt mit dem Zug habe - allerdings hochgegriffen - drei Stunden gedauert. Die An- und Abreise mit dem Motorrad habe demgegenüber lediglich anderthalb Stunden in Anspruch genommen. Die Semesterferien hätten zwei Monate im Jahr umfasst.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 23.12.1998 sowie der Bescheide vom 27.01.1999 und 17.02.1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.03.1999 zu verurteilen, die Anrechnungszeit vom 01.04.1955 bis 27.02.1958 unberücksichtigt zu lassen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte bezieht sich in ihrer Klageerwiderung zunächst auf die Gründe der angefochtenen Bescheide. Im übrigen macht sie geltend, die Zeit vom 01.04.55 bis zum 27.02.58 sei als Anrechnungszeit wegen Schulbesuchs zu berücksichtigen, weil die Ausbildung die Arbeitskraft des Klägers überwiegend beansprucht habe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei von einer Schulausbildung auszugehen, wenn diese zuzüglich einer möglichen Halbtagstätigkeit von 20 Stunden wöchentlich mehr als 48 Stunden in Anspruch nehme. Diese Voraussetzungen seien hinsichtlich des Abendschulbesuches des Klägers erfüllt, denn die Ausbildung habe für sich betrachtet unter Einrechnung der häuslichen Vorbereitungszeit und der An- und Abfahrt einen wöchentlichen Zeitaufwand von mehr als 28 Stunden umfasst.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den übrigen Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Kläger ist durch die Bescheide der Beklagten vom 23.12.98, 27.01.99 und 17.02.99 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30.03.99 im Sinne von § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - beschwert, weil diese Bescheide insoweit rechtswidrig sind, als die Beklagte die Zeit vom 01.04.55 bis zum 27.02.58 rentenmindernd als Anrechnungszeit wegen Schulbesuchs berücksichtigt hat. Die angefochtenen Bescheide waren dementsprechend insoweit antragsgemäß abzuändern.

Nach § 58 Abs. 1 Nr. 4 des 6. Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) sind Anrechnungszeiten in einem Höchstumfang von drei Jahren Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr u.a. eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht haben. Anrechnungszeiten sind rentenrechtliche Zeiten entweder in der Form beitragsfreier Zeiten, wenn für denselben Kalendermonat keine Beiträge gezahlt worden sind (§ 54 Abs. 4 SGB VI), oder - wie im Falle des Klägers - beitragsgeminderte Zeiten - wenn der jeweilige Kalendermonat auch mit Beitragszeiten belegt ist (§ 54 Abs. 3 SGB VI). Als beitragsgeminderte Zeiten fließen sie nach Maßgabe der §§ 71 Abs. 2, 74 SGB VI auch bei der Ermittlung der persönlichen Entgeltpunkte in die Rentenberechnung ein.

Die Beklagte ist nicht berechtigt, die Zeit des Fachschulbesuchs des Klägers vom 01.04.55 bis zum 27.02.58 als Anrechnungszeit zu berücksichtigen, denn die rentenmindernde Anerkennung der streitigen Zeit als Anrechnungszeit entspricht weder dem Sinn der oben genannten Bestimmungen noch sind die Voraussetzungen für die Berücksichtigung einer Anrechnungszeit wegen Schulbesuchs tatbestandlich erfüllt. Der Besuch der Technischen Abendschule in Dortmund hat den Kläger nämlich entgegen der Auffassung der Beklagten nicht überwiegend in Anspruch genommen. Die überwiegende Inanspruchnahme eines Versicherten durch die Schulausbildung ist jedoch nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung einer Zeit der Schulausbildung als Anrechnungszeit. Hiervon geht auch die Beklagte aus.

