L 6 B 466/07 R-KO

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 12 RJ 538/04
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 B 466/07 R-KO
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Mittelgebühr nach Nr. 3106 VV RVG bildet - von extremen Ausnahmefällen abgesehen - die Obergrenze bei Verfahren, die ohne jegliche mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid enden.
Wird auf die Ankündigung des Gerichts, durch Gerichtsbescheid entscheiden zu wollen, überhaupt nicht reagiert, so kommt die Mindestgebühr nach Nr. 3106 VV RVG in Betracht.
I. Auf die Beschwerde der Rechtsanwältin wird der Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 22.08.2007 aufgehoben.
II. Die der Beschwerdeführerin zustehende Vergütung wird auf 658,55 EUR festgesetzt.
III. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Mit der Beschwerde wendet sich die Klägervertreterin gegen die Kürzung der im Rahmen der Prozesskostenhilfe aus der Staatskasse zu erstattenden Gebühren.

Im Ausgangsverfahren – einem Verfahren, in welchem der Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung streitig war – wurde die Beschwerdeführerin, nachdem die Klägerin selbst am 20.10.2004 Klage erhoben hatte, am 02.11.2005 mandatiert. Sie nahm dar-aufhin Akteneinsicht (bis zu diesem Zeitpunkt bestand die SG-Akte aus 106 Seiten) und beantragte am 29.11.2005 Prozesskostenhilfe. Mit Beschluss vom 25.01.2006 wurde antragsgemäß Prozesskostenhilfe "ab 30.11.2005" bewilligt.

Im Laufe des weiteren Verfahrens wurden ein nervenärztliches Gutachten (vom 03.02.2006 mit ergänzender Stellungnahme vom 16.03.2006) und ein orthopädisches Gutachten (vom 25.10.2006) eingeholt.

Das Sozialgericht hörte daraufhin die Beteiligten – die Akte war mittlerweile auf 225 Seiten angewachsen – zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid an und teilte mit, dass mit Klageabweisung zu rechnen sei.

Die Beschwerdeführerin widersprach mit 4seitigem Schriftsatz, dem ein Befundbericht beigeheftet war. Hierauf sah sich das Gericht veranlasst, bei dem orthopädischen Gutachter eine weitere gutachtliche Stellungnahme einzuholen. Die Beschwerdeführerin äußerte sich daraufhin noch einmal mit Schriftsatz vom 22.01.2007, dem eine durch sie veranlasste gutachtliche Stellungnahme eines anderen Orthopäden beilag. Mit Gerichtsbescheid vom 12.02.2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.

Am 21.02.2007 bezifferte die Beschwerdeführerin ihre Vergütungsforderung wie folgt:

Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3102 VV-RVG 460,00 EUR Terminsgebühr gemäß Nr. 3106 VV-RVG 380,00 EUR Entgelte für Post und Telekommunikationsdienstleistungen gemäß Nr. 7002 VV-RVG 20,00 EUR Dokumentenpauschale 106 Seiten, gemäß Nr. 7000, 1a VV-RVG 33,40 EUR Zwischensumme 893,40 EUR Umsatzsteuer gemäß Nr. 7008 VV-RVG 169,75 EUR Summe 1.063,15 EUR.

Mit Beschluss vom 12.04.2007 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die Vergütung wie folgt fest:

Verfahrensgebühr (Nr. 3102 VV) 300,00 EUR Terminsgebühr (Nr. 3106 VV) 100,00 EUR Auslagenpauschale (Nr. 7002 VV) 20,00 EUR Zwischensumme 420,00 EUR 19 % Mehrwertsteuer gemäß Nr. 7008 VV 79,80 EUR Gesamtsumme 499,80 EUR.

Was die Verfahrensgebühr anbelange, sei die Höchstgebühr nicht verdient worden, da nicht ein entsprechend außergewöhnlicher Fall vorgelegen habe. Für den vorliegenden Fall erscheine eine um 25 % über der Mittelgebühr liegende Vergütung gerechtfertigt. Obwohl kein Verhandlungstermin stattgefunden habe, sei auch die Terminsgebühr verdient worden, in diesem Fall, der durch Gerichtsbescheid entschieden wurde, sei allerdings nur eine halbe Mittelgebühr verdient worden. Die Kopiekosten seien nicht erstattungsfähig, denn diese seien vor der PKH-Bewilligung entstanden.

Die dagegen eingelegte Erinnerung hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 22. August 2007 unter Bezugnahme auf die Begründung des Vergütungsfestsetzungsbeschlusses zurückgewiesen. Der Beschluss ist mit folgender Rechtsmittelbelehrung versehen:

Gegen diesen Beschluss ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 SGG i. V. m. § 56 Abs. 2, § 33 Abs. 3 RVG Beschwerde zum Sächsischen Landessozialgericht statthaft. Die Beschwerde ist binnen eines Monats nach Zustellung des Beschlusses beim Sozialgericht Leipzig, Berliner Straße 11, 04105 Leipzig, schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist beim Sächsischen Landessozialgericht, Parkstraße 28, 09120 Chemnitz, schriftlich oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird.