Die in § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI abschließend konzipierten, eng umschriebenen Tatbestände der Ausbildungs-Anrechnungszeit sollen nach dem Sinn und Zweck dieser gesetzlichen Regelung einen Ausgleich dafür bieten, dass der Versicherte durch sie ohne sein Verschulden gehindert war, einer rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen und so Pflichtbeiträge in die gesetzliche Rentenversicherung zu leisten, die er ohne den in § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI umschriebenen Tatbestand entrichtet hätte. Wegen der fehlenden Beiträge ist die Berücksichtigung dieser Zeit eine Solidarleistung der Versichertengemeinschaft; sie beruht auf staatlicher Anordnung und ist Ausdruck staatlicher Fürsorge. Wegen seiner Verpflichtung gegenüber der Versichertengemeinschaft ist der Gesetzgeber gehalten, lediglich bestimmte typische Ausbildungen als Anrechnungszeittatbestände zu normieren und ihre begünstigenden Folgewirkungen zeitlich zu begrenzen (vgl. hierzu Urteil des Bundessozialgerichts vom 05.12.96 - 4 RA 100/95 - m.w.N. in: NZS 97, 368 ff.). Insbesondere angesichts des Fürsorgegedankens, der dem Gesetz innewohnt, liegt es auf der Hand, dass Anrechnungszeiten nach der Ziel- und Zwecksetzung des § 58 SGB VI nur dann Berücksichtigung finden sollen, wenn sie sich hinsichtlich der Wartezeit von 35 Jahren (vgl. § 50 Abs. 3 SGB VI) ihrer anwartschaftserhaltenden Bedeutung (vgl. z.B. §§ 38 Nr. 3, 43 Abs. 3 SGB VI) oder bezüglich der Berechnung der Rente begünstigend, jedenfalls nicht nachteilig für den Leistungsberechtigten auswirken. Nur dann wird der grundlegenden Zwecksetzung der Anrechnungszeiten entsprochen, ausgefallene Beitragsleistungen zu kompensieren. Auch wenn es formal den Bestimmungen über die Berechnung der Rente nach den §§ 71 Abs. 2, 74 SGB VI entsprechen mag, dass eine zusätzliche Anerkennung von Anrechnungszeiten im Einzelfall zu einer Minderung des Rentenzahlbetrags führen kann, so ist eine dahingehende Rentenberechnung wegen Verstoßes gegen den höherrangigen Fürsorgegedanken, den der Gesetzgeber als Ausfluss des in Artikel 20 des Grundgesetzes geregelten Sozialstaatsprinzips in § 58 SGB VI verankert hat, rechtswidrig. Es käme nämlich förmlich einer Aushöhlung der dem § 58 SGB VI inhärenten Grundsätze der Fürsorge und sozialen Gerechtigkeit gleich, durch die Anerkennung von Anrechnungszeiten die Grundlage für eine Minderung der Rente zu schaffen. Diese Rechtsauffassung entspricht offenbar auch der Verwaltungspraxis der Beklagten. Sie lässt nämlich ansonsten im Falle der Kollision von Anrechnungs- und Beitragszeiten, die eine Rentenminderung zur Folge hat, die Anrechnungszeiten regelmäßig unberücksichtigt. Das Gericht hat die Beklagte im Zuge der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung unter beispielhafter Bezugnahme auf die Anerkenntnisse der Beklagten in den unter den Az. S 11 RA 1/98 und S 3 (14) RA 63/98 geführten Verfahren auf diese Praxis hingewiesen. Wenn sie gleichwohl ohne weitere Begründung im Falle des Klägers an ihrer fehlerhaften Rechtsauffassung festhält, ist dies aus den vorgenannten Gründen nicht nur rechtswidrig, sondern muss dem Rechtsuchenden gegenüber willkürlich erscheinen.

Darüber hinaus sind auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 58 SGB VI für die Anerkennung der streitigen Zeit als Anrechnungszeit nicht erfüllt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und der herrschenden Auffassung in der Literatur (vgl. z.B. BSGE 65, 243; Niesel in: Kasseler Kommentar § 58 Rdnr. 47 m.w.N.) kann eine Schulausbildung nur dann als Anrechnungszeit anerkannt werden, wenn sie den Versicherten im Verhältnis zu einer fiktiv oder tatsächlich gleichzeitig ausgeübten versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit überwiegend in Anspruch genommen hat. Diese Voraussetzung ist selbst unter Berücksichtigung der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren ermittelten (unzutreffenden) Fakten nicht erfüllt, denn die Abendschulausbildung des Klägers, die er in der Zeit vom 01.04.55 bis zum 27.02.58 absolviert hat, erstreckte sich nach den Feststellungen der Beklagten lediglich auf einen Zeitraum von 33 Stunden wöchentlich. Demgegenüber war der Kläger zeitgleich wöchentlich 45 Stunden als Dreher tätig, so dass er von seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung und nicht von der Ausbildung überwiegend in Anspruch genommen worden ist.