Bei dieser Rechtsmittelbelehrung handelt es sich offensichtlich um einen automatisch verwendeten gespeicherten Text.

Der Beschluss vom 22.08.2007 wurde der Beschwerdeführerin am 29.08.2007 zugestellt. Die Beschwerde ging am 26.09.2007 beim Sozialgericht Leipzig ein. Das Sozialgericht Leipzig hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist zum Teil begründet.

Die Beschwerde ging innerhalb der vom Sozialgericht genannten Monatsfrist ein. Allerdings nennt § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG, auf den die Rechtsmittelbelehrung ja ausdrücklich verweist, gerade keine Monatsfrist, sondern eine 2-Wochen-Frist. Diese 2-Wochen-Frist wird auch nicht etwa durch die allgemeinen Vorschriften der §§ 172, 173 SGG "verdrängt". Entscheidet das Sozialgericht nämlich auf Erinnerung gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten, so ist vom SGG gerade nicht die allgemeine Beschwerdemöglichkeit der §§ 172, 173 SGG vorgesehen, vielmehr ist sie ausgeschlossen (§ 178 SGG). Ohne die spezialgesetzliche Regelung des § 56 Abs. 2 i. V. m. § 33 Abs. 3 RVG fände also überhaupt keine Beschwerde statt. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen richten sich daher alleine nach dem RVG.

Die Beschwerde wurde also nicht rechtzeitig eingelegt, der Beschwerdeführerin ist allerdings wegen schuldloser Versäumung der Beschwerdefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen sind gegeben, bei einer Forderung von 1.063,15 EUR und einer festgesetzten Vergütung von 499,80 EUR ist auch der Mindestbeschwer-dewert von 200,00 EUR erreicht.

Die Beschwerde ist nur teilweise begründet.

Allgemein gilt, dass der objektiv erforderliche Aufwand Maßstab der Vergütungsfestsetzung sein muss. Die Institution Prozesskostenhilfe wird von den Grundsätzen der Chancengleichheit vor Gericht wie auch dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz – bezogen auf die PKH-Antragsteller – determiniert. "Gerecht" ist daher eine Vergütungsfestsetzung, die diesen Prinzipien weitestgehend Rechnung trägt. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, die Art der Prozessführung der beigeordneten Anwälte im Sinne einer Notengebung zu "bewerten"; vielmehr hat das Gericht anhand der objektiven Gegebenheiten des Rechtsstreits abzuschätzen, welcher Aufwand inetwa typischerweise erforderlich ist. Wie der Begriff "typischerweise" schon deutlich macht, ist in diesem Zusammenhang eine Typenbildung unerlässlich. Bei dem zugrunde liegenden Rechtsstreit S 12 RJ 538/04 handelte es sich um ein Rentenverfahren ohne Kausalitätsproblematik und mit medizinischer Beweisaufnahme. Auszugehen ist von der Mittelgebühr. Da Leistungen für mehr als ein Jahr im Streit waren, ist eine Anhebung der Mittelgebühr um 20 % gerechtfertigt. Der glaubhaft gemachte außerordentliche Zeitaufwand mag mit einer weiteren Anhebung um weitere 5 % berücksichtigt werden. Grundsätzlich ist jedenfalls vom RVG eine Abrechnung nach Stundensätzen – wie beispielsweise beim medizinischen Gutachter nach dem JVEG – nicht vorgesehen. Es wird nicht verkannt, dass die Klägerin der Beschwerdeführerin außerordentlich viel Mühe bereitet hat; es versteht sich aber, dass alle zusätzliche Mühewaltung, welche die Beschwerdeführerin abzulehnen berechtigt gewesen wäre, ohne ihre Pflichten als nach den gesetzlichen Gebühren abrechnende Anwältin zu verletzen, nicht im Rahmen der PKH vergütet werden kann. Bezüglich der Verfahrensgebühr folgt das Gericht also im Ergebnis der Vorinstanz.