Selbst wenn entsprechend der auch insoweit formalen Betrachtung der Beklagten die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur überwiegenden Inanspruchnahme des Versicherten durch eine Ausbildung heranzieht, die - soweit ersichtlich - allerdings nur die Fälle erfasst, in denen Versicherte neben der Schulausbildung keine Erwerbstätigkeit ausgeübt haben, sind die Voraussetzungen für die Anerkennung der Schulausbildung des Klägers als Anrechnungszeit nicht erfüllt.

Das Bundessozialgericht macht die ausschließliche oder zumindest überwiegende Inanspruchnahme des Leistungsberechtigten durch die Schulausbildung davon abhängig, dass die Ausbildung wegen der damit verbundenen zeitlichen Inanspruchnahme eine Erwerbstätigkeit ausschließt. Der Gesetzgeber gehe davon aus, dass Kinder nach Vollendung des 16. Lebensjahres in der Regel berufstätig seien und sich selbst unterhalten können. Deshalb habe er den Anspruch auf Sozialleistungen über die Vollendung des 16. Lebensjahres hinaus nur verlängert, sofern das Kind durch die Schul- oder Berufsausbildung gehindert werde, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

In diesem Zusammenhang vertrat das Bundessozialgericht bis zum Jahre 1989 die Rechtsauffassung, dass eine Ausbildung nur vorliege, wenn der Schüler mehr als 40 Stunden wöchentlich durch sie in Anspruch genommen werde. Dabei haben die für Angelegenheiten der Arbeiterrenten- und Angestelltenversicherung zuständigen Senate die Obergrenze für die wöchentliche Gesamtbelastung auf 60 Stunden festgelegt. Dem Schüler sei jedenfalls dann, wenn er nur bis zu 40 Stunden durch die Ausbildung in Anspruch genommen werde, noch eine Halbtagsbeschäftigung von 20 Stunden in der Woche zuzumuten (vgl. z.B. BSGE 39, 156 ff.; 43, 44 ff.; ebenso Urteile vom 09.06.86 - 4/11 a RA 68/87 und vom 03.02.88 - 5/5 b RJ 50/87 -). Mit seinem zum Kindergeldrecht ergangenen Urteil vom 23.08.89 - 10 RKg 5/86 - = SozR 5870 § 2 BKGG Nr. 64) hat der 10. Senat des Bundessozialgerichts die Belastungsobergrenze eines Auszubildenden entsprechend dem Schutzgedanken der Arbeitszeitordnung in ihrer Fassung vom 10.03.75 (BGBl. I 685) auf 48 Stunden festgesetzt. Das Arbeitsschutzrecht gehe in der Regel von einer Belastbarkeitsgrenze von 48 Stunden aus, so dass eine Anrechnungszeit wegen überwiegender Inanspruchnahme durch eine Schulausbildung bereits Anerkennung finden müsse, wenn diese den Auszubildenden neben einer - fiktiv angenommenen - Halbtagsbeschäftigung in einem Umfang von 20 Stunden 28 Stunden wöchentlich in Anspruch nehme.

Die erkennende Kammer neigt der Rechtsansicht zu, dass bei der Bestimmung der Belastungsobergrenze auf die im Zeitpunkt der Ausbildung geltenden Arbeitsschutzgesetze und die daran orientierte zumutbare Belastung durch Ausbildung und Beschäftigung abzustellen ist. Es kann nämlich nicht zum Nachteil des Versicherten gereichen, dass der wöchentlich zumutbare Arbeitseinsatz zu seinen Lasten an Vorschriften gemessen wird, die im Zeitpunkt der streitigen Ausbildung noch nicht in Kraft waren. Da die von dem Bundessozialgericht entwickelte Belastungsobergrenze von 48 Stunden aus den Bestimmungen der Arbeitszeitordnung in ihrer Fassung von 10.03.75 abgeleitet worden ist, dürfte für den Kläger die zuvor geltende Höchstbelastungsgrenze von 60 Stunden wöchentlich maßgeblich sein. Danach ist von einer zumindest überwiegenden Inanspruchnahme durch eine Ausbildung auszugehen, wenn diese den Leistungsberechtigten neben einer unterstellten Halbtagstätigkeit mehr als 40 Stunden wöchentlich in Anspruch genommen hat. Auch dies war bei dem Kläger zweifelsohne nicht der Fall, denn er benötigte bereits nach den Feststellungen der Beklagten im Verwaltungsverfahren für den Schulunterricht einschließlich der erforderlichen Vor- und Nachbereitung sowie für die Zurücklegung des Weges zur Schule und zurück insgesamt lediglich 33 Stunden wöchentlich. Im Ergebnis konnte es jedoch dahingestellt bleiben, ob bei dem Kläger auf eine Belastungsobergrenze von 60 Stunden oder - entsprechend der Rechtsauffassung der Beklagten - in Übereinstimmung mit der oben zitierten (neueren) Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, die nachfolgend auch von den für Angelegenheiten der Rentenversicherung zuständigen Senate übernommen wurde (vgl. Niesel a.a.O. mit den entsprechenden Hinweisen auf die Rechtsprechung), auf eine Belastungsobergrenze von 48 Stunden abzustellen ist. Selbst wenn man in Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung fordert, dass eine Anrechnungszeit wegen Schulausbildung nur in Betracht kommt, wenn sie den Auszubildenden mehr als 28 Stunden pro Woche in Anspruch genommen hat, liegen die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI nicht vor. Der Besuch der Technischen Abendschule der Gesellschaft zur Förderung der staatlichen Ingenieurschule in Dortmund in der Zeit vom 01.04.55 bis zum 27.02.58 hat den Kläger einschließlich der zu berücksichtigenden Wegezeiten und der notwendigen Vor- und Nacharbeiten (vgl. BSGE 65, 243 ff.) nicht mehr als 28 Stunden in der Woche beansprucht. Nachdem der Kläger in Erwartung der rentensteigernden Auswirkung der Schulausbildung als Anrechnungszeit im Verwaltungsverfahren zunächst nur grobe Angaben zur Dauer der Anwesenheit in der Ausbildungsstätte, der erforderlichen häuslichen Vor- und Nachbereitung sowie des zeitlichen Aufwandes für den Schulweg gemacht hat, hat er seine Angaben im Prozess schriftsätzlich sowie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und nachvollziehbar präzisiert. Auch die Beklagte hat weder die Glaubwürdigkeit des Klägers angezweifelt noch sein Vorbringen ansonsten in Frage gestellt. Danach wurde der jährlich zweisemestrige Unterricht durch etwa zwei Monate andauernde Semesterferien unterbrochen. Außerdem nahm der wöchentliche Unterricht nicht - wie von der Beklagten angenommen - zwölf Zeitstunden, sondern lediglich zwölf Schulstunden à 45 Minuten in Anspruch. Schließlich ist auch der zeitliche Aufwand für den Schulweg von der Beklagten zu hoch angesetzt worden. Er betrug lediglich während der Wintermonate, in denen der Kläger für den Weg zur Schule und zurück die Bundesbahn benutzt hat, etwa neun Stunden wöchentlich. Während der Sommermonate, in denen er mit seinem Motorrad von Herne nach Dortmund gefahren ist, reduzierte sich der wöchentliche Zeitaufwand für den Schulweg auf 4 1/2 Stunden. Unter Berücksichtigung dieses Gesamtzeitaufwandes für den jährlichen Schulbesuch errechnet sich eine zeitliche Inanspruchnahme des Klägers in der Woche von deutlich weniger als 28 Stunden: Abzüglich der zweimonatigen Semesterferien ist zunächst von einem Schulbesuch von 10 Monaten bzw. 43 Wochen im Jahr auszugehen (52 Wochen: 12 Monate x 10 = 43,33 Wochen). Legt man der Berechnung der wöchentlichen Inanspruchnahme durch den Schulbesuch entsprechend den Angaben des Klägers weiterhin zugrunde, dass der zeitliche Aufwand für den Schulweg während dieser Zeit durchschnittlich 6 1/4 Stunden pro Woche, die Dauer der Vor- und Nachbereitung 12 Zeitstunden und der wöchentliche Aufenthalt in der Ausbildungsstätte 9 Zeitstunden betrug, so errechnet sich eine zeitliche Belastung in der Woche von 27 1/4 Stunden. Unter Berücksichtigung der zweimonatigen Semesterferien ergibt sich damit auf das Jahr bezogen eine Inanspruchnahme des Klägers durch seine damalige Ausbildung von 22,5 Stunden pro Woche (27 1/4 Stunden x 43 Wochen = 1172 Stunden: 52 Wochen = 22,5 Stunden). Dies schließt eine überwiegende Beanspruchung des Klägers durch den Schulbesuch aus.