Dies gilt nicht für die Terminsgebühr. Der Gesetzgeber hat – etwas systemwidrig – eine Terminsgebühr auch für Fälle vorgesehen, in welchen keine mündliche Verhandlung stattfindet, so auch und sogar für den Fall der Entscheidung durch Gerichtsbescheid. Es gilt diese gesetzgeberische Entscheidung zu akzeptieren und sinnvoll auszufüllen. Da für den Erlass eines Gerichtsbescheides eine Zu-stimmung nicht erforderlich ist, ist auch der Fall denkbar, dass der Anwalt auf die entsprechende Ankündigung des Gerichts überhaupt nicht reagiert. Für diese Fälle dürfte die Mindestgebühr von 20,00 EUR in Betracht kommen. In den übrigen Fällen ist danach zu fragen, wie umfangreich sich ein etwaiges Surrogat einer mündlichen Verhandlung ("schriftliche Verhandlung") gestaltet hat. Wird die Anhörung zum Gerichtsbescheid noch einmal zum Anlass genommen, kurz den eigenen Standpunkt darzulegen, so dürfte lediglich die halbe Mittelgebühr verdient worden sein. Hierdurch wird berücksichtigt, dass der mit einem Termin zur mündlichen Verhandlung sonst immer gegebene Aufwand – auch wenn sich die Verhandlung dann lediglich auf das Stellen der Anträge beschränkt – wegfällt. Ein solcher Fall war hier jedoch nicht gegeben. Geradezu exemplarisch hat sich dargestellt, dass auch bei dem Verfahren nach § 105 SGG durchaus streitig verhandelt werden kann, hier sogar mit dem Ergebnis einer "Vertagung"; das schriftsätzliche Vorbringen der Beschwerdeführerin führte zu einem Wiedereintritt in die Beweisaufnahme. Es ist daher von der Mittelgebühr auszugehen.

Die Mittelgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG dürfte die Obergrenze sein bei Verfahren, die ohne jegliche mündliche Verhandlung mit Gerichtsbescheid enden. Die Höchstgebühr nach Nr. 3106 gilt für Fälle mit mehreren lang dauernden Terminen zur mündlichen Verhandlung, zu denen jeweils angereist werden muss und bei sonstigen außergewöhnlichen Umständen. Die Höchstgebühr konnte die Beschwerdeführerin also keinesfalls verlangen.

Die Beschwerdeführerin hat auch Anspruch auf Ersatz der Fotokopiekosten. Was den Umfang angeht, so war es selbstverständlich sachgerecht, die gesamte bis dahin vorliegende Sozialgerichtsakte zu kopieren, es war ihr nicht zuzumuten, dies nicht dem Kanzleipersonal zu überlassen, sondern eigenhändig vorzunehmen und bei jedem Blatt Überlegungen anzustellen, ob dessen Ablichtung wirklich erforderlich ist bzw. erforderlich werden könnte. Das die Akten bereits vor PKH-Bewilligung kopiert wurden, ist unschädlich. Die Recht-sprechung, die in diesem Zusammenhang Bedenken äußert, bezieht sich auf den Pflichtverteidiger in Strafsachen (OLG Stuttgart, Justiz 1989, 205; OLG Koblenz, Rechtspfleger 1981, 246). Es versteht sich von selbst, dass die Fotokopiekosten von dem gesamten Mandat nicht zu trennen sind. Die Beschwerdeführerin hat nicht zunächst einmal "auf eigene Rechnung" bzw. – nach entsprechendem Hinweis – auf Rechnung ihrer Mandantin Vorermittlungen angestellt, die dann gesondert (in diesem Fall sogar noch mit dem alten Mehrwertsteuer-satz von 16 %) abzurechnen gewesen wären. Eine solche Aufspaltung in zwei getrennte Angelegenheiten wäre völlig sinnwidrig. Die Forderung gemäß Nr. 7000, 1a VV-RVG wurde zusammen mit den anderen Posten gleichzeitig nach Beendigung des Mandats (§ 8 RVG) fällig. Ein gesonderter Auftrag, Fotokopien zu erstellen (der im Übrigen keineswegs lediglich mit den Gebühren nach Nr. 7000, 1a VV-RVG abgegolten wäre), ist ihr nie erteilt worden.

Die gesetzlichen Gebühren berechnen sich daher wie folgt:

Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 (Mittelgebühr + 25 %) 300,00 EUR Terminsgebühr nach Nr. 3106 (Mittelgebühr) 200,00 EUR Pauschale nach Nr. 7002 20,00 EUR Dokumentenpauschale nach Nr. 7000, 1a 33,40 EUR

Zwischensumme 553,40 EUR Mehrwertsteuer nach Nr. 7008, 19 % 105,15 EUR Gesamtsumme 658,55 EUR.

Dieser Beschluss ergeht gemäß § 56 Abs. 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 RVG durch den Einzelrichter des zuständigen Kostensenats, da zu den einschlägigen Rechtsfragen bereits Senatsrechtsprechung vorliegt. Die Voraussetzungen der Übertragung auf den Senat nach § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG liegen nicht vor.

Das Verfahren ist gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Satz 2, Satz 3 RVG). Dieser Beschluss ist nicht weiter anfechtbar, § 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG.
Rechtskraft
Aus
Saved