Die Entscheidung über die Tragung der außergerichtlichen Kosten des Klägers durch die Beklagte beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -.

Darüber hinaus hat sich die erkennende Kammer veranlasst gesehen, der Beklagten Gerichtskosten in Höhe von 1.000,00 DM nach § 192 SGG aufzuerlegen. Nach dieser gesetzlichen Bestimmung kann das Gericht einem Verfahrensbeteiligten Kosten auferlegen, die dieser oder dessen Vertreter durch Mutwillen verursacht hat. Die Auferlegung von Mutwillenskosten setzt voraus, dass der Beteiligte oder sein Vertreter die Aussichtslosigkeit einer weiteren Prozessführung erkennt und das Verfahren entgegen besserer Einsicht mutwillig fortsetzt, statt von einer weiteren Rechtsverfolgung Abstand zu nehmen und den Rechtsstreit entsprechend der offenkundigen Sach- und Rechtslage durch eine prozessbeendende Erklärung zum Abschluss zu bringen (vgl. BSG, Urteil vom 19.06.91 in: Breithaupt, 61, 1154; BSG, Beschluss vom 19.06.91 in: SozR § 192 SGG Nr. 4; BSG Urteil vom 20.10.97 in: SGB 68, 72 f., vgl. ebenso BSG Urteil vom 24.03.76 - 9 RV 92/74; Urteil des Landessozialgerichts NW vom 29.09.95 - L 4 An 43/94 -; Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, § 192 Rdnr. 3 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

Die erkennende Kammer, die sich seit Übernahme des Vorsitzes durch den Unterzeichner im Jahre 1990 erstmals veranlasst gesehen hat, Mutwillenskosten zu verhängen, hat bei ihrer Entscheidung insbesondere der Tatsache maßgebliches Gewicht beigemessen, dass nach dem Ergebnis der gerichtlichen Ermittlungen die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung der Schulausbildung des Klägers vom 01.04.55 bis 27.02.58 als Anrechnungszeit selbst nach der von der Beklagten vertretenen - hier fraglichen - Rechtsauffassung nicht vorliegen. Bereits dies lässt ihre Forderung nach einer streitigen Entscheidung durch Urteil rechtsmissbräuchlich erscheinen, zumal die Beklagte nicht geltend gemacht hat, die Angaben des Klägers, die jedenfalls in ihrer zunächst undifferenzierten Form auch Grundlage ihrer Verwaltungsentscheidung waren, seien nicht glaubhaft.

Im übrigen kann es nicht hingenommen werden, dass die Beklagte im Einzelfall des Klägers im Ergebnis willkürlich von ihrer ansonsten zutreffenden Verwaltungspraxis abweicht, Anrechnungszeiten nach § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI selbst bei einer überwiegenden Inanspruchnahme durch die Ausbildung unberücksichtigt zu lassen, wenn die Kollision zwischen Anrechnungs- und Beitragszeiten im Einzelfall zu einer Rentenminderung führt. Auf ihre ansonsten rechtmäßige Verwaltungspraxis ist die Beklagte im Zuge der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung unter beispielhafter Bezugnahme auf die in den Entscheidungsgründen genannten Streitsachen hingewiesen worden. Wenn sie sich gleichwohl nicht veranlasst gesehen hat, entsprechend ihrer sonstigen Übung im Prozess ein Anerkenntnis abzugeben, hat sie damit das Verfahren unter Missachtung der Sach- und Rechtslage mutwillig fortgesetzt.

Bei seiner Kostenentscheidung hat das Gericht auch berücksichtigt, dass die Prozessführung der Beklagten im Falle des Klägers exemplarisch die in der jüngeren Vergangenheit zunehmende Tendenz der Bundesversicherungsanstalt verdeutlicht, in den Verhandlungen der entsprechenden Fachkammern des hiesigen Sozialgerichts zuweilen bis an die Grenze der Sachwidrigkeit und in Verkennung ihrer Bindung an Recht und Gesetz eine streitige Entscheidung durch Urteil zu fordern, obwohl der Anspruch des Rechtsuchenden offenkundig begründet ist und sich aufgrund der überzeugenden Ermittlungsergebnisse des Gerichts eine zumindest vergleichsweise Erledigung des Rechtsstreits aufdrängt.
Rechtskraft
Aus
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